An Gottes Käfig rütteln

In wenigen Tagen, an Christi Himmelfahrt, liegt Ostern vierzig Tage zurück. Vierzig Tage, das ist ein transformativer Zeitraum: In vierzig Tagen oder mehr kann es gelingen, alte Gewohnheiten abzulegen und neue einzuüben. Während der Fastenzeit – also der vierzig Tage vor Ostern – tun das viele, indem sie etwas weglassen und auf etwas verzichten. So werden sie offen für das Neue, das mit dem Auferstandenen in die Welt gekommen ist. Es ist ein bisschen so, wie wenn ich im Garten den Boden lockere und Platz schaffe für einen jungen Baum oder eine neue Blume. Doch wenn die dann gepflanzt ist, sind neue Gewohnheiten gefragt: Ich gieße sie, gebe etwas Dünger dazu, und wenn eine kalte Nacht droht, decke ich sie vorsorglich zu. 

Neues Leben, neue Gewohnheiten

Ich denke an einen Kollegen, der gerade zum zweiten Mal Vater wurde und jetzt ein paar Monate in Elternzeit verbringt. Die ganze Familie nimmt sich Zeit, um die Ankunft des Neugeborenen bewusst zu feiern. Und um in Ruhe zu lernen, wie das Leben zu viert jetzt funktioniert. Denn das Neue verändert alles: Die Rollen in der Familie, die Rhythmen des Alltags, das Haushalten mit den inneren Ressourcen.

Was für eine schöne Möglichkeit: Zeit zu haben, in der das neue Leben sich einwurzeln und einruckeln kann. Auf das geistliche Leben umgemünzt wäre dann die Frage: Wie kann die Anwesenheit Jesu meinen Alltag prägen? Wie wirkt sie sich aus auf meine Rollen in Beruf, Familie, Gesellschaft? Wie finde ich einen neuen Rhythmus, der dazu passt, und wie kann mir der in Fleisch und Blut übergehen? 

Brauche ich solche spirituellen Flitterwochen auch – nicht nur einmal im Leben, sondern regelmäßig? Die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten tragen wohl auch deshalb klangvolle Namen: Sie rufen mich auf zum Jubeln, Singen, Beten, Ostern ausgiebig nachklingen lassen.  Der kommende Sonntag heißt: Rogate, Betet. 

Nach seiner Auferweckung von den Toten ist Jesus über vierzig Tage hinweg seinen Jünger:innen immer wieder erschienen. Die haben das damals richtig ausgekostet. Wir wissen nicht viel darüber, was Jesus mit seinen Leuten in dieser entscheidenden Zeit geredet hat. Wahrscheinlich musste auch erst einmal alles sacken: Der Schock über die Verhaftung und Kreuzigung Jesu; die Enttäuschung darüber, dass sie ihn im Stich gelassen hatten; die anfängliche Verwirrung über das leere Grab und dann die wundersamen Begegnungen, die bei aller Freude immer auch die Frage aufwarfen: Wie soll es jetzt weiter gehen?

Dass es weitergeht, lag auf der Hand: Die Auferweckung ist das große Ausrufezeichen hinter dem Leben und Wirken Jesu. Die Bekräftigung, dass Gott Wort hält. Dass seine Zusage gilt und er die Welt nicht den Kräften überlässt, die sie zugrunde richten. Dass Hass, Tod und Zerstörung nicht das letzte Wort haben – nicht im Leben der einzelnen Menschen, nicht in der Weltgeschichte insgesamt.

Krisen kommen ganz bestimmt

Die zurückliegenden Tage, vor allem der Karfreitag, hatten noch etwas gezeigt: Der Weg zu diesem Ziel führt durch tiefe, dunkle Täler. Ich stelle mir vor, das ist wie bei einer Bergwanderung, wo der gegenüberliegende Gipfel mich schon in strahlendem Sonnenschein anlacht. Doch um ihn zu erreichen, muss ich einen steilen, beschwerlichen Abstieg und einen weiteren kräftezehrenden Aufstieg hinlegen. Und wer weiß, ob das schöne Wetter so lange hält oder ob zwischenzeitlich ein Gewitter aufzieht? Wie bereite ich mich darauf vor, dass mein Glaube herausgefordert wird? Oder anders gefragt: Was ist nötig, damit das zarte Pflänzchen der Jesus-Bewegung nicht erfriert, wenn kurz nach Ostern die Eisheiligen kommen?

Gegen Ende der Zeit, die Jesus bei seinen Jünger:innen verbringt, erwähnt er immer wieder das Beten. Bestimmt erinnert er sie an so manches, was er früher schon einmal gesagt hatte. Darunter die folgende Geschichte (Lukas 11,5-8 / Basisbibel): 

Stellt euch vor: Einer von euch hat einen Freund. Mitten in der Nacht geht er zu ihm und sagt: ›Mein Freund, leih mir doch drei Brote! Ein Freund hat auf seiner Reise bei mir haltgemacht. Ich habe nichts im Haus, was ich ihm anbieten kann.‹
Aber von drinnen kommt die Antwort: ›Lass mich in Ruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder liegen bei mir im Bett. Ich kann jetzt nicht aufstehen und dir etwas geben.‹
Das sage ich euch: Schließlich wird er doch aufstehen und ihm geben, was er braucht – wenn schon nicht aus Freundschaft, dann doch wegen seiner Unverschämtheit.

Unpassende Analogien

Ein Gespräch unter Freunden. Jesus weiß, dass viel davon abhängt, in welchen Zusammenhang er das Gebet einzeichnet. Er weiß: Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen ich ans Beten herangehe, mache ich mir es leichter oder schwerer. Wenn ich mir Gott vorstelle wie eine gute Fee, bei der ich drei Wünsche frei habe, dann ist die Enttäuschung programmiert. So wie in den vielen Witzen über gute Feen, in der beim dritten Wunsch meistens irgendetwas Dummes passiert, das der Bittsteller nicht bedacht hatte. Beim Beten sind nicht die unüberlegten Bitten hinderlich, sondern die Vorstellung, dass Gott vor allem dazu da ist, Wünsche aller Art zu erfüllen. Gott funktioniert wie ein Automat: Ich spreche etwas aus und – schwupps – ist der Wunsch erfüllt. „Lieber Gott, ich weiß, ich müsste nicht unbedingt mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Aber vielleicht regnet es heute ja noch. Würdest Du mir bitte einen Parkplatz direkt vor dem Laden freihalten?“

Ich kann freilich auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen: Ich stelle mir Gott als erhabenen Regenten vor, der Gesuche seiner Untertanen entgegennimmt. Die Anträge durchlaufen dann alle möglichen bürokratischen Instanzen und werden am Ende, nach langer Wartezeit, ohne Begründung gewährt oder abgelehnt. Also kommt es darauf an, dass ich meine Bitten möglichst so formuliere, dass sie bei ihm Wohlwollen hervorrufen: Garniert mit Höflichkeitsfloskeln, Komplimenten und Bekundungen meiner Ergebenheit. Gern auch mit einer langen Liste von Unterstützer:innen.

Irgendwo in der Mitte zwischen beiden liegen jene (natürlich von Erwachsenen erdachten) „Kindergebetchen“, über die  sich Joachim Ringelnatz schon vor 100 Jahren lustig gemacht hat:

Lieber Gott, recht gute Nacht,
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon so erwachsen bin.

Freundschaft ist voller Zumutungen

Erwachsen sind auch die zwei Freunde, von denen Jesus spricht. Die Beziehung zwischen den beiden beginnt nicht in dem Moment, als spätabends Gäste hereinplatzen. Sie kennen einander. Oft haben sie zusammen am Abend nach der Arbeit im Schatten eines Olivenbaums gesessen und einander bei einem Becher Wein von ihren Freuden und Sorgen erzählt. Sie haben einander Werkzeuge ausgeliehen und bei Reparaturen von Haus und Hof mit angepackt. Sie sehen zu, wie ihre Kinder aufwachsen, und vielleicht fragt einer den anderen sogar, ob er sich um sie kümmern würde, falls ihm ein Unglück zustoßen sollte.

Wenn es einem von beiden nicht gut geht, wäre der andere enttäuscht, nichts davon zu erfahren. Natürlich ist es anstrengend, in die Probleme anderer verwickelt zu werden. Aber das ist halt der Unterschied zwischen Freunden und Bekannten: Für einen Freund ist es schlimmer, wenn ich meine Sorgen verschweige, mich allein damit herumschlage um ihn zu schonen, als wenn ich sie ihm zumute. Selbst dann, wenn er auch keinen Rat weiß und nur schweigt oder in meine Klage einstimmt. Oft ist das schon Hilfe genug: Wenn ich jemandem mein Herz ausschütten kann, bringt mich das einer Lösung näher.

Gegen Ende ihrer Lehrzeit redet Jesus seine Jünger ganz bewusst als Freunde an – nicht mehr als Schüler und Untergebene. Das Herz ausschütten, sich mitteilen, zuhören und zusammen schweigen, all das gehört zu einer guten Freundschaft. Um Hilfe bitten natürlich auch.

Ganz so ideal ist es freilich im richtigen Leben nicht. Manchmal zerbrechen Freundschaften daran, dass einer den anderen überfordert oder ausnutzt. Manchmal lassen Freunde einander hängen. So wie der Mann, dessen Kinder neben ihm schon schlafen, als der andere klopft, weil sein Brot nicht reicht. Jesus beschreibt ganz ungeschminkt, wie genervt er zunächst auf die Störung seiner Nachtruhe reagiert. Aber spätestens als er kapiert, dass seine Kinder vom unablässigen Klopfen genauso aufwachen wie vom Aufstehen und Öffnen der Türe, wimmelt er den anderen nicht länger ab, sondern gibt ihm die Brote. Und der zieht erleichtert davon, weil er nun seinerseits nicht mehr in der Verlegenheit ist, dem Überraschungsgast – noch ein Freund! – nichts zu essen anbieten zu können. In einer Kultur, die das Gastrecht groß schreibt, wäre das ein schrecklicher Makel. Da ist es leichter zu ertragen, dass der Freund nebenan wegen der aufgewachten Kinder eine Weile schmollt.

Gott auf die Nerven gehen?

Abraham und Mose, die großen Gestalten der hebräischen Bibel, gelten als Freunde Gottes. Sie lassen sich von Gott in seine Angelegenheiten und Pläne hineinziehen. Zugleich haben sie keinerlei Hemmungen, Gott mit den Anliegen der Menschen um sie herum in den Ohren zu liegen. Mit erstaunlichem Erfolg: Gott lässt sich von ihrer Hartnäckigkeit tatsächlich beeinflussen. Freilich geht es in den Gebeten von Abraham und Mose auch nicht um Eigennutz und persönliche Vorteile, sondern um Gerechtigkeit und die Rettung von Menschen aus Not und Gefahr. Das sieht auch Walter Wink so. Der Theologe und Bürgerrechtler hat zwei historische Durchbrüche hat mit erkämpft und erlebt: Die Abschaffung der Rassentrennung in den USA und das Ende der Apartheid in Südafrika.

»Damit Fürbitte christliches Beten ist, muss es um das Kommen des Reiches Gottes auf Erden gehen. Es muss ein Gebet sein für den Sieg Gottes über Krankheit, Gier, Unterdrückung und Tod – jetzt, in den konkreten Lebensumständen von Menschen. In unserer Fürbitte richten wir unseren Willen auf die Möglichkeiten Gottes, die jetzt in diesem Augenblick latent vorhanden sind, und finden uns wieder im Wirbelwind Gottes, der darum ringt, sie zu verwirklichen.

Gott verlangt von uns, dass wir mit Gott feilschen um der Kranken willen, der Besessenen, der Schwachen – und unser Leben dann in Einklang bringen mit diesen Fürbitten. Der Gott der Bibel erfindet die Geschichte im Zusammenwirken mit jenen, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“.«

(Walter Wink. Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, S. 303)

Ray Charles macht es uns vor: „Himmel, hilf dem Schwarzen, der sich Tag für Tag abmüht. Hilf dem Weißen, der sich von ihm abwendet. Hilf dem, der den mit Füßen tritt, der am Boden liegt. Hilf uns allen.“

Immer wieder einmal fragen mich andere und frage ich mich selbst: Warum ist es Gott so wichtig, mich in das Ringen um eine bessere Welt hineinzuziehen. Wenn Gott doch allmächtig und allwissend ist, alles kann und alles weiß, warum passiert das Gute dann nicht einfach von selbst? Warum ist es dann immer noch ein Kampf, warum gibt es immer noch Streit, und warum dauert das alles so lange? 

Seltsam unsouverän

Dieses „Gott braucht keinen Rat, er weiß es besser“ und „Gott macht eh, was er will. Was soll ich ihm reinreden?“ führt dazu, dass ich mich ins anscheinend Unvermeidbare füge. Wenn ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass Beten etwas verändert, außer vielleicht meine eigene Einstellung, wird es zur zähen Pflichtübung. Oder zur gefühlten Zeitverschwendung. Denn in der Zeit, die ich mit Beten zubringe, könnte ich auch etwas tun, das wirkt.

Der Gott, von dem Jesus spricht, ist offenbar anders als menschliche Monarchen – und garantiert anders als Autokraten und Diktatoren. Die stellen sich Souveränität in der Regel als Willkür vor – ich mache, was ich will, und lasse mir von niemand reinreden. Gott aber kommt dabei immer seine  Liebe zu den Menschen in die Quere. Walter Dietrich schrieb einmal treffend,  Israel habe mehr Macht über Gott, als es einem allmächtigen Gott lieb sein könne. 

Dieser Gott möchte nicht über unsere Köpfe hinweg seine Sachen durchziehen, sondern mit möglichst vielen seiner Freundinnen und Freunde zusammen. Ständig sucht er sich ein Gegenüber, das er an seinen Plänen beteiligt. Er haut auch nicht gleich im Affekt drauf, wenn etwas aus dem Ruder läuft, sondern er hält Rücksprache mit seinen Leuten. Er fordert sie buchstäblich ein! Wenn es darum geht, diese Partnerschaft mit einem manchmal seltsam unsouveränen Gott zu beschreiben, wird sogar ein Intellektueller wie Walter Wink zum Poeten. Hören wir ihm nochmal zu:

»Beten heißt, am Käfig Gottes zu rütteln und Gott aufzuwecken und zu befreien und diesem ausgezehrten Gott Wasser und Nahrung zu geben, die Stricke von Gottes Händen abzuschneiden und die Eisen an seinen Füßen zu lösen und den verkrusteten Schweiß von Gottes Augen zu waschen und dann zuzusehen, wie Gott an Leben und Vitalität und Energie zunimmt – und Gott dann überallhin zu folgen, wo er geht.

Beten ist keine Bitte an einen allmächtigen König, der jederzeit alles tun kann. Es ist ein Akt, der den Ursprung, das Ziel und den Prozess des Universums befreit von aller Verzerrung, Vergiftung, Verwüstung, Fehlausrichtung und blankem Hass auf das Leben, die Gottes Absichten im Wege stehen. Wenn wir beten, schicken wir keine Briefe an ein himmlisches Kanzleramt, wo sie zu den anderen sortiert werden, die sich dort stapeln. Wir beteiligen uns an einem schöpferischen Akt […]. Die Geschichte gehört den Betenden, die die Zukunft herbeiglauben. Und wenn das so ist, dann ist das Gebet nicht etwa eine Flucht vor dem Handeln, sondern ein Weg, sich auf das Handeln einzustellen und Handeln zu ermöglichen.«

(Engaging the Powers, S. 303f.)

Zwei Freunde haben eine unruhige Nacht, erzählt Jesus im Gleichnis. Diese Situation wird noch eine ganze Weile andauern. Darauf bereitet Jesus seine Jünger:innen vor. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ sind keine trockenen Floskeln, so lange Krieg und Gewalt an der Tagesordnung sind, so lange wir die Atmosphäre ins Unerträgliche aufheizen, das Wasser und den Boden vergiften, so lange Gerechtigkeit und Unversehrtheit für alle eher ein Ideal, eine Forderung ist – und keine selbstverständliche Praxis. So lange all das den meisten Menschen die meiste Zeit auch nicht so schrecklich wichtig ist. Wenn mir der Zustand der Welt im Großen und Kleinen nicht wenigstens ab und zu den Schlaf raubt, ist das kein gutes Zeichen. Heaven help us all!

Beten und sich einsetzen

Manchmal sagen Leute ja „jetzt hilft nur noch Beten“ und meinen: Menschlich betrachtet sind wir am … Ende unserer Möglichkeiten. Aber vielleicht gehört das auch Anbrechen des Neuen, zum Kommen Gottes in unsre Welt, dass wir ständig überfordert sind. Wenn Gott kommt, wenn wahr wird, dass Christus auferstanden ist, dann bleibt nichts mehr wie es ist. Vielleicht können und sollen wir das also gar nicht allein reißen. Vielleicht steht das Gebet nicht am Ende menschlicher Möglichkeiten, sondern am Anfang. Es hält das Osterfeuer am Brennen. Es ist der Pulsschlag des neuen Lebens. Beten hilft den Aktiven, dass sie nicht verzweifeln, wenn eine Zeit lang nichts vorwärts geht. Und den Ängstlichen oder Zögerlichen, hilft es, in Bewegung und ins Handeln zu kommen. Damit alle, die Menschen und Mitgeschöpfen mutwillig Schaden zufügen, schlaflose Nächte bekommen. 

Es ist gut und richtig, dass Fürbitten in unseren Gottesdiensten einen festen Platz haben. Jesus hätte vermutlich nichts dagegen, wenn sie noch etwas hungriger und durstiger, aufgebrachter und eindringlicher daherkommen. Im persönlichen Gebet oder in einer kleinen Runde lässt sich das leichter lernen. Um dann hoffentlich zu entdecken: Beten ist nicht das Gegenteil von Engagement und Handeln. Es ist das Gegenteil von Fatalismus und Resignation.

So empfand es wohl auch die Mystikerin Madeleine Delbrêl, die einmal schrieb: „Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“ 

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Christlicher Relativismus

Er [Jesus] hat mit seiner Person die falschen Absolutheitsvorstellungen der Welt zerschlagen und in Freiheit zurückgewiesen: Geld, Ehre und Macht; aber er hat sie nicht wieder aufgebaut und eine andere menschliche Gesellschaft errichtet, die eine neue neue Hierarchie der Ehre, Macht und Reichtum besäße.

Er hat die Welt überwunden, indem er sie relativierte; denn der Sieg der Welt über den Menschen ist es, dass sie sich ihm als etwas Absolutes darbietet.

Madeleine Delbrêl (1904-1964)

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Foto: Jeremy Thomas – unsplash.com

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Meine Liebe – deine Liebe

Mehr denn je bin ich davon überzeugt: Die Liebe ist der Daseinsgrund und das oberste Gesetz der Gemeinschaft. Aber bei uns wie bei anderen habe ich erlebt, dass man der Liebe recht übel mitgespielt hat – und das im Namen der Liebe!

Weder das Bemühen, von sich selbst abzusehen, noch die Ermahnung, doch an die übernatürliche Dimension zu denken, scheinen zu genügen, um solche Flurschäden zu verhindern. Alle, die gegenseitig aufeinander losgingen, waren davon überzeugt, dass man „Gott über alles lieben müsse und seinen Nächsten wie sich selbst“ – aber jede hatte ihre eigene Auffassung und ihre eigene Version dieser Liebe.

Madeleine Delbrêl, Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße, 139.

 

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Wenn geistreich sein nicht mehr reicht…

Madeleine Delbrêl lebt in der Spannung zwischen Kirche und Gesellschaft, die (nicht nur) damals von beiden Seiten bedroht war. Die Kirche zog sich in sich selbst zurück vor einer immer gleichgültigeren Welt, die von ihr nichts mehr erwartete. Man muss das wissen, um die folgenden Sätze nicht misszuverstehen.

Einzig in der Kirche und durch sie ist das Evangelium Geist und Leben. Außerhalb ist es nur noch geistreich, nicht mehr Heiliger Geist.

Die Evangelisierung der Welt, ihr Heil ist die eigentliche Berufung der Kirche. Sie ist unaufhörlich auf die Welt hin ausgespannt, strebt zu ihr hin wie die Flamme zum Stroh. Aber diese Spannung wäre eine Überforderung für jemanden, der nichts weiter als er oder sie selbst sein wollte.

Je kirchenloser die Welt ist, in die man hineingeht, desto mehr muss man Kirche sein. In ihr liegt die Mission – durch uns muss sie hindurchgehen.

(Deine Augen in unseren Augen, 214.)

Das wäre durchaus eine Kirche, von der auch heute viele träumen: Eine Gemeinschaft von Menschen, in der sich das Evangelium verkörpert und deren Identität nicht in der strikten Abschottung besteht, sondern die sich fordern, dehnen und verändern lässt, die in ihrem Hineingehen in die Welt auch über sich selbst hinauswächst.

Reduziert man das Evangelium auf eine körperlose Idee, und versucht man aus dieser Idee Kapital zu schlagen für andere Zwecke (Bildung, Wellness, bürgerliche Moral etc.), dann ist es nur noch geistreich. Nicht wertlos, aber weit unter Wert verkauft.

 

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Das Beten der Aktivisten (1)

Aktivisten wollen die Welt verändern und deshalb, so zumindest das Klischee, stehen sie mit dem Gebet auf Kriegsfuß. Zu ungewiss die Resultate, zu anstrengend das Innehalten und Loslassen, zu irritierend die Wendung hin zu Gott und damit immer auch ein Stück weg von den Brandherden dieser Welt. Keine Zeit, die Hände zu falten. Das haben wir alle schon mal so oder so ähnlich gehört.

Doch jeder ernsthafte Aktivismus ist aus zwei Richtungen bedroht: Durch Erschöpfung und Resignation einerseits, wenn einem die Probleme über den Kopf wachsen und selbst jede gelungene Aktion nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein ist, andererseits durch Selbstgerechtigkeit, die stur und rücksichtslos macht. In selbstgerechten Köpfen entstehen Feindbilder – dann sind eben Banker und Manager die neuen „Zöllner und Sünder“, die kollektive Entrüstung auf sich ziehen – und aus Feindbildern wächst erst der Zorn und dann womöglich noch der Hass. Wink warnt:

Wir könnten einfach im Bann einer neuen, kollektiven Leidenschaft gefangen sein und dadurch versäumen, die Möglichkeiten zu entdecken, zu denen Gott hier und jetzt drängt. Ohne Schutz durch das Gebet ist unser Aktivismus der Gefahr unterworfen, zu einem selbstgerechten „guten Werk“ zu werden. (152)

Wer also weder seinen Mut noch seine Menschlichkeit im Kampf für Gerechtigkeit und im Einsatz für eine bessere Welt nicht verlieren will, für den ist das Gebet kein Beiwerk von zweifelhaften Nutzen mehr, sagt Walter Wink in Verwandlung der Mächte. Die beliebte Frage, ob Beten eine Flucht vor dem Handeln sein könnte, stellt Wink nicht, seine Perspektive ist nicht die des Rückzugs in einen heilen, frommen Binnenraum. Diese Auflösung der Grenze zwischen Tun und Beten habe ich kürzlich auch bei Madeleine Delbrêl gefunden, die schrieb: „Weil wir die Liebe für eine hinreichende Beschäftigung halten, haben wir uns nicht die Mühe gemacht, unsere Taten nach Beten und Handeln auseinanderzusortieren.“ Zugleich ist das Gebet für beide, Wink und Delbrêl, auch mehr als ein Ort der Selbstreflexion. Es verändert nicht nur den Beter in seiner Innerlichkeit, während die Welt um ihn herum ungerührt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt.

In Engaging The Powers verweist Wink in diesem Zusammenhang auf Rudolf Bultmann, der im Blick auf den „Gebetsglauben“ Jesu festgestellt hatte:

… man kann nicht zweifeln, dass, wenn Jesus zum Bittgebet mahnt, dann die Bitte im eigentlichen Sinn gemeint ist, d.h. im Gebet soll sich nicht die Ergebung in Gottes unabänderlichen Willen vollziehen, sondern das Gebet soll Gott bewegen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde.

Nicht die Selbstbegrenzung des deistischen Gottes der Aufklärungstheologie oder die göttliche „Apatheia“ der antiken Philosophen prägen das Weltverhältnis des Glaubens, vielmehr begegnen wir hier jener Vorstellung von Allmacht und Souveränität, die nicht nach einem neutralen Standpunkt sucht, um von dort aus alpgemeingültige Aussagen zu machen, sondern den unablässigen Klagen der Psalmisten und dem Feilschen der Gerechten Israels einnimmt, die Gott unablässig ins Gewissen reden, ihn bei seiner Ehre und seinen Heilszusagen packen und ihn so ins Weltgeschehen verwickeln.

Um noch einmal Madeleine Delbrêl zu zitieren, die das Verbot der Arbeiterpriester der Mission de France unter Pius XII als schweren Rückschlag beklagte und in dem Zusammenhang fragte: „Aber Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“

Walter Faerber hat das Weltbild, auf das Wink sich bezieht, in diesem Post schön dargestellt und ihm mit dem keltischen Knoten noch ein schönes Symbol hinzugefügt. Wink folgert aus dem unentwirrbaren Ineinander göttlicher und menschlicher Initiative, sichtbarer und unsichtbarer Einwirkungen:

Fürbitte ist der spirituelle Widerstand gegen das, was ist, im Namen dessen, was Gott verheißen hat. Fürbitte imaginiert eine alternative Zukunft, anders als die, welche vom Schicksal durch das Zusammenwirken gegenwärtiger Kräfte bestimmt zu sein scheint. Das Gebet lässt die Luft einer kommenden Zeit in die erstickende Atmosphäre der Gegenwart hereinwehen. (154)

Ich will das im nächsten Post noch etwas näher ausführen. Hier vielleicht noch der Hinweis, der uns bei Con:Fusion 2014 noch ganz wichtig war, dass Wink – durchaus im Einklang mit den biblischen Texten – nie von einer direkten, unvermittelten Intervention Gottes in der Welt spricht. Immer ist ein menschlicher Agent im Spiel – von Adam über Abraham und Mose, die Richter und Propheten bis hin zum Messias, seiner jungen Mutter und schließlich der messianischen Gemeinschaft unter den Augen der Mächte der Welt.

Und so wie Menschen Gott durch ihr Gebet in die Leiden und Kämpfe seiner und ihrer Welt verwickeln, so verwickelt Gott die Menschen durch seinen Geist in die Anliegen seines Reiches, seiner „herrschaftsfreien Ordnung“ (domination-free order), wie Wink so oft sagt, eben jener „alternativen Zukunft“. Wenn wir Gott also, wie Madeleine Delbrêl schrieb, unter Druck setzen, dann deshalb, weil der Funke dieser Sehnsucht uns erfasst hat und sie sich im Umgang mit Gott und den Worten Jesu ständig neu entzündet.

In unserer Gruppe brachte es am Samstag jemand auf den (ziemlich herausfordernden…) Punkt:

Gott hat es so angestellt, dass das Gute nur gewinnt, wenn wir mitmachen.

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Zeitstaub

Legt man sich die Latte im geistlichen Leben zu hoch, dann ist damit gar nichts gewonnen. Madeleine Delbrêl plädiert für den entgegengesetzten Ansatz, und sie hat einen schönen Begriff dafür:

Manche setzen es sich in den Kopf, es genau wie die Ordensleute machen zu wollen; das führt aber dazu, überhaupt nichts zu tun, denn so etwas ist für uns Leute vom Volk praktisch unmöglich.

in das beschäftigtste, umtriebigste Leben dringen aber doch, wie feiner Staub, leere Zeitteilchen ein […] Wenn wir behaupten, Beten sei unmöglich, so müssen wir uns auf die Suche nach diesem Zeitstaub machen und ihn so, wie er ist, verwerten.

aus Deine Augen in unseren Augen: Die Mystik der Leute von der Straße, 103.

 

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Lust auf etwas anderes

… ich glaube, du hast von den Leuten genug,

Die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln,

Dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren,

Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports

Und dich zu lieben, wie man sich in einem alten Haushalt liebt.

Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest,

Hast du den Heiligen Franz erfunden

Und aus ihm einen Gaukler gemacht.

An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen,

Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.

Madeleine Delbrêl, Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße, 116.

 

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Das Format unserer Taten

Wir anderen, wir Leute von der Straße, sind ganz sicher, dass wir Gott so sehr lieben können, wie er Lust hat, von uns geliebt zu werden.

Wir glauben, dass die Liebe keine glanzvolle, dafür aber eine aufzehrende Angelegenheit ist; wir denken, dass wir, wenn wir für Gott ganz kleine Dinge tun, ihn ebenso lieben können wie mit großen Aktionen. Im Übrigen halten wir uns für schlecht informiert, was das Format unserer Taten angeht. Wir wissen bloß zweierlei: zum einen, dass alles, was wir tun, nur klein sein kann; zum anderen, dass alles, was Gott tut, groß ist. Das beruhigt uns angesichts dessen, was zu tun ist.

Weil wir die Liebe für eine hinreichende Beschäftigung halten, haben wir uns nicht die Mühe gemacht, unsere Taten nach Beten und Handeln auseinanderzusortieren.

Madeleine Delbrel, Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße, 97.

 

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