Seoul: Jetzt wird’s theologisch

Die inhaltliche Arbeit hat begonnen. Dr. Ung Kyu Pak sprach über die verschiedenen eschatologischen Konzepte im Verlauf der koreanischen Kirchengeschichte, die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann und vor allem mit der japanischen Besatzung und der nationalen Befreiung zurecht kommen musste. So schwankte die Ausrichtung zwischen nationalem Aktivismus auf dem Boden des Evangeliums bis hin zur individualistisch-pietistischen Konzentration auf die Innerlichkeit. Sein Fazit lautet:

„The work of the kingdom is not narrowly cultic or religious; instead, it should extend into every area of life. The impact of the kingdom rule of Christ should always modify and transform a person’s worldview. We need to appreciate the merits and demerits of various millennial views. It is true that premillennialism survives best and is most beneficial to Korean Christians in times of suffering and persecution, but life is not always like that, so in the long run it may actually sow seeds of harm.“

Weiter ging es mit Pastor Charles Kim, der in den USA bei Peter Drucker gelernt hat und sich mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Wandel befasst – global wie national. Wie reagiert die Kirche auf die digitale Revolution, die – ich habe es gestern erwähnt: so gut wie jeder läuft mit Smartphone herum – überall das Kommunikationsverhalten (und erst recht das Konsumverhalten!) verändert hat, und damit auch den Lebensstil und das Verhalten vieler Menschen (z.B. Twitter und der „arabische Frühling“), ebenso das wirtschaftliche Leben: Apple ist seit Kurzem der wertvollste Konzern weltweit, Aktien werden automatisiert von Computerprogrammen gehandelt. Und so weiter…

Die Kirche in Korea ist im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts massiv gewachsen. Doch allein im vergangenen Jahr wurden hier in Seoul zehn Kirchen verkauft und in buddhistische Tempel umgewandelt. In den USA stagnieren oder schrumpfen 80% aller Gemeinden. Kim fordert ein Umdenken im Blick auf Nachwuchsförderung, Planung (weg von Projekten und Programmen), der Gestaltung geistliches Lebens, im Führungsstil (von der charismatischen Persönlichkeit – dem CEO-Modell – und hierarchischer Struktur hin zum kooperativen Stil, es wird eh weniger „Profis“ geben). Schließlich: Wir müssen alle lernen, interkulturell zu denken und mit einem globalen Horizont zu leben. Überall in Asien und anderen Schwellenländern haben sich Megachurches entwickelt, dabei aber entstehen allmählich auch hier eher „emergente“ Formen von Gemeinden. Die meisten kirchlichen Strukturen haben einen Lebenszyklus. Im Grunde sollte es die Aufgabe bestehender Gemeinden sein, neue Formen von Gemeinde hervorzubringen, statt auf Selbsterhalt zu setzen, sagt Kim.

Zuletzt sprach der Kirchengeschichtler Dr. Dong Joo Kim über das rasante Wachstum der koreanischen Kirche in den 130 Jahren ihres Bestehens: Vor 120 Jahren galt Korea als das Land der Eremiten, es war weitgehend isoliert. 1882 waren die USA das erste Land, mit dem man diplomatische Beziehungen aufnahm. Heute sieht Seoul aus wie eine westliche Großstadt.

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Vor hundert Jahren hab es in Asien 100 Länder. In Korea arbeiteten außerordentlich viele Missionare (1.500, zum Vergleich: in ganz China waren es „nur“ 6.000). Während die Chinesen als Folge des Opiumkrieges sich dem Westen entfremdeten (in Indien verlief die Entwicklung ähnlich), sah das von Japan annektierte Korea den Westen und das Christentum als Verbündete an in seinem Streben nach Unabhängigkeit.

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Die Pionier-Missionare aus den USA, Australien und Kanada leisteten (wie einst Columbanus und Bonifatius im Frankenreich) großartige Arbeit: Sie und ihre Familien brachten große Opfer – nicht selten starb ein Elternteil oder mehrere Kinder, viele wurden in Korea beerdigt und wünschten sich das auch so. Diese selbstlose Haltung hat sich in der koreanischen Kirche erhalten. Das Christentum erschien als Religion der einfachen Leute (katholische Missionare waren 100 Jahre eher da, aber vornehmlich der Oberschicht zugewandt), man übersetzte die Bibel in die Volkssprache, die Gemeinden waren auch nach der Zeit der Pioniere sehr missionarisch aktiv. Man „erbte“ aber auch die sehr konservative Theologie der Pioniere,

Das protestantische Christentum (dazu zählt auch die Pfingstbewegung) leistete einen großen Beitrag zur Modernisierung Koreas – auch weil es eine sehr praktische Ausrichtung hatte: 1910 wurden zehn der 15 Krankenhäuser im von Epidemien geplagten Korea von Missionaren geführt. Während die japanischen Besatzer kein Interesse an gebildeten Untertanen hatten, unterhielten die Kirchen zwei Drittel aller Schulen im Land und errichteten Universitäten, die ersten Waisenhäuser und Sozialstationen.

Nach dem Koreakrieg (1950-52) verdoppelte sich die Zahl der Christen noch einmal. Im ersten Kabinett Südkoreas waren viele Christen vertreten. In den Bergen wurden Gebetshäuser errichtet. Praktisch alle Denominationen in Korea hatten eine pfingstliche Ader, aber das Gebet blieb eben nichts Abgehobenes, sondern es war eingebunden in die anderen Aktivitäten und umgekehrt.

Pastor Kang von der Myungsung Presbyterian Church fügt abschließend an: Ursprünglich waren die Presbyterianer hier eher dem stillen, kontemplativen Gebet zugewandt (das war vom Buddhismus her schon vertraut), später wurde es zunehmend lauter. Das Motiv des Leidens im Evangelium war für das leidgeprüfte Volk zur Zeit der Missionare ein wichtiger Schlüssel. Heute ist Korea eine der reichsten Nationen weltweit, man ist dem Westen immer noch sehr zugetan, aber in der Konsumgesellschaft ist die Frage nach Trost und Hoffnung im Leid längst nicht mehr so präsent. Und während „Westler“, vor allem Christen, in vielen Regionen der Welt mit Misstrauen beäugt werden, finden koreanische Christen in Japan oder islamischen Ländern heute viele offene Türen vor.

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