Phyllis Tickle benutzt ein nettes Diagramm, um zu beschreiben, wie der Beginn der nachprotestantischen (im Unterschied zu anderen Kommentatoren spricht sie nicht von einer nachchristlichen) Ära sich momentan gestaltet. Ich übernehme hier der Einfachheit halber ihre Bezeichnungen für die nordamerikanische Situation. Wie man das hier in Europa beschreiben müsste, kann erst einmal noch offen bleiben.
Tickle teilt die spätmoderne Christenheit in vier Grundprägungen auf: Conservatives (Evangelikale, Bekenntnis- und „Bibeltreue“), Social Justice Christians (das sind dann in der Regel die Mainline-Churches und der theologisch eher „liberale“ Flügel), Renewalists (Pfingstkirchen und Charismatische Bewegung) und Liturgicals (da gehören die orthodoxen Kirchen hinein und ein guter Teil der Kontemplativen). Ich habe das hier bunt umgesetzt:
Nun haben sich im Jahrhundert der Ökumene längst die Grenzen zwischen diesen Blöcken aufgeweicht. Es gibt Linksevangelikale, kontemplative Aktivisten, liturgische Charismatiker und viele andere Mischformen – wir kennen das alle. Die Schnittmengen bilden eine Art Kreuz:
Aber auch hier bleibt die Bewegung nicht stehen. In der Mitte entsteht ein Strudel, in dem sich alle vier Felder mischen. Und anders als im Abfluss der Badewanne steigt dieser Strudel nach oben. All diese Einflüsse sind nötig, um auf ein anderes Niveau zu gelangen und den Herausforderungen der veränderten gesellschaftlichen und religiösen Situation zu begegnen. Der Protestantismus, dessen Charakteristikum die Zersplitterung war, hat zum ersten Mal ein Zentrum – da wo sich früher die Ecken berührten und die Grenzlinien schnitten. die herkömmlichen Strukturen boten dafür keinen Raum. Plötzlich entstanden diffuse Gebilde wie Hauskirchen, nondenominational churches, Gemeindegründungen an ungewohnten Orten, und neue monastische Kommunitäten. Das verbindende Element war der Gedanke und die Praxis der Inkarnation und die Betonung der Ganzheitlichkeit des Glaubens.
Während sich die Emergents (ob sie sich nun selbst so bezeichnen würden oder nicht, das „Etikett“ spielt hier gar keine Rolle und tatsächlich entdecken viele ja zu ihrer Überraschung, dass sie nicht mehr vereinzelte Grenzgänger im eigenen „Lager“ sind, sondern Teil eines größeren Bildes) nun in diesem Aufwärtsstrudel befinden, beginnt in den vier Ecken des Feldes ein Prozess der Abschottung. Auch der lässt sich bereits gut beobachten. Da die alten Grenzen nicht mehr halten, werden sie von denjenigen neu gezogen, denen der Dammbruch ein Dorn im Auge ist. Diese Puristen sind in ihrer Reaktion (und das muss man hören, wenn man Tickle nicht missverstehen will als jemand, der das Neue verklärt) der notwendige Ballast – ein Gegengewicht das dem Aufwärtssog in der Mitte die richtige Balance verleiht.
Schließlich bilden sich um den Strudel in der Mitte je nach dem Grad der Nähe und Distanz, Offenheit oder Reserviertheit, noch eine Reihe unterschiedlicher Gruppen:
- Die „Hyphenateds“ (Bindestrich-Definitionen wie Presbymergent, Luthermergent oder Anglimergent), die vielleicht bunteste und verrückteste Mischung, die dem Zentrum sehr nahe stehen – ihre Vorfahren ehren ohne sich deswegen an deren Weg gebunden zu fühlen.
- Die „Progressives“, die gegen den Dogmatismus und institutionelle Erstarrung an einer Öffnung für die Menschen und Herausforderungen der Postmoderne arbeiten
- Re-Traditioning: Alte Traditionen und die damit verbundene Identität werden behutsam entdeckt und erneuert
- Traditionalists: hier warten einige ab, wie das Ganze weitergeht, ohne sich selbst groß zu bewegen, aber sie geben dem Umbruch Stabilität
Das sieht dann so aus:
Danke für den Artikel, ich fand ihn sehr gut und informativ!
Was ich mich nur frage: Ist es nicht ein bisschen „geschönt“ wenn man sagt, dass die Abschottungen denn Prozess stabilisieren?
Was bei mir da ein bisschen rausklingt ist, dass jeder seine Position mit Recht hat und dem Gesamtprozess damit guttut. Mag sein, dass viele gute Gründe dafür haben, wo sie eben stehen. Aber viele auch nicht.
Eine Beobachtung die ich immer wieder mache ist, dass z.B. der Liberalismus den Fundamentalismus nährt und umgekehrt. Die (Ab-) Grenzungen die dort gebaut werden bringen keinen gesunden Ausgleich, sondern sie verhärten die Fronten und bringen beide Parteien in ein ungesundes Extrem. Gutes Beispiel dafür wäre die Reformation?
Das ist mir einfach an der Stelle etwas schön-geredet. Ich denke, dass diesem Prozess hier auf jeden Fall auch einiges im Weg steht. Die Frage ist, wie gehen wir damit um?
Liebe Grüße,
Simon
Ich glaube, Tickle will nicht die problematischen Seiten der Fundamentalismen schönreden. Aber sie geht von einer Spannung aus, die gesund ist (auch dann, wenn sich manches hochschaukelt) und denkt, dass in den abgeschotteten Biotopen Dinge überleben, die später einmal wieder wichtig werden.
Aber Verhärtungen und Verurteilungen unter denen wir hier gelegentlich leiden (und die Amis noch mehr…) will sie nicht entschuldigen – nur ist das Thema „versöhntes Miteinander“ nicht Thema des Buches, sondern eben die emergente Dynamik.
seehr interessant
muss ich bedenken
grüße
martin