Der Philosoph Volker Gerhardt unternimmt in seinem kürzlich erschienenen Werk Der Sinn des Sinns: Versuch über das Göttliche den spannenden Versuch, eine philosophische Perspektive auf Denken und Glauben, Gott und die Welt zu entfalten. Ich habe mit dem Lesen erst begonnen und doch schon aus der Einleitung viele gute Denkanstöße mitgenommen. Zum Beispiel diesen Kommentar zum Horizont der Sinnfrage:
Der schwer erkrankte, inzwischen verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ließ sich mit einem Zettel fotografieren, auf dem zu lesen steht: „Weltformel nicht in Sicht. Vielleicht ist alles sinnlos?“ Das „Vielleicht“ hätte sich der tapfere Autor ebenso sparen können wie das Fragezeichen. Wenn „alles“ nur das ist, was es in aufzählbaren Sachverhalten gibt, ist nichts sinnloser, als nach dem Sinn der Welt zu fahnden.
Doch die Lage ändert sich augenblicklich, sobald wir, anstatt von einer „Weltformel“ objektive Auskunft zu erwarten, von uns selbst ausgehen und die „Selbstformel“ als das Paradigma ernst nehmen, an das alles Suchen nach Sinn gebunden ist. Für die „Selbstformel“ ist der Sinn bereits konstitutiv. … Die Sinndimension ist die Voraussetzung dafür, in der Welt überhaupt nach einem Sinn suchen zu können. Man müsste schon das Fragen verbieten, wenn man die Suche ausschließen will.
Mit dem Verlust der Sinndimension (Nietzsche beschreibt das mit dem Schlagwort vom „Tod Gottes“) ginge, wie Gerhardt schreibt, jede Möglichkeit der Selbsterkenntnis verloren und damit auch die Selbstüberwindung des Menschen, die Nietzsche anstrebte. Ein paar Absätze später fasst Gerhardt sein Anliegen so zusammen:
Von diesem Sinn, in dem wir durchschnittlich leben, als sei er uns bekannt, und der uns verzweifeln lässt, sobald er fehlt, (und dennoch die Verzweiflung trägt), handelt das vorliegende Buch. Es sucht zu zeigen, dass alles, was wir mit einer über den Augenblick hinausgehenden Sinnerwartung tun, auf einen tragenden Sinn des Daseins vertraut, in dem wir mit dem Ganzen verbunden sind. Unter dem Eindruck dieses uns stützenden und fördernden Sinns gewinnen wir die rationale Zuversicht, der zu sein, der wir sind oder sein möchten, um dort, wo es uns wichtig erscheint, über uns selbst hinauszugehen.
Unabhängig davon, ob man Gerhardt in allen Dingen folgt, scheint mir sein Buch für alle Theolog_innen schon deshalb eine gewinnbringende Lektüre, weil es außerhalb vieler üblicher theologischer Sprachspiele und Zirkelschlüsse steht und die Begründung der bestehenden philosophisch-theologischen Grenzziehungen in Frage stellt. Anders gesagt: Wer sich fragt, wie man verständlich und „unfromm“ von Gott und Glauben reden kann, der wird hier ein weites Lernfeld entdecken.
Finde die Formulierungen schon gelungen. Zum Beispiel die feine Einsicht, dass noch die Verzweiflung am Absurden eigentlich von einer Sinn-Unterstellung getragen ist.
Die Idee, Gott als sinntragenden Grund (und Abgrund!) zu beschreiben, findet man so schön wie auch problematisch bei Tillich. Gerade im „Mut zum Sein“ hat er ja eine sehr feinsinnig-mystische Auseinandersetzung mit dem Existentialismus.
Aber: Was, wenn die Sinnfrage heute auf taube Ohren stößt? Also, wenn also diese Sinn-Unterstellung, die noch die Revolten und Verzweiflungen von Leuten wie Kierkegaard, Camus, Sartre etc. umgetrieben haben, heute so gar nicht mehr aufzufinden ist? Was, wenn man längst eine fröhliche Resignation alá Kohelet als Grundzug von vielen Zeitgenossen voraussetzen kann. Die Schönheit, die gerade die Aufgabe einer Sinn-Unterstellung haben kann, spürt man zB hier: https://www.youtube.com/watch?v=WCAHviO8J1I
Ich bin mir nicht sicher, ob in der Lebenshaltung, die Du beschreibst, wirklich ein radikaler Verzicht auf Sinn enthalten ist, oder einfach nur ein eingeschränkter Sinnhorizont. Mir scheint eher das letztere der Fall zu sein: Ein bisschen Stoa und Epikur, wir suchen den Sinn nicht mehr in der Weltrevolution, sondern im Genuss des Augenblicks. Aber wenn man schon wieder anfängt, davon zu singen und das als kommunizierbares Programm zu verstehen, dann hat das eben, so wie ich Gerhardt verstanden habe, den Charakter von Sinn.
Ja, das stimmt. Sobald man es singend zu einem Program erhebt, ist man natürlich schon im Sinn drin. Sinn als Medium der Kommunikation, aber nicht als Horizont, in den man sich stellt. Und das Program lautet dann eben nicht mehr „Lebensfreude trotz des Absurden“ sondern „Lebensfreude im/wegen des Absurden“. Ich erinnere mich an die Aussage von dem „Warum ich nicht mehr glaube“ Buch, in der jemand sagte, dass alles immer so mit Bedeutung aufgeladen gewesen wäre. „Man konnte nicht einfach mal einen Kaffee trinken ohne dem eine metaphysische Bedeutung zu verleihen“. Man könnte in diesem Zusammenhang auch davon sprechen, das der Zwang zur Bedeutungsstiftung manchmal als Bürde erscheinen kann und es sich hier also um die Zurückweisung von letzten Deutungen (aka Gründen) handelt. Ich glaube, man erfasst diese Lebenseinstellung erst so richtig, wenn man diese Zurückweisung eines großen gemeinsamen Horizonts als eigenes, positiv besetztes Weltbild begreift.
Ich glaube, es gibt diese zwanghafte religiöse „Bedeutungsstiftung“, von der Du schreibst, und wo sie existiert, liegt ihr ein zwanghaftes Verständnis von Gott und Sinn zugrunde. Klar, dass man sich davor retten muss. Aber damit hat man die Sinndimension nicht aufgegeben, sondern nur verlagert und neu definiert. Beziehungsweise enthält die Zurückweisung eines ganz bestimmten Sinns natürlich auch wieder eine Vorstellung von Sinn, sonst wäre sie ja weder möglich noch nützlich.
Der Aufwand, den man für die Bedeutungsstiftung betreiben muss, variiert in Abhängigkeit davon, ob man sich sinnmäßig eher exzentrisch oder im Mainstream verortet. Wer eher zu den Randsiedlern gehört (religiös, politisch, kulturell …) hat einen höheren Reflexionsbedarf, weil er auf weniger Standard-Sinnelemente zurückgreifen kann. Die Zurückweisung eines großen gemeinsamen Horizonts ist dagegen gesellschaftlich so umfassend ausgearbeitet, dass es tatsächlich keiner größeren individuellen Bedeutungsarbeit mehr bedarf. Es gibt in diesem Sinnuniversum genug Unter-Fraktionen, deren Muster, Stile und Moden man (ggf. eklektisch) übernehmen kann. Die grundlegenden Linien dagegen sind längst geklärt, die muss keiner mehr individuell ziehen. Wenn man daher persönlich an den letzten Deutungen nicht mehr groß arbeiten muss, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt oder dass sie keine Bedeutung hätten.
Jetzt muss man sich doch noch mal verständigen, worüber man spricht.
„Sinn“ ist ja nun immer ein sehr aufgeladenes Wort. Die Phänomenologie würde aber stark machen, dass wir ja „immer schon“ (der Lieblingsbegriff jedes Phänomenologen) in Sinnstrukturen eingebettet sind. Sinn und Sinnlichkeit treten wenn man so will gleichzeitig auf. Das Zurückweisen von bestimmten Sinnzuschreibungen schafft dann Raum dafür, dass sich die Dinge noch einmal anders zeigen können. Also kann man sagen: um überhaupt in eine Position zu kommen, in der man randständig die Dinge anders erfährt, muss man Sinnstiftungen, die immer schon da sind, zurückgewiesen haben. Schon die Rede von der Sinnstiftung oder „Bedeutungsarbeit“ zeigt ja, dass es sich nicht um etwas handelt, was man einfach findet, sondern etwas, das man je neu schafft. Oder – phänomenologisch gesprochen – was sich je neu zeigt.
Nur: ist der gekreuzigte Gott tatsächlich der tragende Grund allen Lebens? Reden wir von einem Gott, der uns einen Sinnhorizont eröffnet? Wäre das nicht ein Gott, der erstaunlich nahe an unseren religiösen Sinnbedürfnissen gebaut wäre? Müsste man Gott nicht anstatt ihn als Garantie für mein Projekt der Sinnstiftung anzurufen, ihn zunächst und vor allem einmal dort verorten, wo jede Sinnstiftung scheitern muss?
Kann man fragen, Arne. Wenn ich weiter bin in Gerhardts Argumentation, dann kann ich das wieder aufgreifen. So ganz spontan fiele mir zu deinem Einwand nur ein, dass man es natürlich auch so sehen kann, dass der Sinnhorizont des gekreuzigten Gottes eben weit genug ist, die Dinge und Situationen einzuschließen, die bei anderen (weil menschlich begrenzten oder meinetwegen auch sündhaft verzerrten) „Projekten“ von Sinnstiftung herausfallen. Ob die Metapher von Mitte und Rand da allerdings noch viel austrägt, wenn die größtmögliche Weite das Problem ist?
Nur zur Einordnung. Ich bohre hier so nach, weil in einigen „kulturprotestantischen“ Theologien sehr stark mit dem Sinnmotiv gearbeitet wird. Das wirkt dann schnell als Immunisierung gegen Säkularisierungstendenzen nach dem Motto: „Die gehen zwar nicht mehr in die Kirche, aber nach Sinn sucht ja jeder und da kommen wir Theologen ins Spiel“. Das wäre dann ein misslungener Versuch des Dialogs mit der umgebenden Kultur, weil er eigentlich als Unterstellung und Absicherung („religiöses A priori“) fungiert und nicht sieht, dass in der Tat erst einmal sehr viele Zeitgenossen völlig ohne große Sinnhorizonte auskommen.
Klar – geschenkt. Da hin will keiner von uns zurück – und Gerhardt kommt ja von der Philosophie her, die über Gott in den letzten Jahrzehnten ohnehin nicht reden wollte, er begeht also den Tabubruch, wenn es einer ist, in der umgekehrten Richtung.