Vom Segen der Naivität

Forscher sind der Frage nachgegangen, warum Covid-19 für ältere Menschen so viel gefährlicher ist als für Junge. Das ist für eine Pandemie ungewöhnlich. Ein Erklärungsansatz hat mit dem Immunsystem älterer Menschen zu tun. Das verfügt zwar über ein stattliches Gedächtnis, hat aber eine geringere Kapazität, sich auf ganz neue Bedrohungen einzustellen:

»Im Alter hat man zwar viele T-Gedächtniszellen für bereits durchlebte Infektionen«, sagt Cicin-Sain. »Das Problem ist aber, dass die Zahl der naiven T-Zellen, die etwas Neues erkennen, mit dem Alter klar abnimmt.«

Luka Cicin-Sain, Leiter der Forschungsgruppe Immunalterung und Chronische Infektionen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig

In dieser Krise entpuppt es sich als Vorteil, über kein Vorwissen und keine Vorerfahrungen zu verfügen und das Neue wirklich als Neues zu erkennen, nicht als Wiederkehr des schon Vertrauen und Bekannten, dem sich mit Business as Usual begegnen ließe.

Wenn Erfahrung nicht mehr ausreicht

An dieser Stelle tun sich Analogien auf: Beim Immunsystem ist diese Veränderung natürlich und altersbedingt. In unseren gesellschaftlichen Institutionen und Prozessen ist sie zwar verständlich, aber eben kein Automatismus. Fehldeutungen entstehen, wenn man Neues durch die Brille dessen betrachtet, was schon mal da war. Eine Pandemie ist zum Beispiel kein Krieg. Sie macht Amtsinhaber in einer Demokratie (oder dem, was mancherorts davon noch übrig ist) nicht zu Oberbefehlshabern, die autoritär durchregieren dürfen.

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In den nicht mehr ganz jungen Kirchen scheint mir ein ähnliches Muster erkennbar. Institutionelle Strukturen und Abläufe (Liturgien etwa) sind so etwas wie geronnene Erfahrung. Manches davon hat sich in früheren Krisen als lebensrettend erwiesen und seither gute Dienste geleistet. Leider funktioniert gerade nur noch ein Bruchteil der Kirche, wie wir sie kennen. Die Frage ist daher, wie viele „naive Zellen“ jetzt noch vorhanden sind und wie die mobilisiert werden:

Wo wird derzeit ganz naiv gefragt und überlegt, was unser Auftrag als Kirche Christi ist? Wie wir ihm mit den Mitteln und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nachkommen? Welche Endeckungen und Lösungen des 16. oder 19. Jahrhunderts heute vielleicht nicht mehr zielführend sind? Und nicht zuletzt: Selbst wenn wir eines schönen Tages uneingeschränkt zum kirchlichen Business as Usual zurückkehren könnten, sollten wir das auch tatsächlich tun?

Denkt noch jemand an Klimaschutz?

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Jüngere Menschen, das berichtete Spiegel Online letzte Woche, halten die Klimakatastrophe für deutlich gravierender als Covid-19. Einerseits nehmen sie die Warnungen und Berechnungen der Klimawissenschaftler ernster als viele aus der Generation der Eltern und Großeltern, weil sie die Folgen der Erdüberhitzung mit voller Wucht abbekommen werden. Andererseits sind sie eben auch „naiv“ genug, diese Krise als etwas völlig Neues zu erkennen. Sie erliegen nicht dem verharmlosenden Irrtum, mit ein paar kosmetischen Korrekturen sei ein Business as Usual doch wieder drin. Freilich gilt:

Klimakrise und Artensterben sind für die Menschheit weit bedrohlicher als eine zusätzliche Viruserkrankung, so bedrohlich und potenziell tödlich diese Erkrankung auch sein mag. […]Jedes weitere Extremwetterereignis, das der Menschheit vor Augen führt, was wirklich los ist, wird diese Konstellation verändern, aber das geht im Augenblick nicht schnell genug.

Christian Stöcker

Vielleicht ist die erste Seligpreisung „Selig sind die Armen im Geist“ ja auch eine Einladung, jung und naiv zu bleiben. Das ist freilich etwas ganz anderes als die Leichtgläubigkeit, mit der viele derzeit auf Gerüchte und Verschwörungstheorien abfahren. Die stellen immer nur rhetorische Fragen, wissen immer schon ganz genau Bescheid und gehen auf immer dieselben Sündenböcke los.

Zugleich besteht in der Corona-Krise auch die Möglichkeit, uns geistig zu verjüngen und für die Klimakrise zu lernen: Die Warnungen der Fachleute ernst zu nehmen. Die Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Exponentiale Kurven zu verstehen; ein Bewusstsein für Kippunkte zu entwickeln (ein Kollaps der Intensivmedizin kommt ebensowenig aus heiterem Himmel wie der des polaren Eisschilds). Sich auf Einschnitte beim Wohlstand und Konsumverhalten vorzubereiten. Soziale Folgen dieser Maßnahmen zu bedenken und sie durch aktive Umverteilung abzufedern. Der Wirtschaft klare Vorgaben zu machen, statt sie auf Teufel komm raus zu deregulieren.

Solche Dinge. Diese Mentalität. Um es mit dem grantigen Nobelpreispropheten zu sagen: May you stay forever young.

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Corona und der andere Blick für den anderen

Nach all den Tagen im Lockdown, die noch eine ganze Weile abgestuft andauern werden, merke ich, wie sich mein Gefühl für räumliche und körperliche Nähe in der Öffentlichkeit verändert. Eine Art inneres 360° Radar schlägt an, wenn andere sich auf weniger als zwei Meter annähern. Ich werde unruhig. Wer weiß, wie wir alle in einem Jahr über angenehme Distanz und unangenehme Nähe fühlen und denken?

Diese Woche war ich mit meinem Sohn laufen. Hintereinander und nicht nebeneinander, damit andere auf dem Weg gut an uns vorbei passen. Ab und zu mussten wir einen Haken schlagen. Zum Beispiel um ein Kind, das mitten auf dem Weg stand. Prompt mokierte sich der Kleine über die „blöden Männer“, die da an ihm vorbeizogen. Sogar die Kleinen stehen schon unter Strom…

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Hier und da kamen uns auf diesem Lauf Leute entgegen, und manchmal waren hinter ihnen wieder andere ein paar Schritte schneller unterwegs. Nicht jeder hält in so einem Moment die gebotenen anderthalb Meter Distanz oder wartet kurz. Manche zwängen sich hastig durch zu enge Lücken.

Ich spüre gerade, dass ich das mittlerweile als aggressives Verhalten empfinde. Beinahe wie das Auto, das mich beim Radeln mit 50 Zentimeter Abstand und 50 Kilometer Geschwindigkeitsunterschied überholt. Es gibt offenbar Menschen, für die ist jedes Bremsmanöver ein Stück Sterben.

Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die allgegenwärtige Verlangsamung, dass es manche nun auf Fuß- und Radwegen drauf ankommen lassen; nach dem Motto: Wenn es die anderen stört, werden sie schon Platz machen. Der Unterschied zum SUV-Beispiel ist freilich, dass man sich auch selbst einem erhöhten Risiko aussetzt. Menschen mit ungebremster Wucht nahe zu kommen, wird in Zukunft zunehmend als rüde empfunden werden. Und nicht alle werden mit einem Achselzucken reagieren. Nicht, weil sie Mimosen wären, sondern weil sie ihre Sinne angesichts realer Risiken neu justiert haben.

Gestern habe ich übrigens Freunde nicht erkannt, die mir auf dem Fahrrad im Wald entgegenkamen. Ich war so darauf fixiert, am äußersten Rand des Weges zu fahren. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich. Wie wird sich das verändern, wenn demnächst alle Masken tragen und man einander nur noch mit Mühe erkennt?

Was wird es künftig bedeuten, einen Blick für andere Menschen zu haben?

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Nimm’s (nicht?) persönlich: Über Baum- und Börsenpoesie

Einige von uns verbringen ja krisenbedingt mehr Zeit im Wald. Das kann den Horizont durchaus erweitern. Der Herald brachte kürzlich ein Interview mit Peter Wohlleben über dessen Anschauung von Bäumen. Der Mann wird ja immer wieder kritisiert, weil er angeblich zu menschlich von Bäumen spricht. Er beschreibt sie als soziale, kommunikative Wesen und benutzt dabei – anders als viele seiner Kollegen – Metaphern aus unserem menschlichen Miteinander. Zum Beispiel, wenn er einen Baumstumpf, der über das Wurzelgeflecht benachbarter Bäume am Leben erhalten wird, als „Ruheständler“ bezeichnet.

Freilich ist er damit eher auf der poetischen Seite des wissenschaftlichen Spektrums. Dort wird allerdings nicht weniger metaphorisch geredet. Es sind lediglich andere Metaphern, die bevorzugt werden: Mechanistische (Wohlleben nennt das „Bioroboter“) oder ökonomische Vorstellungen – Konkurrenz, Synergie, Effizienz zum Beispiel. Immer wieder ist zu lesen, diese oder Lebewesen seien darauf aus, ihre Gene so weit wie möglich zu verbreiten. Auch in solchen Formulierungen steckt eine Art Intentionalität, aber eben keine primär soziale.

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Die Ökonomen sind indes schon wieder einen (zweifelhaften) Schritt weiter in Richtung Börsenpoesie. Immer wirde mal heißt es, der DAX stemme sich gegen Risiken oder schlechte Nachrichten. Während es sicher kein Fehler ist, von Bäumen als Lebewesen zu sprechen, kann man einem Börsenindex schwerlich so etwas wie Bewusstsein oder Wille nachsagen. Der bildet nur das bunte Treiben vieler Akteure auf dem Markt ab.

Es ist also akzeptabel, vom DAX personifizierend oder vermenschlichend zu reden, aber nicht vom Wald. Ich vermute, dafür gibt es nur eine Erklärung: Er steht den meisten von uns einfach näher als die Natur. Wir erkennen uns selbst in ihm wieder (klar – er ist ja unser Geschöpf!) und wir erwarten uns von ihm mehr Trost, Hilfe und Beistand als von unseren kleinen und großen Mitgeschöpfen. Das wäre eine durchaus besorgniserregende Tendenz.

Um so mehr wünsche ich allen schöne und bewusstseinsbildende Spaziergänge im Wald. Habt keine Scheu, mal mit einem Baum zu reden. Peter Wohlleben sagt zwar, dass die Bäume uns nicht verstehen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt: Das Reden könnte uns helfen, sie wieder als Lebewesen zu sehen und nicht als Baumaterial oder stimmungsvolle Kulisse für Freizeitaktivitäten. Und das Hören auf den Wind in den Baumkronen, das Knarren der Äste, das Rascheln im Laub.

In diesen Sinn – einen gesegneten GrünDonnerstag!

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Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Distanz und Gegenwart: Clips aus dem Corona-Chaos

Das analoge soziale Leben (und mit ihm das noch deutlich analogere kirchliche Leben) steht momentan still. Die Fastenzeit hat einen ganz anderen Charakter angenommen, es geht nicht mehr um Schokolade, Fleisch oder Alkoholverzicht.

Die Beschäftigung mit dem Leiden – der Kranken, des Pflegepersonals, der Geflüchteten auf Lesbos, der Künstler und (Klein)Unternehmer, der Alleinlebenden, der psychisch Kranken, der gestrandeten Urlauber, der Familien, in denen es gerade schwierig ist (um nur ein paar Beispiele zu nennen…) – ist sehr präsent.

Ich habe, wie viele andere Kolleg*innen nah und fern (Geographie spielt da ja auf einmal eine ganz untergeordnete Rolle) in den letzten Tagen ein paar kleine Beiträge aufgenommen und hoffe, dass sie alle, die es in dieser gänzlich ungewohnten Lage brauchen können, ein bisschen aufmuntern und so ein bisschen Verbindung zu halten. Lasst gern etwas von Euch hören, entweder als Kommentar oder schickt mir eine Nachricht auf anderen Kanälen.

Passend zu manchem, was mir im Kopf herum ging, hat Hartmut Rosa diese Woche dem Philosophiemagazin gesagt:

Der räumliche Horizont beschränkt sich auf den Umkreis der Wohnung, zeitlich denken wir nur noch für ein paar Tage voraus, denn wer weiß schon, was in zwei Wochen sein wird? Das aber ändert die Art und Weise unserer Weltbeziehung: Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus. Wir haben Zeit. Wir können plötzlich hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht: Vielleicht hören wir wirklich die Vögel und sehen die Blumen und grüßen die Nachbarn. Hören und Antworten (statt beherrschen und kontrollieren): Das ist der Beginn eines Resonanzverhältnisses, und daraus, genau daraus kann Neues entstehen.

Hartmut Rosa

Und Slavoj Zizek schreibt dort, auch sehr passend: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahestehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“

und dazu gehört als Soundtrack noch:

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Die Seligpreisungen im Licht von COVID-19

In den letzten Tagen haben mich immer wieder Stücke aus der Bergpredigt beschäftigt, zum Beispiel die Worte vom Sorgen und vom Beten. So fing ich an, darüber nachzudenken, wie man die Seligpreisungen für heute umformulieren müsste. Zuerst dachte ich an Sätze wie

  • Selig, die keine Vorräte bunkern
  • Selig, die Abstand halten
  • Selig, die keine Gerüchte, Verschwörungstheorien und Fake News streuen

Doch dann merkte ich dass der moralisierende Charakter gar nicht zum Original passt. Jesus lobt ja nicht bestimmte Haltungen, die Menschen für eine besondere Rolle in Gottes Plan und Reich qualifizieren. Sondern er beschreibt Gruppen von Personen und Zustände, die von ihren Zeitgenossen gerade nicht als vom Glück verwöhnt gepriesen wurden: Die Armen, die „Minderbemittelten“, die Wehrlosen, die Trauernden. Oder jene, die als Friedensstifter zwischen allen Stühlen sitzen.

Müsste da heute eher so etwas stehen wie…

  • Selig, die gern in den Arm genommen werden würden
  • Selig, die vor leeren Regalen stehen
  • Selig die Erschöpften und Überforderten
  • Selig, die nicht wissen, wie sie Miete, Rechnungen und Angestellte bezahlen sollen
  • Selig, die sich auch noch den Kummer der anderen anhören
Photo by Nathan Dumlao on Unsplash

Denn genau da ist Gott mit euch. Obwohl ihr es vermutlich nicht (oder nicht immer) spürt. Und mitten in dieser Beuruhigung, dem Durcheinander, der Ratlosigkeit wird die Saat ausgestreut für Neues – für etwas Heilsames und Lebensfördendes. Und auch wenn es noch dauert: Der Tag wird kommen, an dem ihr die Früchte dessen seht und genießt.

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Plakatives zur Kommunalwahl

Das Plakat Erlanger CSU zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag passt doch wie die Faust aufs Auge in diesen Corona-Tagen, in denen nicht alle, aber erstaunlich viele sich selbst die Nächsten sind. Tage, in denen besorgte Mitbürger Klopapier und Nudeln hamstern, während aus den Kliniken Desinfektionsmittel und Atemmasken geklaut werden. Und die CSU verspricht mir Folgendes:

Kann man schwer unkommentiert stehen lassen, das fanden offenbar auch andere…

Eine Stadt, in der sich alles um mich dreht: Das Paradies aller Narzissten, Monaden und Egozentriker. In der Praxis zu gleichen Teilen asozialer Albtraum und absurde Ansage: Keine Zugeständnisse, keine Kompromisse, keine Rücksichtnahme, keine Verantwortung für andere. Anders lässt sich der Slogan kaum verstehen.

Nur: So kann ja kein Gemeinwesen existieren. Der Appell ans Reptilienhirn ist auch nicht ansatzweise visionär. Die FDP schreibt „Eine Chance für die Vernunft“ auf ihre Plakate und zielt ein paar Etagen höher. Aber wer weiß, ob damit nicht wieder nur das Vernunftmonopol der Lindner’schen Profis gemeint ist?

Immerhin gibt es klare – und ja, vernünftige – Alternativen: Das Motto „Eine Stadt für alle“ des amtierenden OB kommt vielleicht ein wenig idealistisch daher, aber die Richtung stimmt. Und die Grünen formulieren etwas nüchterner: „Für ein offenes Miteinander. #sozialestadt“.

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Christen und das Klima

Die Nachbargemeinde Altenfurt hat eine dreiteilige Passions-Predigtreihe auf die Beine gestellt, die einen Bogen vom Karfreitag zu Fridays for Future schlägt (oder umgekehrt): Klimakrise als Leidens- und Hoffnungsgeschichte quasi.

Photo by Jack Bassingthwaighte on Unsplash

Ich war gestern mit der ersten Predigt dran und habe in der Bibel erst ganz weit vorne gebuddelt, dann ganz hinten. Was ist echter Trost, was falscher? Wie apokalyptisch und alarmistisch darf (oder muss?) man sein? Und wovon handelt die biblische Apokalyptik eigentlich? Und was hat sie mit unserer Gegenwart zu tun?

Auch wenn ich die üblichen 15 Minuten deutlich überschritten habe, konnte ich manches dabei nur anreißen. Wir haben im Anschluss noch munter diskutiert. Ich bin gespannt, wie es weitergeht in Altenfurt.

Für Euch und alle, die Lust haben, habe ich den Aufnahmeknopf gedrückt. Hier ist der Mitschnitt:

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Verschnaufpause

Heute musste man im Wald weder Wind- noch Schneebruch befürchten, also ging ich in der Nachmittagssonne eine Runde laufen. Die Forstverwaltung hat im Herbst ein paar neue Tümpel im Buckenhofer Forst angelegt, die sich nun zum ersten Mal überhaupt mit Wasser füllen. Der Februar 2020 war (so die Werte für Nürnberg, Erlangen hat noch etwas mehr Niederschlag abbekommen) 4,4 Grad zu warm, aber er brachte auch 267% der üblichen Regenmenge. Nach zwei sehr trockenen Jahren ist das ein bisschen Rückkehr zur Normalität (falls man davon überhaupt noch reden kann).

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Ich stand eine Weile am Ufer und schaute zu, wie sich Himmel und Sonne still und friedlich im Wasser spiegelten. Ein Entenpärchen hatte den Ort entdeckt und sich auf dem Wasser niedergelassen.

Während ich da stand, merkte ich, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig über den Sonnenschein freuen konnte. Nach dem ausgiebigen Regen ist er erst einmal keine Bedrohung für die angeschlagene Vegetation. Und die Erinnerung an Staub und Hitze der beiden letzten Sommer ist auch ein bisschen verblasst.

Es war eine schöne Verschnaufpause. Und doch wird es wohl nur eine Pause bleiben, denn die Erhitzung des Planeten hat schon so dramatisch zugenommen. Zurückdrehen lässt sie sich nicht, bestenfalls verlangsamen. Nicht nur die Bolsonaros, Trumps und Morrisons dieser Welt, sondern auch die Scheuers, Lindners und Altmeiers, die Bleifüße, Kreuzfahrer und Vielflieger hierzulande und anderswo werden sich allerdings so leicht umstimmen lassen.

Als ich mich zuhause hinsetzte, las ich die folgenden Sätze zum Leben mit und nach dem Klimawandel. Sie klingen wie eine Anleitung für die Fastenzeit, allerdings mit einem Zeithorizont, der sieben Wochen weit überschreitet:

So trivial es klingt, es wird wichtig sein, zu lernen, mit dem Wenigen, knappen Lebensmitteln und beschränkten Mitteln des täglichen Bedarfs klarzukommen. Es wird darauf ankommen, einfachste Techniken zu beherrschen, mit denen unsere Vorfahren ihr Leben gemeistert haben, handwerkliche Fähigkeiten, Basis-Techniken des Überlebens, Hilfe in der Nachbarschaft, Zusammenhalt im Freundeskreis und in der Familie.

Jörg Friedrich in telepolis

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Halbzeit

Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…

Photo by Agê Barros on Unsplash

In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.

Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.

Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.

Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.

Von mir aus darf es feste weiterknistern…

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Rebellisch Beten

In den zurückliegenden Wochen hat mich die Frage nach dem Gebet beschäftigt: Was geschieht, wenn Menschen beten? Der Schauspieler August Diehl berichtete kürzlich von der Vorbereitung auf seine Rolle als christlicher Widerstandskämpfer Franz Jägerstätter in „Ein verborgenes Leben“. Seine Erfahrung zeigt, dass man diese Frage eigentlich nur praktisch beantworten kann:

Ich bin in Kirchen gegangen und habe mich gezwungen zu beten. Zuvor hatte ich das noch nie getan, eine unglaubliche Erfahrung. Am Anfang habe ich mich lächerlich gefühlt. Aber diese Lektüre verströmt eine wahnsinnige Kraft – selbst dann, wenn man sie für sinnlos hält. Das Vaterunser ist ein unglaublicher Text, beinahe wie ein Mantra.

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Das Gebet ist auch ein zentrales Thema für Johann Baptist Metz in seinem 2017 erschienenen Band „Memoria Passionis“. Für Metz hat die Gebetssprache Vorrang vor der abwägenden Sprache der Theologie. Das gilt auch und besonders dann, wenn sie nur ein Schrei, selbst ein stummer Schrei ist. So beschreibt Metz sein eigenes Schlüsselerlebnis – den traumatischen Moment als 16jähriger Soldat kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, der seine Kameraden tot auffindet: „Seitdem gibt es für mich Rückfragen an Gott, an den Gott Abrahams, isaaks und Jakobs, an den Gott Jesu, Rückfragen, für die ich zwar eine Sprache habe, aber keine Antworten. Und so habe ich sie mir als Gebete zu eigen gemacht.“

Was Metz über diese Art des Gebets zu sagen hat, finde ich bemerkenswert tröstlich und hilfreich angesichts der vielen Anlässe für laute oder stumme Schreie (vom zigtausendfachen Gemetzel in Idlib über den rechten Terror von Hanau bis zum „doomsday glacier“ in der Antarktis), die uns die letzten Tage und Wochen beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden.

Christen müssen darauf achten, dass der Kern der großen religiösen Sprachformen – vor allem auch die der Bibel – eine Leidens- und Krisensprache ist. Das ist deswegen so wichtig, weil die Glut der Theodizeefrage auch heute nicht erloschen ist.

Diese Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Als solche ist sie viel widerstandsfähiger, viel weniger geschmeidig und anpassungsbereit, viel weniger vergesslich als die zumeist idealistische Sprache, in der die Theologie sich bei ihrer Gottesrede um Modernitätsverträglichkeit bemüht und mit der sie ihre Verblüffungsfestigkeit gegenüber allen Katastrophen und allen leidvollen Erfahrungen der Nichtidentität probt.

Diese Gebetssprache ist weitaus risikofreudiger als der Logos der Theologie. Sie kennt die unglaubliche Bandbreite der Verrätselungen der menschlichen Existenz und deren Fragwürdigkeit im Blick auf Gott. Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort „Gebet“ nicht gäbe. Die Gebetssprache ist die einzige Sprache ohne Sprachverbote. Sie ist umfassender als die Spache des seiner selbst gewissen Glaubens. In ihr kann man auch sagen, dass man nicht glauben kann.

Vielleicht ist es ja das, was August Diehl gespürt hat, als er sich in das Leben des betenden Rebellen einfühlte. Und unsere Aufgabe in den verschiedenen Kirchen, diesen Aspekt – Fragen und Klagen, Schreien und Schweigen – wieder neu ins Zentrum zu rücken. Diese unglaubliche Erfahrung könnte vielen gut tun.

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Der Mut zum Schrei

Das Jahr 2020 ist schon ein paar Wochen jung und mit ihm die Jahreslosung aus Markus 9. Ich habe nochmal einen Blick darauf geworfen und das in erzählender Form hier festgehalten. Gründe für einen verzweifelten Aufschrei gibt es gerade täglich neu, im Großen wie im Kleinen. Und genau da liegt womöglich die Hoffnung.

Wir haben es nicht gleich gemerkt, dass unser Sohn nicht so ist wie andere Kinder. Das erste, was uns auffiel, war, dass er nicht reagierte, wenn wir mit ihm redeten. Als ob eine unsichtbar Hand ihm Ohren und Mund zuhielt. Er fing später an zu laufen als Gleichaltrige, aber es gab immer wieder unerklärliche Stürze. Als ob eine unsichtbare Hand ihm plötzlich einen Schubs gab. Keine Sekunde konnten wir ihn aus den Augen lassen. Ohne die Hilfe von Nachbarn und Familie hätte es schon längst tödlich ausgehen können. Der nächste Brunnen und das nächste Herdfeuer sind immer nur ein paar Schritte entfernt.

Irgendwann sind dann auch unsere Klagen verstummt. Hilft ja nichts. Es muss halt irgendwie weitergehen. Manchmal höre ich meine Frau nachts weinen. Ich wage nicht, sie zu trösten, weil sie dann vielleicht noch viel schlimmer weint, und dann wachen die Kinder auf, und am Ende weine ich auch noch mit. Einer muss doch stark bleiben. Einer muss das Gleichgewicht halten, wenn alles aus dem Lot ist.

Aber dann zog dieser Prophet durch die Dörfer in der Nähe. Einer vom alten Schlag wie Elija und Elischa, der Wunderkräfte hatte. So hörte ich es jedenfalls. Also nahm ich den Jungen eines Tages an der Hand und wir machten uns auf die Suche. Wir stießen am Fuß des Berges Tabor auf eine Gruppe seiner Nachfolger. Der Meister, sagten sie, habe sie beauftragt, die Kranken zu heilen. Und es schien zu funktionieren!

Bis sie es mit meinem Kind versuchten. Sie versuchten es drohend und flehend, mit stillen und lauten Gebeten, und ich sah allmählich dieselbe Erschöpfung in ihren Augen wie in den Augen meiner Frau. Plötzlich hörte ich Stimmen näherkommen. Der Meister war zurück. Niemand musste mir erklären, wer der Mann war. Irgendwie leuchtete er von innen heraus, als hätte er da oben mehr Sonne in sich aufgenommen als wir anderen. 

Aber als er zu reden anfing, erstickten seine Worte meine aufkeimende Hoffnung mit einem Schlag. Unwirsch tadelte er seine Leute für ihre Unbeholfenheit. Die zogen die Köpfe ein und sagten nichts. Ich schaute zu meinem Sohn hinüber, den die unsichtbare Hand gerade wieder heftig zu schütteln begann. Und ich sah, dass Jesus – der Prophet – ihn auch ansah. Unsere Blicke begegneten sich. Er fragte, wie lange das schon so geht. Ich erzählte es ihm so, wie ich es euch gesagt habe. Und dann brach es aus mir heraus: „Hilf ihm doch, wenn du kannst!“ Denn nach so viel Erschöpfung und Enttäuschung wagt das Herz nicht mehr, rückhaltslos zu hoffen.

Photo by brut carniollus on Unsplash

„Wenn du kannst?“, wiederholte er und sah mich herausfordernd an – hatte ich ihn in seiner Ehre gekränkt? Dann sagte er: „Alles ist möglich, wenn einer glaubt“ Was das eine Ohrfeige für mich oder die ausgestreckte Hand? In seiner Stimme lag eine Gewissheit, die allen anderen fehlte. Ich schluckte den Drang herunter, ihn zu besänftigen oder mich zu rechtfertigen. Stattdessen fiel mir ein: „Gott hilft“ – das sagt doch schon der Name Jeschua. Und da brach es aus mir heraus: Ein heiserer Schrei, in dem das Weinen meiner Frau, die Alarmrufe der Nachbarn und das unartikulierte Stöhnen meines Sohnes, wenn er sich verletzt hatte, mitschwang und meine eigene Sprachlosigkeit durchbrach: 

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“

Dann wollte ich mich nur noch neben meinen Sohn auf den Boden legen und nie wieder aufstehen. Aber zu meiner grenzenlosen Überraschung sah sich der Mann Gottes kurz um, beugte sich zu ihm hinunter und begann mit fester Stimme zu sprechen. Und ob ihr es glaubt oder nicht, ich konnte sehen, wie sich der Griff der unsichtbaren Hand löste, Finger um Finger. Schließlich lag er regungslos vor uns; so völlig entspannt, dass ich kurz dachte, er sei tot. Aber dann packte Jesus ihn an der Hand – und er stand auf! 

Jesus war schon weg, als ich endlich den Blick abwenden konnte von dem Menschenskind, das aufrecht und frei vor mir stand. Gott hat geholfen. Wir gingen zusammen nach Hause. Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Aber diesmal nicht aus Sorge, sondern weil ich meinen Blick nicht losreißen konnte von dem Wunder.

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Jona, der Brexit und die Zukunft in stürmischen Zeiten

Am vergangenen Sonntag habe ich in der Predigtreihe „Heldengeschichten“ über den Propheten Jona gesprochen – vielleicht die größte Witzfigur in der Bibel.

Die Jona-Geschichte ist nicht nur bissig, sondern auch aktuell. Zum Ende dieser Woche kommt ja nun der Brexit – und da gibt es eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Gemütslage heutiger Engländer und des Propheten vor Ninive.

Der bockige Prophet – Predigt vom 26. Januar 2020

Im Spiegel beider Geschichten lässt sich dann auch ein Blick auf uns selbst werfen. Wir Wirtschaftswunderkinder stehen vor der Aufgabe, einen Weg in die Postwachstumsgesellschaft zu finden. Der Seegang wird rauer. Doch auch da hilft die Konfrontation zwischen Gott und Jona weiter.

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Zu viele Engel

Ein paar Tage nach Weihnachten flatterte mir ein Text über Engel auf den Tisch – noch einer! Diese Engelbande hatte mich schon den ganzen Advent über genervt mit ihrer harmonischen Harmlosigkeit. 

Engel dichten die Lecks der Wohlstandsgesellschaft ab: Sie verglitzern die Sinn-Lücken des Überkonsums, indem sie so etwas simulieren wie Transzendenz, Himmel und Heiligkeit. Und das ganz ohne bohrende Fragen. 

Sie dekorieren die Sicherheitslücken unseres Lebens in der Gestalt von Schutzengeln. Sie helfen uns zu vergessen, wie endlich und verwundbar wir sind. So können wir angesichts all der Kranken, der Katastrophenopfer, der Toten, der unschuldig Leidenden immer noch süß schlafen.

Photo by Zoltan Tasi on Unsplash

Diese Engel sind eine Art persönlicher himmlischer Butler. Sie tragen ihren Schützling auf Händen und packen ihn in Watte – der Traum aller Helikoptereltern! Sie sagen nichts mehr über Gott und alles über uns. Wir fühlen uns mit Engeln ja so viel wohler. Sie verlangen nichts von uns, sie durchkreuzen keine Pläne und sie fragen nicht „Wo ist dein Bruder?“

Vielleicht hat Jesus ja deshalb Engel-Eskorten abgelehnt, sich lieber die Hände schmutzig gemacht und sich anspucken lassen.

Warum sagen die echten Engel eigentlich als erstes immer „Fürchte dich nicht?“ Weil sie im nächsten Satz von Gott reden, anstatt unsere Bestellungen aufzunehmen. Und weil es ihrem Gegenüber gerade dämmert, dass es mit dem ruhigen Leben und geflegten Händen jetzt vorbei ist. 

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Viel Vernunft im Wagen

So ein S-Bahn-Zug bringt die unterschiedlichsten Charaktere zusammen. Oft nur still, aber hin und wieder auch hörbar. Letzte Woche war die abendliche Bahn gut gefüllt. Kurz vor Abfahrt am Hauptbahnhof stieg noch jemand zu und suchte einen Platz. Es gab hier und da noch freie Sitze, allerdings nicht im Bereich für Kinderwägen und Fahrräder. Da standen schon zwei Drahtesel.

Der Mann begann die Mitreisenden zu fragen, ob man die beiden Fahrräder nicht zusammenstellen könnte, um weitere Sitzplätze frei zu bekommen. Als er keine Reaktion bekam, sagte er laut und mit hörbar osteuropäischem Akzent „Scheiß Fahrräder!“. Worauf ein brummiger, korpulenter Franke prompt – noch lauter – mit einem „Scheiß Ausländer!“ antwortete.

Die anwesende Pendler-Community reagierte routiniert mit Deeskalation. Etliche Passagiere boten dem Osteuropäer einen Platz neben sich an und widersprachen damit dem fremdenfeindlichen Polterer. Der Fahrradmuffel allerdings schmollte und blieb lieber stehen. In Erlangen dürfte er dann seinen Klappsitz bekommen haben. Da steigen die meisten Radfahrer nämlich aus. Ich hingegen war froh, dass ich das Rad nicht im vollen Zug dabei, sondern am Bahnhof geparkt hatte. Und ein bisschen stolz, dass neben den zwei Hitzköpfen so viel Vernunft im Wagen war.

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