Nur ein New Deal hilft weiter

Nicht jede Krise wird zum Kollaps. Einige aber schon. So geschehen zur Zeit des Propheten Jeremia. Gott antwortet darauf mit einem New Deal. Kann uns das – zweieinhalb Jahrtausende später und mitten in einer Pandemie – konstruktiv weiterbringen?

Wie kann Neues werden? Wie müsste es sich vom Bisherigen unterscheiden? Und welche Rolle spielen wir alle miteinander dabei?

Wer gestern nicht in die Auferstehungskirche kommen konnte, findet hier ein paar Anregungen für die Woche vor Pfingsten (und darüber hinaus).

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Angespannte Atmosphäre

Als ich vor 14 Tagen zum ersten mal seit Wochen wieder in einem Zug saß, erinnerte die Stimme aus dem Lautsprecher an die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen. Auf DB-Englisch hieß das dann „please cover your mouse and nose“. Ein paar Fahrgäste schräg gegenüber hatten das offenbar weder auf Deutsch noch auf Englisch verstanden. Ihr Mundschutz baumelte unterm Kinn, damit sie sich besser unterhalten konnten.

Zwei Welten

Dieses Gefühl, in zwei Welten gleichzeitig zu leben, werde ich gerade nicht los. Da ist die Welt der Behutsamen und Verantwortungsbewussten. Diese Woche tauschte sich unser Pfarrkapitel über Hygienemaßnahmen aus. Sie sind oft beschwerlich einzuhalten, es gibt Änderungen in kurzer Abfolge und immer wieder stellt sich die Frage, ob das bisher übervorsichtig war oder inzwischen schon wieder fahrlässig ist. Aber alle sind sich einig darin, dass wir die geltenden Regeln einhalten und niemanden gefährden wollen. Die meisten haben mit Menschen aus Risikogruppen zu tun, manche gehören selber dazu.

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Auf dem Heimweg komme ich an einer Imbissbude vorbei, die auf dem Parkplatz eines Baumarktes steht. Die Kund*innen stehen alle mit Gesichtsbedeckung an, drinnen hängt zwei fröhlichen Mitarbeitern der Mundschutz lässig unterm Stoppelbart. Als ich einen darauf anspreche, sagt er, es sei halt einfach zu warm dafür. Als wäre das eine Empfehlung, der man nur so lange zu folgen braucht, wie es einen nicht stört. Er zieht den Mundschutz widerwillig ein Stück hoch, aber die Nase schaut immer noch heraus. Es ist nicht das erste Mal, dass mir diese Reaktion begegnet. Letzte Woche grinste mich das Personal eines anderen Straßenverkaufs ebenso unverhüllt wie unverhohlen an und fragte, ob ich denn ernsthaft glaube, was die Regierung sagt.

Der garstige breite Graben

Ab und zu überrascht mich diese Spaltung auch im Bekanntenkreis. Da wird natürlich wie überall munter diskutiert und die einen drängen auf mehr Lockerungen während andere das Risiko einer zweiten Welle im Blick haben. Doch dann gibt es vereinzelt Stimmen, die offenbar jegliches Vertrauen in Politik, öffentliche Institutionen und gesellschaftliche Diskurse verloren haben. Zugleich aber berufen sie sich auf „Forschungs“-Websites ohne Impressum und obskure Youtube-Experten, die alles viel besser wissen als Christian Drosten und das RKI. Und werfen mir vor, ich würde unkritisch den Mainstream nachplappern statt differenziert und selbständig zu denken. Da stehen wir nun vor dem garstigen breiten Graben. Bei Lessing verläuft er zwischen Glaube und Vernunft. Ist es heute Verschwörungsglaube und Vernunft? Hilft diese Polarität überhaupt noch weiter?

Brüche über Brüche

Seit ein paar Jahren scheint jede neue Krise neue garstige Gräben mit sich zu bringen. Ich denke an Gespräche mit einem Bekannten, er links und Agnostiker, ich grün und Theologe, genug gemeinsame Perspektive auf das Leben für lange, gute Gespräche. Irgendwann entdeckte er das Thema „Islamkritik“ und die Verständigung wurde zusehends schwieriger. Nach 2015 ging dann gar nichts mehr. Der Bruch lag quer zur alten Frontstellung von konservativ und progressiv, wie auch dem jüngeren Antagonismus von Kapitalismuskritik und Neoliberalismus. Freilich profitierte die extreme Rechte enorm von der neuen Entfremdung. Auch deshalb, weil (das soll hier nicht unerwähnt bleiben) zahlreiche Vertreter „bürgerlicher“ Parteien (sprich: Union und FDP) versuchten, aus den Ressentiments gegen Zuwanderer und Muslime Kapital zu schlagen.

Die nahende Klimakatastrophe brachte die nächste Spaltung. So weit ich sehe, hat sich das rechte Lager weitgehend geschlossen auf der Seite der Klimaleugner versammelt. Aber es bildeten sich zusätzliche Empörungsbrüche, bei denen nun auch Alter und Geschlecht eine Rolle spielten. Kein Wunder, das Ganze fiel ja in die Ära narzisstischer Alpha-Männchen mit problematischen Beziehungen zu Frauen, zur Gewaltenteilung und zur Wahrheit.

Die Gretas und Luisas von Fridays for Future hören auch dann, wenn es ihrem Anliegen kurzfristig schadet, auf die Wissenschaften. Sie protestierten daher während der letzten Wochen im Netz. Doch nun kapern andere die verwaiste Bühne. Sie beklagen die große Freiheitsberaubung unter dem Deckmantel des Seuchenschutzes. Und wieder sind es vor allem Männer, die die Welt „retten“: Attila Hildmann, Sido, Gerhard Ludwig Müller. Eben wurde noch vor der drohenden Ökodiktatur gewarnt, jetzt ist auf einmal das Virus der Knüppel der Herrschenden. Eine neue Echokammer tut sich auf. Und wieder verlieren wir ein paar Mitstreiter, weil die den Corona-Knoten lieber durchschlagen würden als sich auf mühsame Diskussionen und langwierige Prozesse einzulassen. Sie haben nach zwei Monaten Krise und Verunsicherung schon wieder den Boden absoluter Wahrheiten unter den Füßen. Und erleben nach dem Stillhalten im Lockdown wieder das gute Gefühl von Selbstwirksamkeit.

Vernunft im Rückwärtsgang

Bei „Swiss Propaganda Research“ berufen sich die anonymen Betreiber und Autoren auf die Vernunft, indem sie aus einem NZZ-Interview mit Slavoj Žižek (für seine Bücher hat’s leider nicht gereicht) zitieren: »Das Großartige an der Aufklärung bestand ja von Anfang an darin, dass rationale Argumente ihren Wert unabhängig davon haben, wer sie äußert.« Freilich stellen sie damit Žižeks Intention auf den Kopf. Der meinte, dass alle Menschen verdienen, gehört zu werden – auch die, die keine Macht und keinen Status haben. Hier dient das Zitat als Vorwand, die Selbstdarstellung als „Fachleute“ jeglicher Überprüfung von außen zu entziehen. Auf den Status legen die Unkenrufer also durchaus Wert. Aber wie Donald Trump scheuen sie davor zurück, echte Verantwortung für ihre Aussagen zu übernehmen. Im Grunde machen sie die Gleichung auf anonym = rational/glaubwürdig – und die Gegengleichung etabliert = irreführend/unglaubwürdig. Das ist – mit Nils Markward gesprochen – eine Form von relativistischer Denunziation, die nur noch Meinungen kennt und überall niedrige Motive unterstellt.

Žižeks letzter Satz an seinen neoliberalen Gesprächspartner aus der Steueroase lautete übrigens ebenso passend wie ernüchternd: „Wir leben – sorry – in ziemlich beschissenen Zeiten.“ Der grimmige Ausblick trifft auch jetzt noch zu, vier Jahre später. Weil die Klimakrise ja nicht verschwunden sein wird, wenn Covid-19 irgendwann gebändigt wurde. Sie wird selbst bei mildem Verlauf, der kaum noch erreichbar scheint, mehr Menschen betreffen und deutlich länger anhalten als ein paar Jahre. Wenn wir uns jetzt nicht einmal kurzfristig zusammenraufen können, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie wird es dann erst aussehen? Wer demonstriert nach all dem falschen Alarm noch, wenn die Demokratie eines Tages wirklich in Gefahr ist?

Düstere Aussichten?

George Packer beschrieb die Lage in den USA kürzlich so: „Im ganzen Land eine von Zynismus und Erschöpfung geprägte Stimmung, ohne jegliche Vision einer gemeinsamen Identität oder Zukunft.“ Davon sind wir zum Glück noch ein ganzes Stück entfernt. Merkel und Steinmeier sind erfreulich anders als Trump. In Bund und Ländern sind Parteien und Mandatsträger zu Koalitionen und zur Kooperation fähig und nicht nur auf Krawall gebürstet. Ehrlich: Wie kann man noch von Corona-Diktatur schwadronieren, wenn man dieses Interview mit Bodo Ramelow liest?

Aber Zynismus und Erschöpfung nehmen auch unter uns zu. Die Ohnmachtsgefühle angesichts der von all diesen garstigen breiten Gräben zerfurchten Gesellschaft machen müde und mutlos. Am Vernünftigsten ist es wohl, nicht allzu viel Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit zu verbrennen im Umgang mit Meinungen, die wir offenbar nicht ändern können, und Geraune, das aus dubiosen Quellen aufsteigt.

Hygiene für den gestressten Geist

Ein anderer Kommentar aus diesen Tagen brachte es für mich gut auf den Punkt:

Die zentrale Frage der nächsten Monate lautet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht: Wie bescheuert sind eigentlich diese Aluhutträger? Sondern vielmehr: Wie vertrauenswürdig, ehrlich, gewaltfrei und ernsthaft solidarisch wird sich der angeblich aufgeklärte Rest verhalten?

Anselm Neft

Und da sind durchaus Überraschungen möglich. Heute kam eine solche von Sven Giegold aus dem Europäischen Parlament: Eine breite Mehrheit der Abgeordneten sprach sich für einen solidarischen Corona-Wiederaufbaufonds aus, der den Green New Deal unterstützt.

Und mir fällt auf einmal ein Satz aus dem Philipperbrief ein. Paulus hatte in seiner noch jungen Bewegung mit Spaltungen, Misstrauen und Rivalität zu kämpfen. Seine apostolische Version des „please cover your mouse and nose“ – was wir aus der belasteten Atmosphäre aufnehmen und in sie abgeben – lautet so:

Was wahr ist, was achtenswert, was gerecht, was lauter, was wohlgefällig, was angesehen, wenn immer etwas taugt und Lob verdient, das bedenkt!

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Ein Denkmal für die Sehnsucht

Mein Arbeitszimmer ist so aufgeräumt wie schon Jahre nicht mehr: In der Isolation der letzten Wochen (und mit viel mehr Vorlauf als gewohnt) eine Predigt zu schreiben, ließ jedes Staubkorn interessant erscheinen. Dass gefühlt alles gerade im Ungewissen und in der Schwebe ist, macht es schwer, etwas zu niederzuschreiben, ohne es umgehend wieder unter Vorbehalt zu stellen. Aber irgendwann klärten sich die Gedanken und die Worte auf dem Bildschirm dann doch.
Die Ausnahmesituation setzt sich beim Sprechen im sterilen Studio fort: Keine Gemeinde vor Augen, kein Tageslicht, schalltoter Raum. Dank der moralischen und fachlichen Unterstützung von Melitta Müller-Hansen ließ sich zum Glück noch etwas Restadrenalin mobilisieren. Und die ersten Rückmeldungen waren ganz positiv. Aber hört (oder lest) selbst, wenn Ihr mögt…

Der rastlos Reisende sitzt fest. Paulus, der Apostel, hat gerade einen Gefängnisaufenthalt überstanden. Und jetzt muss er in Athen schon wieder warten, bis sein Team nachkommt. Erst dann kann es weitergehen übers Meer. Nun sitzt er am Hafen von Piräus, und sieht, wie die Schiffe an- und ablegen. So wie ich in den letzten Wochen den wenigen Flugzeugen am Himmel hinterhergeschaut habe. Voller Fernweh. Und voller Ungeduld: Wann werde ich mich wieder wie gewohnt frei bewegen können? Reisen? Besuche machen?

Irgendwann entschließt Paulus sich, in die Stadt zu gehen. Athen im ersten Jahrhundert nach Christus, das ist so eine Art Weimar des römischen Reiches. Politisch und wirtschaftlich unbedeutend, aber voller Erinnerungen an ein goldenes Zeitalter der Kunst und Philosophie. Und die Wiege der Demokratie – auch wenn das schon längst wieder Geschichte ist.

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Kein ganz einfaches Pflaster

Dieses Athen bietet großartige Architektur, wohin man auch schaut. Als Tourist oder Flaneur käme Paulus jetzt voll auf seine Kosten. Aber er sucht nicht den Kunstgenuss, sondern Gott auf den Straßen und Plätzen. Sein Blick fällt auf die zahllosen Götterbilder und Tempel. Er sieht sie nicht nur als kulturgeschichtliche Attraktionen. Für ihn sind sie in Stein gemeißelte Machtverhältnisse. Die Götter des Olymp sind Sinnbilder der antiken Klassengesellschaft: Freie stehen über den Sklaven, Männer über den Frauen, Eingesessene über den Zugewanderten. Diese Götter sind Schutzmächte jenes Systems, in dessen Namen er kürzlich erst verhaftet und ausgepeitscht wurde.

Auf dem Marktplatz, wo einst schon Sokrates die Passanten mit seinen Fragen nervte, kommt Paulus ins Gespräch mit den Einheimischen. Gebildet sind sie und kunstbeflissen, die Athener. Kritik und Skepsis wurden hier erfunden und in alle Welt exportiert. An die alten Göttermythen indes glaubt hier kaum noch einer. Eher, dass die Vernunft es möglich macht, sich dem Wahren, Guten und Schönen zuzuwenden. 

Ein bisschen verwöhnt sind sie auch. Jeden Augenblick könnte eine antike Version des Philosophen Richard David Precht um die Ecke kommen – gutaussehend, wohlsituiert und eloquent. Wahrheitssuche darf in Athen gern unterhaltsam sein: „Wo du schon mal da bist: Beeindrucke uns, wenn du kannst!“, sagen die Gesten und Gesichter. „Was hast du zu sagen über Gott und den Kosmos? Über das Glück und das tugendhafte Leben?“

Der Newcomer Paulus schlägt sich in seiner ersten Diskussion auf dem Markt in Athen so gut, dass er zur Begutachtung auf den Areopag geladen wird. Hier, unterhalb der Akropolis wird nicht Smalltalk, sondern Politik gemacht und Recht gesprochen. Es wird ernst:

Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.

Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, dass sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. 

 (Apg 17, 22-28)

Die Anspannung, der Missmut und die Ungeduld über das unfreiwillige Warten erscheinen wie weggeblasen, als Paulus zu dieser Rede ansetzt. Ich bin ein bisschen beschämt darüber. Wie oft ist mir das in den zurückliegenden Wochen nicht gelungen, meine Verstimmung über die ernste bis deprimierende Corona-Pandemie aus persönlichen Gesprächen herauszuhalten? Auch wenn völlig klar ist, dass mein Gegenüber genauso unter der Situation leidet und ebensowenig dafür kann wie ich. Ich spüre, wie ich einsilbiger werde, wenn ich genervt bin.

Paulus hingegen schimpft und droht nicht, er zieht sich aber auch nicht zurück. Er hat etwas Positives entdeckt, etwas Verbindendes. Und das rückt er jetzt in den Mittelpunkt. Hat ihn das Kraft gekostet? Ich stelle mir vor, wie er auf dem Weg vom Markt zum Areopag tief durchatmet. Wie er ein Stoßgebet um die richtigen Worte zum Himmel schickt. Wie er in Gedanken nach dem richtigen Einstieg sucht und plötzlich diesen Moment vor Augen hat: Auf seinem Streifzug durch Athen steht er vor dem Altar eines unbekannten Gottes. Ohne die üblichen Bilder, ohne klangvollen Namen. Welches Geheimnis verbirgt sich hier?

Gott als Joker?

In Athen gibt es für alles einen Gott. Selbst für das, was man nicht bedacht hat. So gesehen ist dieser Altar für den unbekannten Gott wie der Joker in einem Kartenspiel, der für jede beliebige andere Karte zum Einsatz kommen kann. Ich denke an Dietrich Bonhoeffer, der vor 75 Jahren ermordet wurde. Er hat es abgelehnt, Gott als Joker zu benutzen. Ihn als „Gott der Lücken“ ins Reich des Unerklärlichen, Unbeherrschbaren und Übernatürlichen abzuschieben. Da erfüllt er durchaus noch seinen Zweck, da brauchen wir ihn noch: An den Außengrenzen, wo wir nicht weiterwissen, absolut ratlos sind, wo nichts mehr beherrschbar oder berechenbar ist. Da brauchen wir ihn als „Gott der Lücken“, um uns abzusichern. Zugleich aber überlassen wir das Alltägliche, das Natürliche, das Politische und alles Zwischenmenschliche sich selbst. 

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Die Lücken in unserem Wissen und die Grenzen unserer Welt- und Selbstbeherrschung rücken gerade wieder in den Blick. Das Corona-Virus macht sie sichtbar. Schlagzeilen wie „Ökonomen im Blindflug“ gehören inzwischen zum Alltag. Man könnte auch manch andere Zunft hier einsetzen, Virologen vielleicht ausgenommen. Noch vor wenigen Wochen schien ein Kontrollverlust dieser Größenordnung völlig undenkbar. 

Manche Prediger sehen eben darin Gott am Werk und wittern neue Chancen für den Glauben. Aber wenn wir Gott als Krücke und die Verheißung ewigen Lebens als Beruhigungspille anpreisen, dann werden viele ihm den Rücken kehren, wenn die Lage sich wieder stabilisiert. Dann hat Gott seinen Zweck ja auch erfüllt. So wie wir heute für Menschen in Pflegeberufen Beifall klatschen und uns morgen darüber beschweren, dass der Beitrag für die Krankenkasse steigt oder der Staat uns die Steuern erhöht, um sie besser zu bezahlen. 

Bonhoeffer wollte dieses Spiel nicht mitspielen. Er schrieb: 

„Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen … Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“ 

Er hatte seinen Paulus gut gelesen, denn das ist genau der Weg, den der Apostel  einschlägt – mitten auf dem Areopag.

Ein Fragezeichen aus Stein

Paulus deutet den Altar des unbekanntes Gottes positiv: Als Fragezeichen hinter den vermeintlichen Gewissheiten der Athener. Der Altar markiert eine Leerstelle: Was haben wir übersehen? Gibt es noch mehr zu entdecken als das, was wir schon kennen? Kluge Menschen haben auch ein Gespür für das, was sie alles nicht wissen.

Zugleich ist der Altar ohne Bild Ausdruck einer Sehnsucht. Wie bei Fernweh: du siehst ein Schiff, ein Flugzeug, du suchst mit deinen Augen den offenen Horizont. Aber du weißt nicht, wohin es dich zieht. So auch die Sehnsucht nach dem unbekannten Gott: Sie kann noch gar keine genauen Koordinaten für das Ziel der Expedition nennen. Das Unbekannte hat keine Adresse, keinen Namen und kein Gesicht. Wie der geheimnisvolle Gott, der in der Wüste aus dem brennenden Busch zu Mose, dem Nomaden, über die Freiheit in einem fernen Land spricht. Der Gott der Juden, und damit auch der Gott Jesu von Nazareth.

Manchmal spüren Menschen so eine Sehnsucht, aber bringen sie nicht mit Gott in Verbindung. In der Popkultur etwa stoße ich auf Texte, die sich an eine zukünftige Partnerin oder einen Partner richten. Die Titel heißen „Dear Future Husband“ oder „I Haven’t Met You Yet“. Da geht es um die Suche nach jemandem, der mich spüren lässt, dass ich etwas Besonderes bin. Und ein bisschen auch die Sehnsucht nach jemand, der mich vor mir selbst rettet. Wie beim „Gott der Lücken“ wird da im Grunde aber jemand gesucht, der all das liefert, was mir gerade fehlt.

Das Gegenstück dazu wäre jemand – Gott oder Mensch –, mit dem ich alles teilen kann, nicht nur meine Leerstellen und Defizite. Die zarte, tastende Sehnsucht nach einem solchen Gegenüber besingt das Folkduo „The Civil Wars“:

Du hast mir gefehlt
Aber ich bin dir noch nie begegnet
Doch das würde ich so gern
Liebe(r) Wer-immer-du-auch-bist
Noch warte ich geduldig

Ich habe in diesen Tagen der allgemeinen Zwangsentschleunigung auf vieles gewartet und warte noch: Auf den ersten Friseurtermin seit Ewigkeiten. Dass es irgendwo Hefe zu kaufen gibt. Aufs Anstoßen mit Freunden im Biergarten. Und darauf, meine alten Eltern in den Arm zu nehmen. Im Moment empfinde ich das erzwungene Warten so anstrengend, dass das freiwillige Warten – die Stille, das Gebet, die Meditation – unter dem Sehnsuchtsstau leidet. Ich bete in diesen Tagen lieber draußen, unter den Bäumen, die da ruhig und unverrückbar stehen, und bei den Vögeln, die über den offenen Himmel fliegen.

Sympathische Sehnsucht

Die Sehnsucht ist eine besondere Art der Verbindung. Es gibt sie nur in Beziehungen, in denen man das Gegenüber nicht besitzt und im Griff hat. Deswegen ist die Sehnsucht nach Gott auch nie ganz zu stillen. Die Sehnsucht, der Durst nach Geist und Leben macht Menschen anziehend und schön. So lange wir träumen, ist in aller Traurigkeit noch Kraft und Hoffnung auf Veränderung. Vielleicht sagt meine Sehnsucht ja mehr über mich aus als das, was ich schon erreicht habe.

Der Altar des unbekannten Gottes ist das Eingeständnis, dass man nicht alles wissen kann oder noch nicht alles erkannt hat. Eines interessierten Nichtwissens. So sieht Paulus die Athener. Er sieht ihre Sehnsucht und sie ist ihm sympathisch. Gott nicht ganz erkannt zu haben ist keine Schwäche, deren man sich schämen müsste. Statt belehrend und besserwisserisch aufzutrumpfen, betont er noch einmal die Gemeinsamkeit: Gott braucht kein Haus, schon gar kein prunkvolles, sagt er. Und er braucht auch keine Priesterkaste, die ihn hofiert wie die Lakaien ihren Kaiser. Was für ein Gott wäre das, der das nötig hätte? 

Paulus weiß, das die Athener das wissen. Er zeigt es ihnen, indem er aus den „Himmelserscheinungen“ eines damals bekannten und beliebten Dichters, Aratus von Soloi, zitiert: „In ihm leben, weben und sind wir“, und „Wir stammen von ihm ab“: Der eine, wahre Gott ist überall am Werk, mitten im Leben und im Guten. Im Menschsein, das uns alle verbindet. Nicht in den Dingen, die uns unterscheiden und trennen. Wozu noch Tempel? Wozu noch andere Bilder? Gott lässt sich auch nicht mit Konzepten oder Begriffen dingfest machen. Wenn wir ihn in solche Gräber sperren, kommt er wieder heraus und sie sind leer.

Gott – mitten im Leben

In den letzten Wochen konnten wir uns nicht wie gewohnt zum Gottesdienst in den Kirchen versammeln. Viele haben das vermisst. Manche sind in eine der offenen Kirchen gegangen, um eine Kerze anzuzünden und still zu beten. Viele beten jetzt wieder, wenn die Kirchenglocken läuten – zuhause, wo sich gerade viel mehr Alltag als sonst abspielt. Neben dem Warten ist auch das eine der Lektionen dieser Tage: Wir leben, bewegen uns und sind in Gott. Gottesdienste und Kirchenräume dienen nicht dazu, dem Alltag zu entfliehen. Sondern mir gerade genug Abstand zu ermöglichen, dass ich Gottes Spuren im Gewöhnlichen entdecke: Beim Einkauf, im Grünen, beim Gespräch über den Gartenzaun oder übers Internet, wenn ich nachts wach liege.  

Oder wenn mir schlechte Nachrichten unter die Haut gehen. Letzte Woche etwa kommentierte die Journalistin Mely Kiyak die elende Lage tausender Geflüchteter auf Lesbos, darunter viele Kinder: 

Menschsein ist universell und spricht eine Sprache. Kinder sind Schutzbedürftige. Dieses Wissen nicht in seinem Lebenskompass eingeschrieben zu haben, bedeutet einen unglaublichen Verlust von Würde, zunächst einmal sich selbst gegenüber.

Mely Kiyak, 50 ist keine Zahl

Europas Regierungen stehlen sich im Schatten von Corona aus der Verantwortung und ich sitze hier wie tausende andere fest im Homeoffice und unterschreibe Online-Petitionen an die Regierenden.

Die Gerechtigkeitslücke

An diesem Punkt geht Paulus einen Schritt über die Einigkeit mit den Athenern hinaus. Gott ist nicht nur Grund und Urheber der Welt, sondern er verfolgt auch ein Ziel. Ja, Menschen spiegeln Gott oft und in vieler Hinsicht wider. Ja, es gibt Wahres, Gutes und Schönes unter ihnen. Manchmal aber ist es schlichtweg zum Heulen, was sie einander antun. Die Würde aller nimmt Schaden, wenn Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird. Wenn die Gewalt der einen und die Gleichgültigkeit der anderen sich die Hand reichen, folgt die Selbstzerstörung. Und am Umgang mit leidenden Menschen zeigt sich auch, wie es um unser Verhältnis zu Gott bestellt ist.

Deswegen offenbart sich Gott ausgerechnet im leidenden und gekreuzigten Christus. Paulus reißt das nur knapp an, quasi im Telegrammstil, und die Athener haben erkennbar Mühe, ihm zu folgen: 

Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.
Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er richten will den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.

Apg 17, 29-34

Für diesen sperrigen Christus gibt es keine passende Nische. Er stört, also wird er beseitigt. Gottes Sohn nimmt es in Kauf, selbst unter die Räder zu kommen. Und damit deckt er den herzzerreißenden Zwiespalt der Menschheit auf: So großartig und doch auch so grausam sein zu können. Aber gerade da stößt Gott nun die Tür zu einer neuen Welt auf. Im Auferstandenen erscheint sie, inmitten in der alten, kaputten Welt. Immun gegen das Virus der Unmenschlichkeit.

Unser Licht leuchten lassen

Das also macht die Osterbotschaft aus: Eine andere Welt ist nicht nur theoretisch möglich. Der Anfang ist schon gemacht. Wenn Paulus vom kommenden Gericht spricht, sagt er damit: Gott wird der Unmenschlichkeit ein Ende setzen und seine aus den Fugen geratene Welt zurechtbringen. 

Die Zeit des Leidens ist begrenzt. Aber sie ist – bei aller österlichen Erleichterung und Vorfreude –noch nicht zu Ende. Wir warten nicht auf das Ende der Corona-Krise und darauf, dass dann alles wieder „normal“ wird. Die gefühlte Normalität der Jahre vor Corona war in Gottes Augen schon längst Krise. So kann es nicht weitergehen. Wir warten sehnsüchtig auf ein Ende der Ungerechtigkeit. Wir warten auf eine Welt, in der Kinder und Alte, Frauen und Männer, Menschen und Natur in Würde und Frieden leben. Das Ende der Pandemie ist nur ein Schritt dahin.

Zu Ende ist allerdings die Zeit des Abwartens und Taktierens. „Egal, was ihr vorher gemacht habt,“ sagt Paulus den Athenern, „jetzt ist es Zeit, sich der Bewegung des Auferstandenen anzuschließen.“ Lukas nennt namentlich zwei Personen, die der Einladung folgen: Dionysius, Damaris.

Und ich? Ich muss nicht bis nach Corona warten, um es ihnen gleichzutun. Mit vielen anderen auf dieser Welt bin ich unterwegs. Zum Beispiel Joan Baez, die vom Glauben an Gott singt, der sich zwar oft nicht begreifen lässt, aber uns hilft, unser Licht leuchten zu lassen.

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Vom Segen der Naivität

Forscher sind der Frage nachgegangen, warum Covid-19 für ältere Menschen so viel gefährlicher ist als für Junge. Das ist für eine Pandemie ungewöhnlich. Ein Erklärungsansatz hat mit dem Immunsystem älterer Menschen zu tun. Das verfügt zwar über ein stattliches Gedächtnis, hat aber eine geringere Kapazität, sich auf ganz neue Bedrohungen einzustellen:

»Im Alter hat man zwar viele T-Gedächtniszellen für bereits durchlebte Infektionen«, sagt Cicin-Sain. »Das Problem ist aber, dass die Zahl der naiven T-Zellen, die etwas Neues erkennen, mit dem Alter klar abnimmt.«

Luka Cicin-Sain, Leiter der Forschungsgruppe Immunalterung und Chronische Infektionen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig

In dieser Krise entpuppt es sich als Vorteil, über kein Vorwissen und keine Vorerfahrungen zu verfügen und das Neue wirklich als Neues zu erkennen, nicht als Wiederkehr des schon Vertrauen und Bekannten, dem sich mit Business as Usual begegnen ließe.

Wenn Erfahrung nicht mehr ausreicht

An dieser Stelle tun sich Analogien auf: Beim Immunsystem ist diese Veränderung natürlich und altersbedingt. In unseren gesellschaftlichen Institutionen und Prozessen ist sie zwar verständlich, aber eben kein Automatismus. Fehldeutungen entstehen, wenn man Neues durch die Brille dessen betrachtet, was schon mal da war. Eine Pandemie ist zum Beispiel kein Krieg. Sie macht Amtsinhaber in einer Demokratie (oder dem, was mancherorts davon noch übrig ist) nicht zu Oberbefehlshabern, die autoritär durchregieren dürfen.

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In den nicht mehr ganz jungen Kirchen scheint mir ein ähnliches Muster erkennbar. Institutionelle Strukturen und Abläufe (Liturgien etwa) sind so etwas wie geronnene Erfahrung. Manches davon hat sich in früheren Krisen als lebensrettend erwiesen und seither gute Dienste geleistet. Leider funktioniert gerade nur noch ein Bruchteil der Kirche, wie wir sie kennen. Die Frage ist daher, wie viele „naive Zellen“ jetzt noch vorhanden sind und wie die mobilisiert werden:

Wo wird derzeit ganz naiv gefragt und überlegt, was unser Auftrag als Kirche Christi ist? Wie wir ihm mit den Mitteln und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nachkommen? Welche Endeckungen und Lösungen des 16. oder 19. Jahrhunderts heute vielleicht nicht mehr zielführend sind? Und nicht zuletzt: Selbst wenn wir eines schönen Tages uneingeschränkt zum kirchlichen Business as Usual zurückkehren könnten, sollten wir das auch tatsächlich tun?

Denkt noch jemand an Klimaschutz?

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Jüngere Menschen, das berichtete Spiegel Online letzte Woche, halten die Klimakatastrophe für deutlich gravierender als Covid-19. Einerseits nehmen sie die Warnungen und Berechnungen der Klimawissenschaftler ernster als viele aus der Generation der Eltern und Großeltern, weil sie die Folgen der Erdüberhitzung mit voller Wucht abbekommen werden. Andererseits sind sie eben auch „naiv“ genug, diese Krise als etwas völlig Neues zu erkennen. Sie erliegen nicht dem verharmlosenden Irrtum, mit ein paar kosmetischen Korrekturen sei ein Business as Usual doch wieder drin. Freilich gilt:

Klimakrise und Artensterben sind für die Menschheit weit bedrohlicher als eine zusätzliche Viruserkrankung, so bedrohlich und potenziell tödlich diese Erkrankung auch sein mag. […]Jedes weitere Extremwetterereignis, das der Menschheit vor Augen führt, was wirklich los ist, wird diese Konstellation verändern, aber das geht im Augenblick nicht schnell genug.

Christian Stöcker

Vielleicht ist die erste Seligpreisung „Selig sind die Armen im Geist“ ja auch eine Einladung, jung und naiv zu bleiben. Das ist freilich etwas ganz anderes als die Leichtgläubigkeit, mit der viele derzeit auf Gerüchte und Verschwörungstheorien abfahren. Die stellen immer nur rhetorische Fragen, wissen immer schon ganz genau Bescheid und gehen auf immer dieselben Sündenböcke los.

Zugleich besteht in der Corona-Krise auch die Möglichkeit, uns geistig zu verjüngen und für die Klimakrise zu lernen: Die Warnungen der Fachleute ernst zu nehmen. Die Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Exponentiale Kurven zu verstehen; ein Bewusstsein für Kippunkte zu entwickeln (ein Kollaps der Intensivmedizin kommt ebensowenig aus heiterem Himmel wie der des polaren Eisschilds). Sich auf Einschnitte beim Wohlstand und Konsumverhalten vorzubereiten. Soziale Folgen dieser Maßnahmen zu bedenken und sie durch aktive Umverteilung abzufedern. Der Wirtschaft klare Vorgaben zu machen, statt sie auf Teufel komm raus zu deregulieren.

Solche Dinge. Diese Mentalität. Um es mit dem grantigen Nobelpreispropheten zu sagen: May you stay forever young.

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Corona und der andere Blick für den anderen

Nach all den Tagen im Lockdown, die noch eine ganze Weile abgestuft andauern werden, merke ich, wie sich mein Gefühl für räumliche und körperliche Nähe in der Öffentlichkeit verändert. Eine Art inneres 360° Radar schlägt an, wenn andere sich auf weniger als zwei Meter annähern. Ich werde unruhig. Wer weiß, wie wir alle in einem Jahr über angenehme Distanz und unangenehme Nähe fühlen und denken?

Diese Woche war ich mit meinem Sohn laufen. Hintereinander und nicht nebeneinander, damit andere auf dem Weg gut an uns vorbei passen. Ab und zu mussten wir einen Haken schlagen. Zum Beispiel um ein Kind, das mitten auf dem Weg stand. Prompt mokierte sich der Kleine über die „blöden Männer“, die da an ihm vorbeizogen. Sogar die Kleinen stehen schon unter Strom…

Photo by Evgeni Tcherkasski on Unsplash

Hier und da kamen uns auf diesem Lauf Leute entgegen, und manchmal waren hinter ihnen wieder andere ein paar Schritte schneller unterwegs. Nicht jeder hält in so einem Moment die gebotenen anderthalb Meter Distanz oder wartet kurz. Manche zwängen sich hastig durch zu enge Lücken.

Ich spüre gerade, dass ich das mittlerweile als aggressives Verhalten empfinde. Beinahe wie das Auto, das mich beim Radeln mit 50 Zentimeter Abstand und 50 Kilometer Geschwindigkeitsunterschied überholt. Es gibt offenbar Menschen, für die ist jedes Bremsmanöver ein Stück Sterben.

Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die allgegenwärtige Verlangsamung, dass es manche nun auf Fuß- und Radwegen drauf ankommen lassen; nach dem Motto: Wenn es die anderen stört, werden sie schon Platz machen. Der Unterschied zum SUV-Beispiel ist freilich, dass man sich auch selbst einem erhöhten Risiko aussetzt. Menschen mit ungebremster Wucht nahe zu kommen, wird in Zukunft zunehmend als rüde empfunden werden. Und nicht alle werden mit einem Achselzucken reagieren. Nicht, weil sie Mimosen wären, sondern weil sie ihre Sinne angesichts realer Risiken neu justiert haben.

Gestern habe ich übrigens Freunde nicht erkannt, die mir auf dem Fahrrad im Wald entgegenkamen. Ich war so darauf fixiert, am äußersten Rand des Weges zu fahren. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich. Wie wird sich das verändern, wenn demnächst alle Masken tragen und man einander nur noch mit Mühe erkennt?

Was wird es künftig bedeuten, einen Blick für andere Menschen zu haben?

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Nimm’s (nicht?) persönlich: Über Baum- und Börsenpoesie

Einige von uns verbringen ja krisenbedingt mehr Zeit im Wald. Das kann den Horizont durchaus erweitern. Der Herald brachte kürzlich ein Interview mit Peter Wohlleben über dessen Anschauung von Bäumen. Der Mann wird ja immer wieder kritisiert, weil er angeblich zu menschlich von Bäumen spricht. Er beschreibt sie als soziale, kommunikative Wesen und benutzt dabei – anders als viele seiner Kollegen – Metaphern aus unserem menschlichen Miteinander. Zum Beispiel, wenn er einen Baumstumpf, der über das Wurzelgeflecht benachbarter Bäume am Leben erhalten wird, als „Ruheständler“ bezeichnet.

Freilich ist er damit eher auf der poetischen Seite des wissenschaftlichen Spektrums. Dort wird allerdings nicht weniger metaphorisch geredet. Es sind lediglich andere Metaphern, die bevorzugt werden: Mechanistische (Wohlleben nennt das „Bioroboter“) oder ökonomische Vorstellungen – Konkurrenz, Synergie, Effizienz zum Beispiel. Immer wieder ist zu lesen, diese oder Lebewesen seien darauf aus, ihre Gene so weit wie möglich zu verbreiten. Auch in solchen Formulierungen steckt eine Art Intentionalität, aber eben keine primär soziale.

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Die Ökonomen sind indes schon wieder einen (zweifelhaften) Schritt weiter in Richtung Börsenpoesie. Immer wirde mal heißt es, der DAX stemme sich gegen Risiken oder schlechte Nachrichten. Während es sicher kein Fehler ist, von Bäumen als Lebewesen zu sprechen, kann man einem Börsenindex schwerlich so etwas wie Bewusstsein oder Wille nachsagen. Der bildet nur das bunte Treiben vieler Akteure auf dem Markt ab.

Es ist also akzeptabel, vom DAX personifizierend oder vermenschlichend zu reden, aber nicht vom Wald. Ich vermute, dafür gibt es nur eine Erklärung: Er steht den meisten von uns einfach näher als die Natur. Wir erkennen uns selbst in ihm wieder (klar – er ist ja unser Geschöpf!) und wir erwarten uns von ihm mehr Trost, Hilfe und Beistand als von unseren kleinen und großen Mitgeschöpfen. Das wäre eine durchaus besorgniserregende Tendenz.

Um so mehr wünsche ich allen schöne und bewusstseinsbildende Spaziergänge im Wald. Habt keine Scheu, mal mit einem Baum zu reden. Peter Wohlleben sagt zwar, dass die Bäume uns nicht verstehen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt: Das Reden könnte uns helfen, sie wieder als Lebewesen zu sehen und nicht als Baumaterial oder stimmungsvolle Kulisse für Freizeitaktivitäten. Und das Hören auf den Wind in den Baumkronen, das Knarren der Äste, das Rascheln im Laub.

In diesen Sinn – einen gesegneten GrünDonnerstag!

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Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Distanz und Gegenwart: Clips aus dem Corona-Chaos

Das analoge soziale Leben (und mit ihm das noch deutlich analogere kirchliche Leben) steht momentan still. Die Fastenzeit hat einen ganz anderen Charakter angenommen, es geht nicht mehr um Schokolade, Fleisch oder Alkoholverzicht.

Die Beschäftigung mit dem Leiden – der Kranken, des Pflegepersonals, der Geflüchteten auf Lesbos, der Künstler und (Klein)Unternehmer, der Alleinlebenden, der psychisch Kranken, der gestrandeten Urlauber, der Familien, in denen es gerade schwierig ist (um nur ein paar Beispiele zu nennen…) – ist sehr präsent.

Ich habe, wie viele andere Kolleg*innen nah und fern (Geographie spielt da ja auf einmal eine ganz untergeordnete Rolle) in den letzten Tagen ein paar kleine Beiträge aufgenommen und hoffe, dass sie alle, die es in dieser gänzlich ungewohnten Lage brauchen können, ein bisschen aufmuntern und so ein bisschen Verbindung zu halten. Lasst gern etwas von Euch hören, entweder als Kommentar oder schickt mir eine Nachricht auf anderen Kanälen.

Passend zu manchem, was mir im Kopf herum ging, hat Hartmut Rosa diese Woche dem Philosophiemagazin gesagt:

Der räumliche Horizont beschränkt sich auf den Umkreis der Wohnung, zeitlich denken wir nur noch für ein paar Tage voraus, denn wer weiß schon, was in zwei Wochen sein wird? Das aber ändert die Art und Weise unserer Weltbeziehung: Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus. Wir haben Zeit. Wir können plötzlich hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht: Vielleicht hören wir wirklich die Vögel und sehen die Blumen und grüßen die Nachbarn. Hören und Antworten (statt beherrschen und kontrollieren): Das ist der Beginn eines Resonanzverhältnisses, und daraus, genau daraus kann Neues entstehen.

Hartmut Rosa

Und Slavoj Zizek schreibt dort, auch sehr passend: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahestehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“

und dazu gehört als Soundtrack noch:

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Die Seligpreisungen im Licht von COVID-19

In den letzten Tagen haben mich immer wieder Stücke aus der Bergpredigt beschäftigt, zum Beispiel die Worte vom Sorgen und vom Beten. So fing ich an, darüber nachzudenken, wie man die Seligpreisungen für heute umformulieren müsste. Zuerst dachte ich an Sätze wie

  • Selig, die keine Vorräte bunkern
  • Selig, die Abstand halten
  • Selig, die keine Gerüchte, Verschwörungstheorien und Fake News streuen

Doch dann merkte ich dass der moralisierende Charakter gar nicht zum Original passt. Jesus lobt ja nicht bestimmte Haltungen, die Menschen für eine besondere Rolle in Gottes Plan und Reich qualifizieren. Sondern er beschreibt Gruppen von Personen und Zustände, die von ihren Zeitgenossen gerade nicht als vom Glück verwöhnt gepriesen wurden: Die Armen, die „Minderbemittelten“, die Wehrlosen, die Trauernden. Oder jene, die als Friedensstifter zwischen allen Stühlen sitzen.

Müsste da heute eher so etwas stehen wie…

  • Selig, die gern in den Arm genommen werden würden
  • Selig, die vor leeren Regalen stehen
  • Selig die Erschöpften und Überforderten
  • Selig, die nicht wissen, wie sie Miete, Rechnungen und Angestellte bezahlen sollen
  • Selig, die sich auch noch den Kummer der anderen anhören
Photo by Nathan Dumlao on Unsplash

Denn genau da ist Gott mit euch. Obwohl ihr es vermutlich nicht (oder nicht immer) spürt. Und mitten in dieser Beuruhigung, dem Durcheinander, der Ratlosigkeit wird die Saat ausgestreut für Neues – für etwas Heilsames und Lebensfördendes. Und auch wenn es noch dauert: Der Tag wird kommen, an dem ihr die Früchte dessen seht und genießt.

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Plakatives zur Kommunalwahl

Das Plakat Erlanger CSU zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag passt doch wie die Faust aufs Auge in diesen Corona-Tagen, in denen nicht alle, aber erstaunlich viele sich selbst die Nächsten sind. Tage, in denen besorgte Mitbürger Klopapier und Nudeln hamstern, während aus den Kliniken Desinfektionsmittel und Atemmasken geklaut werden. Und die CSU verspricht mir Folgendes:

Kann man schwer unkommentiert stehen lassen, das fanden offenbar auch andere…

Eine Stadt, in der sich alles um mich dreht: Das Paradies aller Narzissten, Monaden und Egozentriker. In der Praxis zu gleichen Teilen asozialer Albtraum und absurde Ansage: Keine Zugeständnisse, keine Kompromisse, keine Rücksichtnahme, keine Verantwortung für andere. Anders lässt sich der Slogan kaum verstehen.

Nur: So kann ja kein Gemeinwesen existieren. Der Appell ans Reptilienhirn ist auch nicht ansatzweise visionär. Die FDP schreibt „Eine Chance für die Vernunft“ auf ihre Plakate und zielt ein paar Etagen höher. Aber wer weiß, ob damit nicht wieder nur das Vernunftmonopol der Lindner’schen Profis gemeint ist?

Immerhin gibt es klare – und ja, vernünftige – Alternativen: Das Motto „Eine Stadt für alle“ des amtierenden OB kommt vielleicht ein wenig idealistisch daher, aber die Richtung stimmt. Und die Grünen formulieren etwas nüchterner: „Für ein offenes Miteinander. #sozialestadt“.

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Christen und das Klima

Die Nachbargemeinde Altenfurt hat eine dreiteilige Passions-Predigtreihe auf die Beine gestellt, die einen Bogen vom Karfreitag zu Fridays for Future schlägt (oder umgekehrt): Klimakrise als Leidens- und Hoffnungsgeschichte quasi.

Photo by Jack Bassingthwaighte on Unsplash

Ich war gestern mit der ersten Predigt dran und habe in der Bibel erst ganz weit vorne gebuddelt, dann ganz hinten. Was ist echter Trost, was falscher? Wie apokalyptisch und alarmistisch darf (oder muss?) man sein? Und wovon handelt die biblische Apokalyptik eigentlich? Und was hat sie mit unserer Gegenwart zu tun?

Auch wenn ich die üblichen 15 Minuten deutlich überschritten habe, konnte ich manches dabei nur anreißen. Wir haben im Anschluss noch munter diskutiert. Ich bin gespannt, wie es weitergeht in Altenfurt.

Für Euch und alle, die Lust haben, habe ich den Aufnahmeknopf gedrückt. Hier ist der Mitschnitt:

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Verschnaufpause

Heute musste man im Wald weder Wind- noch Schneebruch befürchten, also ging ich in der Nachmittagssonne eine Runde laufen. Die Forstverwaltung hat im Herbst ein paar neue Tümpel im Buckenhofer Forst angelegt, die sich nun zum ersten Mal überhaupt mit Wasser füllen. Der Februar 2020 war (so die Werte für Nürnberg, Erlangen hat noch etwas mehr Niederschlag abbekommen) 4,4 Grad zu warm, aber er brachte auch 267% der üblichen Regenmenge. Nach zwei sehr trockenen Jahren ist das ein bisschen Rückkehr zur Normalität (falls man davon überhaupt noch reden kann).

Photo by Gary Bendig on Unsplash

Ich stand eine Weile am Ufer und schaute zu, wie sich Himmel und Sonne still und friedlich im Wasser spiegelten. Ein Entenpärchen hatte den Ort entdeckt und sich auf dem Wasser niedergelassen.

Während ich da stand, merkte ich, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig über den Sonnenschein freuen konnte. Nach dem ausgiebigen Regen ist er erst einmal keine Bedrohung für die angeschlagene Vegetation. Und die Erinnerung an Staub und Hitze der beiden letzten Sommer ist auch ein bisschen verblasst.

Es war eine schöne Verschnaufpause. Und doch wird es wohl nur eine Pause bleiben, denn die Erhitzung des Planeten hat schon so dramatisch zugenommen. Zurückdrehen lässt sie sich nicht, bestenfalls verlangsamen. Nicht nur die Bolsonaros, Trumps und Morrisons dieser Welt, sondern auch die Scheuers, Lindners und Altmeiers, die Bleifüße, Kreuzfahrer und Vielflieger hierzulande und anderswo werden sich allerdings so leicht umstimmen lassen.

Als ich mich zuhause hinsetzte, las ich die folgenden Sätze zum Leben mit und nach dem Klimawandel. Sie klingen wie eine Anleitung für die Fastenzeit, allerdings mit einem Zeithorizont, der sieben Wochen weit überschreitet:

So trivial es klingt, es wird wichtig sein, zu lernen, mit dem Wenigen, knappen Lebensmitteln und beschränkten Mitteln des täglichen Bedarfs klarzukommen. Es wird darauf ankommen, einfachste Techniken zu beherrschen, mit denen unsere Vorfahren ihr Leben gemeistert haben, handwerkliche Fähigkeiten, Basis-Techniken des Überlebens, Hilfe in der Nachbarschaft, Zusammenhalt im Freundeskreis und in der Familie.

Jörg Friedrich in telepolis

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Halbzeit

Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…

Photo by Agê Barros on Unsplash

In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.

Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.

Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.

Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.

Von mir aus darf es feste weiterknistern…

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Rebellisch Beten

In den zurückliegenden Wochen hat mich die Frage nach dem Gebet beschäftigt: Was geschieht, wenn Menschen beten? Der Schauspieler August Diehl berichtete kürzlich von der Vorbereitung auf seine Rolle als christlicher Widerstandskämpfer Franz Jägerstätter in „Ein verborgenes Leben“. Seine Erfahrung zeigt, dass man diese Frage eigentlich nur praktisch beantworten kann:

Ich bin in Kirchen gegangen und habe mich gezwungen zu beten. Zuvor hatte ich das noch nie getan, eine unglaubliche Erfahrung. Am Anfang habe ich mich lächerlich gefühlt. Aber diese Lektüre verströmt eine wahnsinnige Kraft – selbst dann, wenn man sie für sinnlos hält. Das Vaterunser ist ein unglaublicher Text, beinahe wie ein Mantra.

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Das Gebet ist auch ein zentrales Thema für Johann Baptist Metz in seinem 2017 erschienenen Band „Memoria Passionis“. Für Metz hat die Gebetssprache Vorrang vor der abwägenden Sprache der Theologie. Das gilt auch und besonders dann, wenn sie nur ein Schrei, selbst ein stummer Schrei ist. So beschreibt Metz sein eigenes Schlüsselerlebnis – den traumatischen Moment als 16jähriger Soldat kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, der seine Kameraden tot auffindet: „Seitdem gibt es für mich Rückfragen an Gott, an den Gott Abrahams, isaaks und Jakobs, an den Gott Jesu, Rückfragen, für die ich zwar eine Sprache habe, aber keine Antworten. Und so habe ich sie mir als Gebete zu eigen gemacht.“

Was Metz über diese Art des Gebets zu sagen hat, finde ich bemerkenswert tröstlich und hilfreich angesichts der vielen Anlässe für laute oder stumme Schreie (vom zigtausendfachen Gemetzel in Idlib über den rechten Terror von Hanau bis zum „doomsday glacier“ in der Antarktis), die uns die letzten Tage und Wochen beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden.

Christen müssen darauf achten, dass der Kern der großen religiösen Sprachformen – vor allem auch die der Bibel – eine Leidens- und Krisensprache ist. Das ist deswegen so wichtig, weil die Glut der Theodizeefrage auch heute nicht erloschen ist.

Diese Sprache der Gebete ist nicht nur universeller, sondern auch spannender und dramatischer, viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie. Sie ist viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie. Als solche ist sie viel widerstandsfähiger, viel weniger geschmeidig und anpassungsbereit, viel weniger vergesslich als die zumeist idealistische Sprache, in der die Theologie sich bei ihrer Gottesrede um Modernitätsverträglichkeit bemüht und mit der sie ihre Verblüffungsfestigkeit gegenüber allen Katastrophen und allen leidvollen Erfahrungen der Nichtidentität probt.

Diese Gebetssprache ist weitaus risikofreudiger als der Logos der Theologie. Sie kennt die unglaubliche Bandbreite der Verrätselungen der menschlichen Existenz und deren Fragwürdigkeit im Blick auf Gott. Sie ist die seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort „Gebet“ nicht gäbe. Die Gebetssprache ist die einzige Sprache ohne Sprachverbote. Sie ist umfassender als die Spache des seiner selbst gewissen Glaubens. In ihr kann man auch sagen, dass man nicht glauben kann.

Vielleicht ist es ja das, was August Diehl gespürt hat, als er sich in das Leben des betenden Rebellen einfühlte. Und unsere Aufgabe in den verschiedenen Kirchen, diesen Aspekt – Fragen und Klagen, Schreien und Schweigen – wieder neu ins Zentrum zu rücken. Diese unglaubliche Erfahrung könnte vielen gut tun.

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Der Mut zum Schrei

Das Jahr 2020 ist schon ein paar Wochen jung und mit ihm die Jahreslosung aus Markus 9. Ich habe nochmal einen Blick darauf geworfen und das in erzählender Form hier festgehalten. Gründe für einen verzweifelten Aufschrei gibt es gerade täglich neu, im Großen wie im Kleinen. Und genau da liegt womöglich die Hoffnung.

Wir haben es nicht gleich gemerkt, dass unser Sohn nicht so ist wie andere Kinder. Das erste, was uns auffiel, war, dass er nicht reagierte, wenn wir mit ihm redeten. Als ob eine unsichtbar Hand ihm Ohren und Mund zuhielt. Er fing später an zu laufen als Gleichaltrige, aber es gab immer wieder unerklärliche Stürze. Als ob eine unsichtbare Hand ihm plötzlich einen Schubs gab. Keine Sekunde konnten wir ihn aus den Augen lassen. Ohne die Hilfe von Nachbarn und Familie hätte es schon längst tödlich ausgehen können. Der nächste Brunnen und das nächste Herdfeuer sind immer nur ein paar Schritte entfernt.

Irgendwann sind dann auch unsere Klagen verstummt. Hilft ja nichts. Es muss halt irgendwie weitergehen. Manchmal höre ich meine Frau nachts weinen. Ich wage nicht, sie zu trösten, weil sie dann vielleicht noch viel schlimmer weint, und dann wachen die Kinder auf, und am Ende weine ich auch noch mit. Einer muss doch stark bleiben. Einer muss das Gleichgewicht halten, wenn alles aus dem Lot ist.

Aber dann zog dieser Prophet durch die Dörfer in der Nähe. Einer vom alten Schlag wie Elija und Elischa, der Wunderkräfte hatte. So hörte ich es jedenfalls. Also nahm ich den Jungen eines Tages an der Hand und wir machten uns auf die Suche. Wir stießen am Fuß des Berges Tabor auf eine Gruppe seiner Nachfolger. Der Meister, sagten sie, habe sie beauftragt, die Kranken zu heilen. Und es schien zu funktionieren!

Bis sie es mit meinem Kind versuchten. Sie versuchten es drohend und flehend, mit stillen und lauten Gebeten, und ich sah allmählich dieselbe Erschöpfung in ihren Augen wie in den Augen meiner Frau. Plötzlich hörte ich Stimmen näherkommen. Der Meister war zurück. Niemand musste mir erklären, wer der Mann war. Irgendwie leuchtete er von innen heraus, als hätte er da oben mehr Sonne in sich aufgenommen als wir anderen. 

Aber als er zu reden anfing, erstickten seine Worte meine aufkeimende Hoffnung mit einem Schlag. Unwirsch tadelte er seine Leute für ihre Unbeholfenheit. Die zogen die Köpfe ein und sagten nichts. Ich schaute zu meinem Sohn hinüber, den die unsichtbare Hand gerade wieder heftig zu schütteln begann. Und ich sah, dass Jesus – der Prophet – ihn auch ansah. Unsere Blicke begegneten sich. Er fragte, wie lange das schon so geht. Ich erzählte es ihm so, wie ich es euch gesagt habe. Und dann brach es aus mir heraus: „Hilf ihm doch, wenn du kannst!“ Denn nach so viel Erschöpfung und Enttäuschung wagt das Herz nicht mehr, rückhaltslos zu hoffen.

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„Wenn du kannst?“, wiederholte er und sah mich herausfordernd an – hatte ich ihn in seiner Ehre gekränkt? Dann sagte er: „Alles ist möglich, wenn einer glaubt“ Was das eine Ohrfeige für mich oder die ausgestreckte Hand? In seiner Stimme lag eine Gewissheit, die allen anderen fehlte. Ich schluckte den Drang herunter, ihn zu besänftigen oder mich zu rechtfertigen. Stattdessen fiel mir ein: „Gott hilft“ – das sagt doch schon der Name Jeschua. Und da brach es aus mir heraus: Ein heiserer Schrei, in dem das Weinen meiner Frau, die Alarmrufe der Nachbarn und das unartikulierte Stöhnen meines Sohnes, wenn er sich verletzt hatte, mitschwang und meine eigene Sprachlosigkeit durchbrach: 

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“

Dann wollte ich mich nur noch neben meinen Sohn auf den Boden legen und nie wieder aufstehen. Aber zu meiner grenzenlosen Überraschung sah sich der Mann Gottes kurz um, beugte sich zu ihm hinunter und begann mit fester Stimme zu sprechen. Und ob ihr es glaubt oder nicht, ich konnte sehen, wie sich der Griff der unsichtbaren Hand löste, Finger um Finger. Schließlich lag er regungslos vor uns; so völlig entspannt, dass ich kurz dachte, er sei tot. Aber dann packte Jesus ihn an der Hand – und er stand auf! 

Jesus war schon weg, als ich endlich den Blick abwenden konnte von dem Menschenskind, das aufrecht und frei vor mir stand. Gott hat geholfen. Wir gingen zusammen nach Hause. Ich ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Aber diesmal nicht aus Sorge, sondern weil ich meinen Blick nicht losreißen konnte von dem Wunder.

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