Ein Denkmal für die Sehnsucht

Mein Arbeitszimmer ist so aufgeräumt wie schon Jahre nicht mehr: In der Isolation der letzten Wochen (und mit viel mehr Vorlauf als gewohnt) eine Predigt zu schreiben, ließ jedes Staubkorn interessant erscheinen. Dass gefühlt alles gerade im Ungewissen und in der Schwebe ist, macht es schwer, etwas zu niederzuschreiben, ohne es umgehend wieder unter Vorbehalt zu stellen. Aber irgendwann klärten sich die Gedanken und die Worte auf dem Bildschirm dann doch.
Die Ausnahmesituation setzt sich beim Sprechen im sterilen Studio fort: Keine Gemeinde vor Augen, kein Tageslicht, schalltoter Raum. Dank der moralischen und fachlichen Unterstützung von Melitta Müller-Hansen ließ sich zum Glück noch etwas Restadrenalin mobilisieren. Und die ersten Rückmeldungen waren ganz positiv. Aber hört (oder lest) selbst, wenn Ihr mögt…

Der rastlos Reisende sitzt fest. Paulus, der Apostel, hat gerade einen Gefängnisaufenthalt überstanden. Und jetzt muss er in Athen schon wieder warten, bis sein Team nachkommt. Erst dann kann es weitergehen übers Meer. Nun sitzt er am Hafen von Piräus, und sieht, wie die Schiffe an- und ablegen. So wie ich in den letzten Wochen den wenigen Flugzeugen am Himmel hinterhergeschaut habe. Voller Fernweh. Und voller Ungeduld: Wann werde ich mich wieder wie gewohnt frei bewegen können? Reisen? Besuche machen?

Irgendwann entschließt Paulus sich, in die Stadt zu gehen. Athen im ersten Jahrhundert nach Christus, das ist so eine Art Weimar des römischen Reiches. Politisch und wirtschaftlich unbedeutend, aber voller Erinnerungen an ein goldenes Zeitalter der Kunst und Philosophie. Und die Wiege der Demokratie – auch wenn das schon längst wieder Geschichte ist.

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Kein ganz einfaches Pflaster

Dieses Athen bietet großartige Architektur, wohin man auch schaut. Als Tourist oder Flaneur käme Paulus jetzt voll auf seine Kosten. Aber er sucht nicht den Kunstgenuss, sondern Gott auf den Straßen und Plätzen. Sein Blick fällt auf die zahllosen Götterbilder und Tempel. Er sieht sie nicht nur als kulturgeschichtliche Attraktionen. Für ihn sind sie in Stein gemeißelte Machtverhältnisse. Die Götter des Olymp sind Sinnbilder der antiken Klassengesellschaft: Freie stehen über den Sklaven, Männer über den Frauen, Eingesessene über den Zugewanderten. Diese Götter sind Schutzmächte jenes Systems, in dessen Namen er kürzlich erst verhaftet und ausgepeitscht wurde.

Auf dem Marktplatz, wo einst schon Sokrates die Passanten mit seinen Fragen nervte, kommt Paulus ins Gespräch mit den Einheimischen. Gebildet sind sie und kunstbeflissen, die Athener. Kritik und Skepsis wurden hier erfunden und in alle Welt exportiert. An die alten Göttermythen indes glaubt hier kaum noch einer. Eher, dass die Vernunft es möglich macht, sich dem Wahren, Guten und Schönen zuzuwenden. 

Ein bisschen verwöhnt sind sie auch. Jeden Augenblick könnte eine antike Version des Philosophen Richard David Precht um die Ecke kommen – gutaussehend, wohlsituiert und eloquent. Wahrheitssuche darf in Athen gern unterhaltsam sein: „Wo du schon mal da bist: Beeindrucke uns, wenn du kannst!“, sagen die Gesten und Gesichter. „Was hast du zu sagen über Gott und den Kosmos? Über das Glück und das tugendhafte Leben?“

Der Newcomer Paulus schlägt sich in seiner ersten Diskussion auf dem Markt in Athen so gut, dass er zur Begutachtung auf den Areopag geladen wird. Hier, unterhalb der Akropolis wird nicht Smalltalk, sondern Politik gemacht und Recht gesprochen. Es wird ernst:

Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.

Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, dass sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. 

 (Apg 17, 22-28)

Die Anspannung, der Missmut und die Ungeduld über das unfreiwillige Warten erscheinen wie weggeblasen, als Paulus zu dieser Rede ansetzt. Ich bin ein bisschen beschämt darüber. Wie oft ist mir das in den zurückliegenden Wochen nicht gelungen, meine Verstimmung über die ernste bis deprimierende Corona-Pandemie aus persönlichen Gesprächen herauszuhalten? Auch wenn völlig klar ist, dass mein Gegenüber genauso unter der Situation leidet und ebensowenig dafür kann wie ich. Ich spüre, wie ich einsilbiger werde, wenn ich genervt bin.

Paulus hingegen schimpft und droht nicht, er zieht sich aber auch nicht zurück. Er hat etwas Positives entdeckt, etwas Verbindendes. Und das rückt er jetzt in den Mittelpunkt. Hat ihn das Kraft gekostet? Ich stelle mir vor, wie er auf dem Weg vom Markt zum Areopag tief durchatmet. Wie er ein Stoßgebet um die richtigen Worte zum Himmel schickt. Wie er in Gedanken nach dem richtigen Einstieg sucht und plötzlich diesen Moment vor Augen hat: Auf seinem Streifzug durch Athen steht er vor dem Altar eines unbekannten Gottes. Ohne die üblichen Bilder, ohne klangvollen Namen. Welches Geheimnis verbirgt sich hier?

Gott als Joker?

In Athen gibt es für alles einen Gott. Selbst für das, was man nicht bedacht hat. So gesehen ist dieser Altar für den unbekannten Gott wie der Joker in einem Kartenspiel, der für jede beliebige andere Karte zum Einsatz kommen kann. Ich denke an Dietrich Bonhoeffer, der vor 75 Jahren ermordet wurde. Er hat es abgelehnt, Gott als Joker zu benutzen. Ihn als „Gott der Lücken“ ins Reich des Unerklärlichen, Unbeherrschbaren und Übernatürlichen abzuschieben. Da erfüllt er durchaus noch seinen Zweck, da brauchen wir ihn noch: An den Außengrenzen, wo wir nicht weiterwissen, absolut ratlos sind, wo nichts mehr beherrschbar oder berechenbar ist. Da brauchen wir ihn als „Gott der Lücken“, um uns abzusichern. Zugleich aber überlassen wir das Alltägliche, das Natürliche, das Politische und alles Zwischenmenschliche sich selbst. 

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Die Lücken in unserem Wissen und die Grenzen unserer Welt- und Selbstbeherrschung rücken gerade wieder in den Blick. Das Corona-Virus macht sie sichtbar. Schlagzeilen wie „Ökonomen im Blindflug“ gehören inzwischen zum Alltag. Man könnte auch manch andere Zunft hier einsetzen, Virologen vielleicht ausgenommen. Noch vor wenigen Wochen schien ein Kontrollverlust dieser Größenordnung völlig undenkbar. 

Manche Prediger sehen eben darin Gott am Werk und wittern neue Chancen für den Glauben. Aber wenn wir Gott als Krücke und die Verheißung ewigen Lebens als Beruhigungspille anpreisen, dann werden viele ihm den Rücken kehren, wenn die Lage sich wieder stabilisiert. Dann hat Gott seinen Zweck ja auch erfüllt. So wie wir heute für Menschen in Pflegeberufen Beifall klatschen und uns morgen darüber beschweren, dass der Beitrag für die Krankenkasse steigt oder der Staat uns die Steuern erhöht, um sie besser zu bezahlen. 

Bonhoeffer wollte dieses Spiel nicht mitspielen. Er schrieb: 

„Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen … Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“ 

Er hatte seinen Paulus gut gelesen, denn das ist genau der Weg, den der Apostel  einschlägt – mitten auf dem Areopag.

Ein Fragezeichen aus Stein

Paulus deutet den Altar des unbekanntes Gottes positiv: Als Fragezeichen hinter den vermeintlichen Gewissheiten der Athener. Der Altar markiert eine Leerstelle: Was haben wir übersehen? Gibt es noch mehr zu entdecken als das, was wir schon kennen? Kluge Menschen haben auch ein Gespür für das, was sie alles nicht wissen.

Zugleich ist der Altar ohne Bild Ausdruck einer Sehnsucht. Wie bei Fernweh: du siehst ein Schiff, ein Flugzeug, du suchst mit deinen Augen den offenen Horizont. Aber du weißt nicht, wohin es dich zieht. So auch die Sehnsucht nach dem unbekannten Gott: Sie kann noch gar keine genauen Koordinaten für das Ziel der Expedition nennen. Das Unbekannte hat keine Adresse, keinen Namen und kein Gesicht. Wie der geheimnisvolle Gott, der in der Wüste aus dem brennenden Busch zu Mose, dem Nomaden, über die Freiheit in einem fernen Land spricht. Der Gott der Juden, und damit auch der Gott Jesu von Nazareth.

Manchmal spüren Menschen so eine Sehnsucht, aber bringen sie nicht mit Gott in Verbindung. In der Popkultur etwa stoße ich auf Texte, die sich an eine zukünftige Partnerin oder einen Partner richten. Die Titel heißen „Dear Future Husband“ oder „I Haven’t Met You Yet“. Da geht es um die Suche nach jemandem, der mich spüren lässt, dass ich etwas Besonderes bin. Und ein bisschen auch die Sehnsucht nach jemand, der mich vor mir selbst rettet. Wie beim „Gott der Lücken“ wird da im Grunde aber jemand gesucht, der all das liefert, was mir gerade fehlt.

Das Gegenstück dazu wäre jemand – Gott oder Mensch –, mit dem ich alles teilen kann, nicht nur meine Leerstellen und Defizite. Die zarte, tastende Sehnsucht nach einem solchen Gegenüber besingt das Folkduo „The Civil Wars“:

Du hast mir gefehlt
Aber ich bin dir noch nie begegnet
Doch das würde ich so gern
Liebe(r) Wer-immer-du-auch-bist
Noch warte ich geduldig

Ich habe in diesen Tagen der allgemeinen Zwangsentschleunigung auf vieles gewartet und warte noch: Auf den ersten Friseurtermin seit Ewigkeiten. Dass es irgendwo Hefe zu kaufen gibt. Aufs Anstoßen mit Freunden im Biergarten. Und darauf, meine alten Eltern in den Arm zu nehmen. Im Moment empfinde ich das erzwungene Warten so anstrengend, dass das freiwillige Warten – die Stille, das Gebet, die Meditation – unter dem Sehnsuchtsstau leidet. Ich bete in diesen Tagen lieber draußen, unter den Bäumen, die da ruhig und unverrückbar stehen, und bei den Vögeln, die über den offenen Himmel fliegen.

Sympathische Sehnsucht

Die Sehnsucht ist eine besondere Art der Verbindung. Es gibt sie nur in Beziehungen, in denen man das Gegenüber nicht besitzt und im Griff hat. Deswegen ist die Sehnsucht nach Gott auch nie ganz zu stillen. Die Sehnsucht, der Durst nach Geist und Leben macht Menschen anziehend und schön. So lange wir träumen, ist in aller Traurigkeit noch Kraft und Hoffnung auf Veränderung. Vielleicht sagt meine Sehnsucht ja mehr über mich aus als das, was ich schon erreicht habe.

Der Altar des unbekannten Gottes ist das Eingeständnis, dass man nicht alles wissen kann oder noch nicht alles erkannt hat. Eines interessierten Nichtwissens. So sieht Paulus die Athener. Er sieht ihre Sehnsucht und sie ist ihm sympathisch. Gott nicht ganz erkannt zu haben ist keine Schwäche, deren man sich schämen müsste. Statt belehrend und besserwisserisch aufzutrumpfen, betont er noch einmal die Gemeinsamkeit: Gott braucht kein Haus, schon gar kein prunkvolles, sagt er. Und er braucht auch keine Priesterkaste, die ihn hofiert wie die Lakaien ihren Kaiser. Was für ein Gott wäre das, der das nötig hätte? 

Paulus weiß, das die Athener das wissen. Er zeigt es ihnen, indem er aus den „Himmelserscheinungen“ eines damals bekannten und beliebten Dichters, Aratus von Soloi, zitiert: „In ihm leben, weben und sind wir“, und „Wir stammen von ihm ab“: Der eine, wahre Gott ist überall am Werk, mitten im Leben und im Guten. Im Menschsein, das uns alle verbindet. Nicht in den Dingen, die uns unterscheiden und trennen. Wozu noch Tempel? Wozu noch andere Bilder? Gott lässt sich auch nicht mit Konzepten oder Begriffen dingfest machen. Wenn wir ihn in solche Gräber sperren, kommt er wieder heraus und sie sind leer.

Gott – mitten im Leben

In den letzten Wochen konnten wir uns nicht wie gewohnt zum Gottesdienst in den Kirchen versammeln. Viele haben das vermisst. Manche sind in eine der offenen Kirchen gegangen, um eine Kerze anzuzünden und still zu beten. Viele beten jetzt wieder, wenn die Kirchenglocken läuten – zuhause, wo sich gerade viel mehr Alltag als sonst abspielt. Neben dem Warten ist auch das eine der Lektionen dieser Tage: Wir leben, bewegen uns und sind in Gott. Gottesdienste und Kirchenräume dienen nicht dazu, dem Alltag zu entfliehen. Sondern mir gerade genug Abstand zu ermöglichen, dass ich Gottes Spuren im Gewöhnlichen entdecke: Beim Einkauf, im Grünen, beim Gespräch über den Gartenzaun oder übers Internet, wenn ich nachts wach liege.  

Oder wenn mir schlechte Nachrichten unter die Haut gehen. Letzte Woche etwa kommentierte die Journalistin Mely Kiyak die elende Lage tausender Geflüchteter auf Lesbos, darunter viele Kinder: 

Menschsein ist universell und spricht eine Sprache. Kinder sind Schutzbedürftige. Dieses Wissen nicht in seinem Lebenskompass eingeschrieben zu haben, bedeutet einen unglaublichen Verlust von Würde, zunächst einmal sich selbst gegenüber.

Mely Kiyak, 50 ist keine Zahl

Europas Regierungen stehlen sich im Schatten von Corona aus der Verantwortung und ich sitze hier wie tausende andere fest im Homeoffice und unterschreibe Online-Petitionen an die Regierenden.

Die Gerechtigkeitslücke

An diesem Punkt geht Paulus einen Schritt über die Einigkeit mit den Athenern hinaus. Gott ist nicht nur Grund und Urheber der Welt, sondern er verfolgt auch ein Ziel. Ja, Menschen spiegeln Gott oft und in vieler Hinsicht wider. Ja, es gibt Wahres, Gutes und Schönes unter ihnen. Manchmal aber ist es schlichtweg zum Heulen, was sie einander antun. Die Würde aller nimmt Schaden, wenn Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird. Wenn die Gewalt der einen und die Gleichgültigkeit der anderen sich die Hand reichen, folgt die Selbstzerstörung. Und am Umgang mit leidenden Menschen zeigt sich auch, wie es um unser Verhältnis zu Gott bestellt ist.

Deswegen offenbart sich Gott ausgerechnet im leidenden und gekreuzigten Christus. Paulus reißt das nur knapp an, quasi im Telegrammstil, und die Athener haben erkennbar Mühe, ihm zu folgen: 

Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.
Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er richten will den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.

Apg 17, 29-34

Für diesen sperrigen Christus gibt es keine passende Nische. Er stört, also wird er beseitigt. Gottes Sohn nimmt es in Kauf, selbst unter die Räder zu kommen. Und damit deckt er den herzzerreißenden Zwiespalt der Menschheit auf: So großartig und doch auch so grausam sein zu können. Aber gerade da stößt Gott nun die Tür zu einer neuen Welt auf. Im Auferstandenen erscheint sie, inmitten in der alten, kaputten Welt. Immun gegen das Virus der Unmenschlichkeit.

Unser Licht leuchten lassen

Das also macht die Osterbotschaft aus: Eine andere Welt ist nicht nur theoretisch möglich. Der Anfang ist schon gemacht. Wenn Paulus vom kommenden Gericht spricht, sagt er damit: Gott wird der Unmenschlichkeit ein Ende setzen und seine aus den Fugen geratene Welt zurechtbringen. 

Die Zeit des Leidens ist begrenzt. Aber sie ist – bei aller österlichen Erleichterung und Vorfreude –noch nicht zu Ende. Wir warten nicht auf das Ende der Corona-Krise und darauf, dass dann alles wieder „normal“ wird. Die gefühlte Normalität der Jahre vor Corona war in Gottes Augen schon längst Krise. So kann es nicht weitergehen. Wir warten sehnsüchtig auf ein Ende der Ungerechtigkeit. Wir warten auf eine Welt, in der Kinder und Alte, Frauen und Männer, Menschen und Natur in Würde und Frieden leben. Das Ende der Pandemie ist nur ein Schritt dahin.

Zu Ende ist allerdings die Zeit des Abwartens und Taktierens. „Egal, was ihr vorher gemacht habt,“ sagt Paulus den Athenern, „jetzt ist es Zeit, sich der Bewegung des Auferstandenen anzuschließen.“ Lukas nennt namentlich zwei Personen, die der Einladung folgen: Dionysius, Damaris.

Und ich? Ich muss nicht bis nach Corona warten, um es ihnen gleichzutun. Mit vielen anderen auf dieser Welt bin ich unterwegs. Zum Beispiel Joan Baez, die vom Glauben an Gott singt, der sich zwar oft nicht begreifen lässt, aber uns hilft, unser Licht leuchten zu lassen.

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Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Distanz und Gegenwart: Clips aus dem Corona-Chaos

Das analoge soziale Leben (und mit ihm das noch deutlich analogere kirchliche Leben) steht momentan still. Die Fastenzeit hat einen ganz anderen Charakter angenommen, es geht nicht mehr um Schokolade, Fleisch oder Alkoholverzicht.

Die Beschäftigung mit dem Leiden – der Kranken, des Pflegepersonals, der Geflüchteten auf Lesbos, der Künstler und (Klein)Unternehmer, der Alleinlebenden, der psychisch Kranken, der gestrandeten Urlauber, der Familien, in denen es gerade schwierig ist (um nur ein paar Beispiele zu nennen…) – ist sehr präsent.

Ich habe, wie viele andere Kolleg*innen nah und fern (Geographie spielt da ja auf einmal eine ganz untergeordnete Rolle) in den letzten Tagen ein paar kleine Beiträge aufgenommen und hoffe, dass sie alle, die es in dieser gänzlich ungewohnten Lage brauchen können, ein bisschen aufmuntern und so ein bisschen Verbindung zu halten. Lasst gern etwas von Euch hören, entweder als Kommentar oder schickt mir eine Nachricht auf anderen Kanälen.

Passend zu manchem, was mir im Kopf herum ging, hat Hartmut Rosa diese Woche dem Philosophiemagazin gesagt:

Der räumliche Horizont beschränkt sich auf den Umkreis der Wohnung, zeitlich denken wir nur noch für ein paar Tage voraus, denn wer weiß schon, was in zwei Wochen sein wird? Das aber ändert die Art und Weise unserer Weltbeziehung: Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus. Wir haben Zeit. Wir können plötzlich hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht: Vielleicht hören wir wirklich die Vögel und sehen die Blumen und grüßen die Nachbarn. Hören und Antworten (statt beherrschen und kontrollieren): Das ist der Beginn eines Resonanzverhältnisses, und daraus, genau daraus kann Neues entstehen.

Hartmut Rosa

Und Slavoj Zizek schreibt dort, auch sehr passend: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahestehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“

und dazu gehört als Soundtrack noch:

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