„Keltisches“ Kleeblatt

Das Faszinierende am keltischen Christentum ist für mich und wohl auch für viele andere, dass dort so Vieles zusammenpasst, was bei uns heute sehr oft als Gegensatz und Widerspruch empfunden wird. Das führt häufig zu faulen Kompromissen, bei denen beide Pole zugunsten einer faden Mitte aufgegeben werden, in der nur noch ein bisschen von allem übrig bleibt.

Die iroschottischen Mönche waren höchst bewegliche Pioniere und liebten zugleich die Tradition, sie waren in der Einsamkeit und Stille ebenso zuhause wie in Geselligkeit und Gesang, sie waren behutsame Gastgeber, die sich der seelischen und leiblichen Bedürfnisse fremder Menschen annahmen, und ebenso beherzte Politiker, die mit Macht umzugehen wussten. Sie lebten im Rhythmus der Natur und waren große Künstler ohne jede „Künstlichkeit“.

Ich habe diese vierfache harmonische Spannung einmal mit einem vierblättrigen Kleeblatt veranschaulicht. Alles wächst aus einer gemeinsamen Mitte, der Beziehung zum dreieinigen Gott – daher ist alles grün gefärbt. Manch einer wird den Begriff „Mission“ auch vermissen, aber der ließe sich nicht auf einen Teilaspekt begrenzen; er charakterisiert vielmehr das Ganze. Vielleicht wäre er als Kleeblüte richtig positioniert?

Wer mehr wissen möchte – Freitag und Samstag ist eine gute Gelegenheit dazu!

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Weisheit der Woche: Gewaltlos gegen mich selbst

Passend zum Wochenbeginn: In seinem Facebook-Feed kommentiert Parker Palmer Gedanken von Thomas Merton (s.u.) über die Gefahr des Aktivismus und warum Kontemplation keine Flucht vor drängenden Aufgaben ist. Für alle KontemplAktiven als Ermutigung

Wenn wir in den Rausch der Überarbeitung geraten, tun wir uns selbst Gewalt an und töten „die Wurzel der Weisheit in unserem Inneren, die Arbeit fruchtbar macht“. Die Auswirkungen reichen von unkontrollierbarem Zorn über mürrischen Groll bis zum Ausgebranntsein, sie alle führen zu fehlgeleiteten Aktionen – und nehmen uns letztlich aus aller Aktion heraus.

Wir müssen unser Verständnis von Gewalt erweitern, ein Konzept, das weiter reicht, als jemandem körperlich Schaden zuzufügen. Wir handeln jedesmal gewaltsam, wenn wir unsere Seele oder die eines anderen Menschen verletzen oder nicht achten. Psychologische und spirituelle Gewalt verursachen auf ihre Art eben so viele Schäden wie Gewehrkugeln und Bomben.

Gewaltlos zu leben bedeutet mehr als „du sollst nicht töten“. Es bedeutet „du sollst keine Seele verletzen, deine eigene eingeschlossen“.

 

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Gefährliche Medienschelte

Facebook-Konversationen haben etwas Faszinierendes, sie sind eine Art Stammtisch 2.0, an dem sich eigenartige Äußerungen wiederfinden, die man bislang dem Bierkonsum angelastet hätte. Heute schlug plötzlich in einer ganze Reihe von Posts die mediale Kritik an Bischof Tebartz-van Elst in pauschale Medienschelte um.

„Den Medien“ wird wahlweise Maßlosigkeit, Überheblichkeit, Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Häme und mehr attestiert. Und kaum jemand widerspricht diesen Urteilen und der Empörung, die aus ihnen spricht. Plötzlich sind die Überbringer der schlechten Nachricht die eigentlichen Verbrecher. Wahlweise findet man auch alle irgendwie zum Kotzen: Journalisten, Politiker, Bischöfe.

Die Presseberichte, die ich zu dem Thema gelesen habe, waren durchweg sachlich vorgetragen (gut, Springerpresse fehlt in meiner Lektüre, aber wer die liest, ist selbst schuld). Zorn und Empörung sprach bestenfalls aus den Zitaten Betroffener. Es wird öffentlich über eine öffentliche Person berichtet, es wird Kritikwürdiges kritisiert, Fragen gestellt, Äußerungen bewertet. „Die Medien“ kommen ihrem Auftrag nach, die Öffentlichkeit aufzuklären und eine offene Diskussion zu ermöglichen. Bekommen sie dafür Beifall? Eigenartigerweise – nein!

Wer in dieser Situation Medienschelte übt, der spielt den Populisten und Verschwörungstheoretikern in die Hände, die keine kritische Öffentlichkeit wollen, weil sie keine Demokratie wollen. Oder einem System wie dem britischen Staatsapparat, der dem Guardian den Krieg erklärt hat.

Anders gesagt: Vermutlich ohne es zu wollen, arbeiten sie an der Putinisierung Deutschlands.

Liebe Freunde, würdet Ihr Euch das bitte nochmal überlegen?

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Stellt Beichtstühle auf!

Von der Mehrheit der Mitbürger bestenfalls halbherzig beachtet, sind die Nachrichten zum Spähverhalten von NSA & Co in den letzten Tagen eher schlimmer als besser geworden, wie etwa die Aussagen von Lavabit-Gründer Ladar Levison, der seine Firma lieber dicht machte, als die Privatsphäre seiner sämtlichen (!) Kunden zu opfern, oder die Erfahrungen des Schriftstellers Ilja Trojanow, dem die Einreise in die USA ohne Angabe eines Grundes verweigert wurde.

Ein Hinweis darauf, warum nicht mehr Menschen auf die Barrikaden gehen, findet sich am Anfang des sechsten Kapitels von Zygmunt Baumans Collateral Damage. Bauman zitiert seinen Kollegen Alain Ehrenberg, der an einen Herbstabend in den Achtzigern erinnert. Eine gewisse Vivienne erklärte damals in einer Talkshow, sie habe noch nie einen Orgasmus erlebt, weil ihr Mann Michel an vorzeitiger Ejakulation leide. Drei Jahrzehnte später ist das schon so banal, dass man sich wieder mühsam klar machen muss, worin der Tabubruch damals bestand: Etwas ganz Privates aus der intimen Beziehung zweier Menschen wurde in der jedermann zugänglichen Öffentlichkeit ausgebreitet. Zugleich wurde erstmals öffentlich eine Sprache benutzt, die bislang strikt im emotionalen Nahbereich angewandt wurde.

Rückblickend lässt sich sagen, dass seither die klare Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zusehends aufgehoben wurde. Das Ereignis markiert den Übergang zur „Beichtgesellschaft“, so jedenfalls lässt sich Baumans Terminus Confessional Society übersetzen, die Enthüllungsgesellschaft, in der das „Hosen runter!“ zum kategorischen Imperativ geworden ist, so dass sich jeder, der auf Privatsphäre besteht, dem Verdacht aussetzt, er habe etwas zu verbergen (oder, schlimmer noch, nichts Interessantes zu vermelden?).

Was zunächst wie der Triumph des Privaten wirkte, das sich in der Öffentlichkeit selbstbewusst behauptete, wurde zum Pyrrhussieg. Der Beichtstuhl, Symbol für den Schutzraum, in dem Privates angemessen zur Sprache gebracht werden konnte, ohne dadurch öffentlich zu werden, ist seither nur noch verwanzt zu denken. Nun werden Dinge nicht mehr vor Gottes Angesicht und in der Gegenwart seines zum Schweigen verpflichteten menschlichen Repräsentanten, sondern vor laufenden Kameras und damit potenziell vor aller Augen enthüllt. Er schreibt:

In einer verwirrenden Kehrtwende gegenüber den Gewohnheiten unserer Vorfahren haben wir den Mut, die Hartnäckigkeit und vor allem den Willen verloren, solche Rechte noch zu verteidigen, diese unersetzlichen Bausteine individueller Autonomie.

In der „festen“ Moderne hat die Furcht vor einer Invasion des misstrauischen, kontrollwütigen Staates in die Privatsphäre des einzelnen die Menschen heftig bewegt. George Orwell schrieb in 1984: „Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich.“ Ergo war man darauf bedacht, das Private vor einem potenziell totalitären System zu schützen, und mit ihm die eigene Autonomie, Identität und Selbstbestimmung. Längst aber hat sich die Situation dem genähert, was Peter Ustinov 1954, seiner Zeit weit voraus, so formuliert hatte: „This is a free country, madam. We have a right to share your privacy in a public space.“

Warum ist die Auflösung des Privaten ein solches Problem? Weil, so Bauman, dessen selektive Enthüllung Nähe und Distanz in menschlichen Beziehungen definierte und damit echte und dauerhafte Bindung ermöglichte. Wo wahllos alles im Leben einer Person zugänglich geworden ist, wo es keine Geheimnisse mehr gibt, da lösen sich diese Bindungen auf. Sich dem anderen zu offenbaren ist kein Vertrauensbeweis mehr und weckt auch kein Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung.

Für Sascha Lobo hat mittlerweile die Ära des Pseudoprivaten begonnen, weil die Bürger die Bespitzelung stillschweigend tolerieren, statt sich zur Wehr zu setzen. Verständlich wird die ausbleibende Gegenwehr, wenn man mit Bauman ihre Vorgeschichte betrachtet. Und doch muss man mit Lobo allen, die sich heraushalten, den Vorwurf machen, dass sie momentan im Begriff sind, das längst aufgeweichte Konzept des Privaten nun völlig aufzugeben, ohne zu ahnen, dass wir alle irgendwie Levisons und Trojanows sind.

Vielleicht sollten wir in den Fußgängerzonen demonstrativ Beichtstühle aufstellen, in denen das wieder erfahrbar wird, wie es ist, in einem vor neugierigen Blicken und voyeuristischer „Anteilnahme“ geschützten Rahmen über sich zu sprechen. In Gegenwart eines Menschen, der mich weder neugierig als Stofflieferanten für Klatschgeschichten versteht, den ich auch nicht beeindrucken muss, der mich nicht als potenzielles Sicherheitsrisiko argwöhnisch belauscht, sondern mir zuhört als einem Geheimnisträger, dessen Würde eben darin besteht, sich nicht einmal selbst restlos entschlüsseln und äußern zu müssen – weil dieses Geheimnis meiner selbst bei Gott, und nur bei ihm, aufgehoben ist.

Aus einer in der Begegnung mit Gott gegründeten Souveränität heraus – die keltischen Christen würden von der „Zelle des Herzens“ sprechen – könnte das Götzenhafte des nach Allmacht strebenden Sicherheitsapparates wie auch einer Öffentlichkeit, die alle privaten Kundgaben allmählich und doch unentwegt in seichte Unterhaltung verwandelt und damit aus dem vermeintlich Individuellen etwas völlig Austauschbares macht, endlich sichtbar werden. Wir könnten anfangen, uns gegen diese Ansprüche zur Wehr zu setzen und uns mit denen solidarisieren, die als Feinde des Systems wegen Gehorsamsverweigerung ausgegrenzt und drangsaliert werden.

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Singkrise

Vor einer Woche saß ich (weit weg von hier) in einem Gottesdienst und die Band spielte Matt Redmans berühmtes Lied „Heart of Worship“. Die Story dazu ist vielen bekannt: Redmans Gemeinde stellte fest, dass die Lobpreismusik dabei war, zum Selbstzweck zu werden und Gott selbst in den Schatten zu stellen – gerade weil sie so angesagt und mitreißend war. Also verschrieb man sich eine Phase der Entwöhnung und verzichtete auf die Musik – wie die Katholiken auf die Glocken in der Karwoche. In dieser Zeit entstand das Lied, das davon handelt, dass es nicht um Lieder und Musik geht.

So weit, so gut. Es ist wirklich ein schönes und bewegendes Lied. Und es bringt einen zum Nachdenken…

Redmans Gemeinde hat längst wieder begonnen zu singen und „Heart of Worship“ hat überall auf der Welt begeisterte Aufnahme gefunden. Vielleicht, weil es ein Dilemma anspricht, das viele ganz ähnlich empfinden: das Medium entwickelt eine Eigendynamik, es verdeckt mehr als dass es noch Hinweischarakter hätte, geistliche Musik wird zum Konsumartikel.

Aber reicht es, in einem Lied (unter etlichen anderen) darüber zu singen, dass Singen nicht alles ist und manchmal mehr von Gott ablenkt als zu ihm hinführt, ohne dann auch tatsächlich den Ausknopf zu drücken und zu sehen, was denn wirklich passiert, wenn wir mit leeren Händen dastehen, die Stille tatsächlich aushalten, in der der innere Lärm und die Störgeräusche von nichts mehr übertönt werden – und können wir glauben, dass Gott uns dann auch darin begegnet?

Sollte man dieses Lied eigentlich singen, ohne sich die damit verbundenen Herausforderungen tatsächlich zugemutet zu haben? Anders gefragt: Verhindert es am Ende vielleicht genau den Erneuerungsprozess, den es beschreibt?

 

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Päpstlicher als der Papst

Spiegel Online interviewt den Piusbruder Matthias Gaudron. Seit Papst Franziskus den Traditionalismus und den Klerikalismus ganz unverblümt kritisiert (zuletzt hier), ist der konservative Flügel weiter in die Defensive geraten. Interessant sind vor allem die Argumentationsmuster – als da wären…

  • der Verweis auf die Bekenntnisse und die (wie sich zeigen wird: unverschämte) Unterstellung, den Glauben auf Mitmenschlichkeit zu reduzieren: „Es ist nun einmal so, dass der katholische Glaube etwas Überzeitliches an sich hat. Wenn die einzige dogmatische Sicherheit darin bestehen soll, dass Gott Gott im Menschen ist, halte ich das für ein bisschen wenig. Für diese Vorstellung muss ich nicht katholisch sein. Die Wahrheit des Glaubensbekenntnisses kann auch der Papst nicht ändern.“
  • der – freilich äußerst selektive – Verweis auf den Konsens mit anderen Glaubensgemeinschaften: „Die Überzeugung, dass Homosexualität eine Sünde ist, teilen wir mit Juden und Muslimen, das ist keine Lehre der Piusbruderschaft.“
  • die Koppelung eines rein taktischen und formalen Toleranzbegriffs mit strikt exklusivem Wahrheitsanspruch: „Toleranz bedeutet, dass ich den anderen in seinen Überzeugungen respektiere, auch wenn ich diese für falsch halte, und ihn nicht mit Gewalt zu meinen eigenen Auffassungen bekehren will.“
  • der Verweis auf das Wachstum der eigenen Bewegung und das Schrumpfen der Kirche: „Ja, und deshalb kann uns der Vatikan nicht mehr übersehen. Es ist kein rasantes Wachstum, aber ein beständiges.“
  • die Ankündigung des baldigen Zusammenbruchs: „Die Kirche in Deutschland wird in 15 bis 20 Jahren zusammenbrechen.“

Kennen wir Evangelischen solche Stimmen nicht auch von irgendwoher? Die Piusbrüder würden die verweltlicht-vermenschlicht-verweichlichte Kirche gerne retten, wenn man sie nur ließe. Lassen wir aber das letzte Wort dem Papst, der neulich klar und schön sagte, wie es sich verhält mit Gott und der Menschlichkeit – Gaudron gab es nämlich mächtig verzerrt wieder:

Wenn der Christ restaurativ ist, ein Legalist, wenn er alles klar und sicher haben will, dann findet er nichts. Die Tradition und die Erinnerung an die Vergangenheit müssen uns zu dem Mut verhelfen, neue Räume für Gott zu öffnen. Wer heute immer disziplinäre Lösungen sucht, wer in übertriebener Weise die ›Sicherheit‹ in der Lehre sucht, wer verbissen die verlorene Vergangenheit sucht, hat eine statische und rückwärtsgewandte Vision. Auf diese Weise wird der Glaube eine Ideologie unter vielen. Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen. Auch wenn das Leben eines Menschen eine Katastrophe war, wenn es von Lastern zerstört ist, von Drogen oder anderen Dingen: Gott ist in seinem Leben. Man kann und muss ihn in jedem menschlichen Leben suchen. Auch wenn das Leben einer Person ein Land voller Dornen und Unkraut ist, so ist doch immer ein Platz, auf dem der gute Same wachsen kann. Man muss auf Gott vertrauen.

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Mia san Pionia…?

Gestern bei Missio 2013 ermunterte der 81-jährige Bischof em. John Finney in seinem Schlussstatement dazu, einmal zu sehen, was wir an kreativen Experimenten und neuen Gemeindeformen schon haben, auf die sich zukünftig aufbauen ließe, statt nach England zu schielen und von dort „alte Bischöfe einzufliegen“.

Es wäre wunderbar, wenn wir bald an diesem Punkt wären. Und doch hat der Tag gestern gezeigt, wie wichtig es im Augenblick ist, solche Mutmacher zu haben, zumal sie jenseits der internen Konfliktlinien stehen, an denen sich Dinge allzu oft noch festfahren und verhakeln. Der Humor, die fröhliche Unbefangenheit und die kleinen ermutigenden Weisheiten, die er immer wieder einfließen ließ, haben aus einem Vortrag, den vom Inhaltlichen und Sachlichen her auch manch anderer hätte halten können, etwas Besonderes gemacht.

Nachdem ich es heute schon eimal vom Kontext hatte: Finney hat immer wieder darauf hingewiesen, dass alle Mission kontextgebunden ist. Was wir also „importieren“ sollten, sind nicht die Lösungen, sondern die Fragen und den Mut, nicht nur nach dem Nächstliegenden zu greifen, sondern den üblichen Denkrahmen zu überschreiten.

Das selbstbewusste, aber auch oft selbstgefällige „Mia san mia“ gelte oft leider auch in der bayerischen Landeskirche, sagte ein anderer Redner gestern. Vielleicht lässt es sich allmählich in ein „Mia san Pionia“ verwandeln?

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Weisheit der Woche: klärender Kontrast

Ohne klare Vorstellung vom Kontrast zwischen Gottes herrschaftsfreier Ordnung und dem Herrschaftssystem wird das Evangelium in einem soziopolitischen Vakuum verkündet, einem zeitlosen, orts- und kontextfreien, ewigen Nirgendwo. Die Wahrheiten des Evangeliums werden als ewige Prinzipen behandelt, die mit den konkreten Dingen dieser Welt nichts zu tun haben.

Walter Wink

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Fremdschämen

Gestern Abend in einem kleinen orientalischen Imbiss nahe Paddington. Ich warte auf mein Essen, vor mir stehen zwei Mittfünfziger in der Schlange und unterhalten sich auf Deutsch. Ich versuche, nicht hinzuhören, aber es funktioniert nicht. Die beiden reden während des Wartens (vielleicht auch wegen der Wartezeit) darüber, was hier alles nicht richtig läuft und was man tun müsste, wenn man wirklich Geld verdienen wollte. Die eigenen Landsleute sind erst in der Fremde so richtig peinlich.

Mag sein, dass das eine oder andere Körnchen Wahrheit drin war. Ist das vielleicht eine nationale Krankheit, dass wir immer Zensuren verteilen und allen anderen erklären müssen, was sie falsch machen? Die Angestellten in dem Imbiss haben es zum Glück nicht verstanden, hoffe ich. Ich hatte keine Lust, mich in das Gespräch einzuschalten. Das Essen war gut, die Leute waren freundlich, der Preis war anständig – alles gut.

Es erinnerte mich an ein Gespräch, das mein Sohn mit ein paar bayerisch sprechenden älteren Damen auf der Zugspitze führte. Im Gipfelrestaurant trafen wir verschwitzen Wanderer ein sehr internationales Publikum. Offenbar veranlasste das die beiden zu dem abfälligen Kommentar, „ganz Arabien“ sei ja inzwischen hier versammelt. Mein Sohn erzählte von und fand dann missbilligend, die beiden hätten sich doch besser freuen sollen, dass Touristen kommen und einen Haufen Geld im Land ausgeben.

Ich war mehr als nur ein bisschen stolz auf seine Reaktion…

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Wo (das) Fleisch ist, da ist Freiheit

Sascha Lobo stellte gestern in seinem Fazit zur Wahl nicht ohne Befremden fest: „Die Bürger fürchten den Veggie-Day in der Firmenkantine mehr als die Totalüberwachung des Internets.“ Fleischtöpfe statt Freiheitsrechte, das ist ein Thema, das auch in der Bibel schon gelegentlich vorkam.

Nun sind wir gesamtgesellschaftlich bei der Umkehrung des Freiheitsgedankens angelangt, den Paulus in 2.Kor 3,17 formuliert: Die Option des Konsumenten, Fleisch (oder was auch immer sonst) zu konsumieren – und zwar wann, wo, wie oft und in wie viel er will – wird als wichtige Freiheit behauptet. Das ist auch eine Art, sich über die fortschreitende Fremdbestimmung unseres Lebens hinwegzutrösten. Offenbar eine bevorzugte, weil sie uns weder mit den komplexen äußeren Ursachen dieser Unfreiheit konfrontiert noch unsere innere Verstrickung in dieselben beleuchtet.

Die Freiheit des Geistes, von der Paulus spricht, würde bedeuten, sich genau diesen Themen zu stellen und die Angst vor der Auseinandersetzung mit sich selbst wie mit den treibenden Kräften hinter unseren Ohnmachtsgefühlen zu verlieren, um am Ende sogar zu der Hoffnung zu gelangen, dass das Wunder der Freiheit nicht nur in der Innerlichkeit des einzelnen, sondern auch in gesellschaftlichen Beziehungen passieren kann.

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Gottes weiter Horizont: Keltische Spiritualität entdecken

Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut, am 18. und 19. Oktober hier in der Region, im Spirituellen Zentrum im Eckstein einen Vortrag (Freitag) und ein Seminar (Samstag) über keltisch-christliche Spiritualität zu halten. In diesem Jahr habe ich ja wieder einige Entdeckungen gemacht und einige Ursprungsorte besucht.

Das Ganze war sehr inspirierend und bereichernd, weil sich hier Dinge schon verbunden hatten, die wir heute erst wieder mühsam zusammenbringen müssen. Und ich gebe die Einladung auch deshalb gern weiter an alle, die es interessiert. Wer unentschlossen ist, kann auch am Freitag Abend kommen und sich dann noch kurzfristig für den Samstag anmelden. Hier ist der offizielle Kurztext zum Thema:

Die Geschichte des keltischen Christentums zeigt: Mönche aus Irland und Britannien waren die Missionare des frühen Frankenreiches. Begegnen wir in dieser Kirche also den Wurzeln des eigenen Glaubens, dem Ursprung der Christianisierung Bayerns? Wie das Evangelium das untergehende römische Reich hinter sich ließ und bei den Kelten Fuß fasste, fasziniert bis heute: Denn es zerstörte deren Kultur nicht, sondern verlieh ihr einen kreativen Schub. Nicht zuletzt finden sich im Leben der letzten Kelten und ersten Christen Impulse für eine frische und nachhaltige Mystik, in die wir heute wieder meditativ einüben können.

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Wahrheit als Gemeinschaft

Ich hatte es ja kürzlich schon einmal kurz angerissen – Parker Palmer entwickelt in To Know as We Are Known eine biblisch-theologische Grundlegung des christlichen Wahrheitsbegriffs, die sich für mein Empfinden wirklich sehen lassen kann.

Palmer beginnt mit dem Johannesevangelium, in dem Jesus den Anspruch erhebt, die Wahrheit in seiner Person zu verkörpern. Das frühe Christentum hat diese Aussage bestens verstanden (das keltische Christentum im Übrigen auch!), dass es hier nicht primär um Logik und Lehrsätze geht, sondern um Menschen und deren Leben. Deswegen erzählen die Evangelien auch eine Geschichte, anders lässt sich lebendige und persönliche Wahrheit gar nicht ausdrücken.

Den Kontrast zu Jesus bildet Pilatus mit seiner Frage „Was ist Wahrheit?“, als er sich Jesus gegenüber sieht. Das „was“ deutet schon an, dass Pilatus Wahrheit als Gegenstand versteht, als Objekt der Betrachtung, das für den so distanzierten Betrachter selbst etwas Äußeres bleibt. Pilatus versucht Jesus im Folgenden zu objektivieren, etwa mit dem Etikett „König“. Jesus sperrt sich gegen eine Kategorisierung, die ihn auf bestimmte Kriterien und Eigenschaften (z.B. „Freund“ oder „Feind“) reduziert. Stattdessen konfrontiert er den Pilatus mit seinem persönlichen Anspruch und seiner einzigartigen Geschichte, aber auf dem Ohr ist Pilatus taub. Er will sich auf keine Beziehung einlassen, die ihn verändern könnte.

Palmer folgert: Im christlichen Verständnis ist Wahrheit kein externer Gegenstand und auch keine Lehraussage über einen solchen. In Jesus wird das Wort Fleisch und damit besteht die Verbindung zu Gott in dieser menschlichen, persönlichen Beziehung:

Wenn Jesus sagte „Ich bin … die Wahrheit“, dann stellte er damit keine eigenwillige Behauptung über eine Privatperson auf, er lud zu keiner Beziehung ein, die entweder alles wäre, was wir wissen müssten, oder die sich von allem anderen abkoppeln ließe. Er behauptete weder, dass er alle Wahrheiten in seinem Kopf hatte, noch dass uns seine Wahrheit der Aufgabe enthebt, die Wahrheit in ihren vielfältigen Formen zu suchen. Stattdessen kündigte er ein neues Verstehen der Wirklichkeit und unserer Beziehung zu ihr an und verkörperte das auch. Die Wahrheit – wo immer und in welcher Gestalt man sie auch findet – ist persönlich und man erkennt sie durch persönliche Beziehungen. Die Suche nach dem Wort der Wahrheit wird zur Suche nach der Gemeinschaft miteinander und der ganzen Schöpfung. (S. 49)

Arne Bachmann hat in einem Post über Zizek und Badiou jüngst einen ähnlichen Gedanken beschrieben: „In einem Wahrheits-Ereignis zeigt sich immer etwas Partikulares (hier: Jesus von Nazareth) als etwas Universelles.“ Palmer verweist an dieser Stelle auf Martin Buber, der die tiefere Dimension der Wirklichkeit als Ich/Du-Verhältnis beschrieb. Und er fügt gleich hinzu: Ein solches Verständnis von Wahrheit als Beziehung bedeutet nicht, dass Christen das Wissensmonopol besäßen. Denn wenn Wahrheit persönlich ist, dann ist sie auch (nicht nur, aber auch) in jedem Menschen anzutreffen, egal welchem Glauben er angehört.

Wahrheit finden wir nicht im Kleingedruckten unserer Theologie oder der Zugehörigkeit zu einer Organisation, sondern in der Qualität unserer Beziehungen – zu einander und zur geschaffenen Welt. (S. 50)

Das größte Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit ist der Objektivismus, der sich innerlich unbeteiligt aus den Beziehungen herausnimmt und damit immer auch die Tendenz zu Spaltung, Manipulation und Unterdrückung in sich trägt. Zudem verengt er die Wahrnehmung auf Empirie und Vernunft, statt den ganzen Menschen als das „Instrument“ zu betrachten, das die Wirklichkeit in sich aufnehmen und abbilden kann. Nur dieses umfassend verstandene Selbst, das mehr ist als die Summe seiner Teile und Eigenschaften, sondern in sich schon ein vielstimmiger Mikrokosmos, kann in Beziehung mit seiner Umwelt treten:

Die Beziehungen des Selbst erfordern nicht nur Sinneseindrücke vom anderen; nicht nur logische Verbindungen zwischen Ursache und Wirkung; sie erfordern auch ein inneres Verstehen des anderen, das durch Empathie entsteht; ein Gespür für den Wert des anderen, der durch Liebe entsteht; ein Gefühl für seine Herkunft und sein Ziel, das aus dem Glauben kommt; und eine Achtung seiner Integrität und seiner Selbstheit, die daher rührt, dass wir auch unsere eigene achten. (S. 52f.)

Anders als beim Objektivismus, der Wahrheit auf Empirie und Vernunft reduziert, ist dieser Ansatz keine erkenntnistheoretische Einbahnstraße, er die Beziehung setzt eine Wechselwirkung voraus, in der der Erkennende sich zugleich auch erkennen und verändern lässt. Aber weil die Wahrheit gemeinschaftlich ist, erweist sich auch der Subjektivismus als Sackgasse. Dessen Aufspaltung der Wirklichkeit in „meine“ und „deine“ Wahrheit, die fortan beziehungslos nebeneinander stehen, greift ebenfalls zu kurz. Denn wenn alles an den persönlichen Empfindungen und Bedürfnisse gemessen und durch keine äußere Wahrheit mehr erweitert und bereichert wird, isoliert sich das Selbst, es verliert sich in seiner eigenen Welt und alles andere (andere Menschen und deren Welt) wird zu einem Objekt ohne Bedeutung.

Wir begegnen hier einem wichtigen Paradox: Indem der Objektivismus die Welt auf eine Ansammlung von Gegenständen reduziert, stellt er den Erkennenden in ein Feld stummer und lebloser Objekte, die passiv seinen Definitionen ihrer selbst unterliegen. In dieser Hinsicht erschafft der Objektivismus die subjektivste aller Welten, eine Welt von Dingen, die sich nicht wehren und ihre Selbstheit behaupten können. (S. 55)

Wahrheit als Beziehung ist Wahrheit auf Gegenseitigkeit. Etwas wirklich zu kennen bedeutet, eine innere Verbindung herzustellen und es zu einem Teil von mir werden zu lassen. Palmer zitiert Abraham Heschel, der gesagt hat, man könne die Wahrheit nicht finden ohne sich zu verlieben. Wenn wir von Wahrheitssuche reden, dann wird diese aus christlichem Verständnis weniger dadurch kompliziert, dass die Wahrheit verborgen wäre und sich uns entzieht, sondern dass wir uns der Wahrheit entziehen, die uns aufsucht. Darin lag das Geheimnis der Wüstenväter: Sie zogen in die Einsamkeit und Stille, damit die Wahrheit sie finden und stellen konnte.

Und so kann es sein, dass mich die Wahrheit auch in Gestalt einer Romanfigur verfolgt und einholt. Palmer sagt, wenn man die Metaphern des Objektivismus aus der Festkörperphysik auf den Erkenntnisprozess anwenden kann, dann lassen sich auch Natur- und Sozialwissenschaften in den Begrifflichkeit von Person und Beziehung ausdrücken und die nichtmenschliche Schöpfung wird Teil einer lebendigen Gemeinschaft der Wahrheit, die zu uns „spricht“. Wissen, das personifiziert, ist kein anthropomorph verzerrendes oder minderwertiges Wissen, so wie die Inkarnation in christlichem Verständnis Gott auch nicht auf ein plattes Menschsein reduziert. Stattdessen öffnet sie einen weiten Raum:

Das Band des Zuhörens hält die kosmische Gemeinschaft zusammen – das vorsichtige, verletzliche Hören darauf, wie die Dinge von diesem Standpunkt aus aussehen und von jenem und jenem, ein Hören, das es uns erlaubt, den anderen nicht nur zu kennen, sondern auch von seinem Standpunkt aus erkannt zu werden. Der Objektivismus sagt der Welt, was sie ist, statt darauf zu hören, was sie über sich selbst sagt. Der Subjektivismus ist der Entschluss, auf niemanden zu hören außer uns selbst. Aber die Wahrheit erfordert es, dass wir gehorsam auf einander hören, auf das antworten, was wir hören, und das Band der Gemeinschaft der Treue [community of troth] anerkennen und neu knüpfen.

Truth as troth – Wahrheit als personales Treueverhältnis, mit diesem englischen Wortspiel drückt Palmer die entscheidende Dimension des Persönlichen und der Beziehung aus. Das hat bei ihm zum Beispiel Folgen für eine ökologische Ethik, in der wir die Schöpfung nicht als Objekt verstehen und uns selbst als ihre Mitgeschöpfe. Und Dietrich Bonhoeffer hat in der Diskussion um die Wahrheit menschlichen Redens im 8. Gebot das Fallbeispiel eines Schülers mit einem alkoholkranken Vater gebraucht. Der Lehrer fragt den Jungen vor versammelter Klasse (und daher in der klar erkennbaren Absicht, ihn zu demütigen), ob sein Vater immer noch trinke. Der Junge verneint und bleibt damit in der Beziehung zu seinem Vater treu und loyal. Der desinteressierte Lehrer und die Mitschüler hingegen haben kein Recht, Einblick in die Not dieser Familie zu erhalten. Der objektivistische Wahrheitsbegriff ließe mit seiner binär-ausschließenden, trivialen Logik eine solche Differenzierung, wie Bonhoeffer sie vornimmt, gar nicht zu. Liebe, Empathie und Glaube aber geben dem Jungen Recht, wenn er so redet.

Bernhard von Mutius kommt in Die andere Intelligenz Palmers relationalem Verständnis von Wahrheit von einer anderen Seite nahe. Er zitiert Hannah Arendt, die gesagt hatte: „Politik entsteht im Zwischen – in dem Zwischen-den-Menschen – und etabliert sich als Bezug.“ Er plädiert daher für ein „Denken nach den großen Theorien“, das die Perspektive des anderen einschließt und die Beziehung, eben das Dazwischen, in den Mittelpunkt rückt. Schließlich spielt sich Denken in unserem menschlichen Gehirn auch im Dazwischen ab, nämlich den Verknüpfungen der Neuronen. Ein solches Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit hat unmittelbare Auswirkung auf gesellschaftliche Zusammenhänge:

Viele Führungsverantwortliche in der Politik wie in der Wirtschaft kleben immer noch an alten, verdinglichten Ordnungskonzepten, an objekthaft gedachten Programm- und Planvorstellungen, in denen vitale Beziehungsgeflechte der Menschen. ihre aus positiven und negativen Identifikationen gespeisten Handlungsenergien allenfalls ganz am Rande auftauchen. Es ergeht ihnen deshalb bei der »Umsetzung« ihrer so exakt geplanten und berechneten Strategien häufig so wie bei dem seltsamen Crocket-Spiel im Wunderland, von dem Alice sagt: ”Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie man durcheinanderkommt, wenn das ganze Spielgerät lebendig ist; mein nächstes Tor zum Beispiel läuft gerade dort hinten auf dem Spielfeld herum.«

Der Objektivismus, mit dem man sich von der Willkür feudaler Herrscher und ihrem Subjektivismus befreien wollte, hat also seinerseits die Neigung zu autoritären Top-Down-„Lösungen“ befeuert. Der Relativismus eines „schwachen Pluralismus“ hingegen hat, um diesem Diktat zu entgehen, zum Kampf aller (sich selbst isolierender) Akteure um die Deutungshoheit geführt, in dem sich am Ende der Gewiefteste, Skrupelloseste oder Mächtigste behauptet. Palmer schließt das Kapitel mit der Bemerkung, wie die Suche nach der Wahrheit heilsam und verbindend wirken kann:

Die Anschauung, dass Wahrheit persönlich ist, führt weder zum objektivem Imperialismus noch zum subjektiven Relativismus. Stattdessen findet man die Wahrheit, indem wir einer pluralistischen Wirklichkeit gegenüber gehorsam sind, uns geduldig auf einen Prozess der Zwiesprache einlassen, nach einem Konsens suchen und einer persönlichen Verwandlung, die alle Beteiligten dazu bringt, sich unter das Band des gemeinschaftlichen Treueverhältnisses zu begeben.

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Wer verliert, wenn die Verlierer gewinnen?

Das Thema Macht lässt mir keine Ruhe, weniger wegen der (nun doch noch spannenden?) Wahl am Sonntag, sondern aus einem theopolitischen und soziospirituellen Interesse, das mich seit langem schon begleitet. Gestern habe ich dazu einen langen Post zu Zygmunt Baumans Analyse der Sicherheitsreflexe unserer verunsicherten Gesellschaft geschrieben – die sind im aktuellen Wahlkampf mit Händen zu greifen.

Einen anderen wichtigen Aspekt steuert dieser Artikel von Sven Stillich auf Zeit Online bei. Dort wird unter anderem beschrieben, dass das Bedürfnis, andere Menschen zu demütigen, bei Menschen mit niedriger Anerkennung und sozialem Status deutlich höher ist als bei den „wirklich“ Mächtigen (die Mächtigen mit hohem Status neigen „nur“ zu Überheblichkeit und werden einsam): „Menschen, die ihren eigenen Status als Erniedrigung auffassen, [lassen] bei Machtgewinn oftmals andere darunter leiden.“ Die Wärter von Abu Ghraib waren, so Stillich, Reservisten, auf die der Rest der Truppen im Irak herabsah.

Wer sich als Ohnmächtig erlebt, neigt also zum Missbrauch der wenigen Macht, die ihm noch bleibt. Das ließe sich nun an vielen Beispielen durchbuchstabieren, nicht nur in Syrien und Ägypten, sondern auch direkt vor unserer Haustüre.

Vielleicht ist aber eine andere Frage interessanter: Welche Art von innerer Veränderung ist nötig, damit die ehemals Ohnmächtigen tatsächlich mit Macht und Verantwortung umgehen können? Was lässt sich der perversen Logik der Despoten entgegensetzen, die behaupten, nach ihrer Entmachtung werde alles nur schlimmer?

Das ist auch, ja vor allem eine spirituelle Frage. Möglicherweise liegt hier das Potenzial des Evangeliums, das Menschen die Würde der Gotteskindschaft zuspricht, und das von einem wahrhaft Mächtigen handelt, der sich selbst erniedrigt. Der es nicht nötig hat und für nötig hält, andere seine Überlegenheit schmerzhaft spüren zu lassen. Wie lässt sich das nun so vermitteln, dass es sein revolutionäres Potenzial tatsächlich entfaltet und die Rache- und Gewaltphantasien schon im Keim erstickt?

Einen kleinen Hinweis darauf, wie es aussehen könnte, gibt dieser Bericht über die Arbeit der Franziskaner in der Bronx. Da gewinnen die Verlierer, ohne jemand anderen eine Niederlage beibringen zu müssen.

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Der verfehlte Hass der (vermeintlich?) Ohnmächtigen

DSC01051.jpgZygmunt Bauman hat mit Collateral Damage keine schrille und leicht zu diskreditierende Apokalypse, sondern eine nüchterne, zutiefst beunruhigende, aber alles andere als leidenschaftslose Zustandsbeschreibung unserer westlichen Welt vorgelegt. Das grundsätzliche Lebensgefühl (Wolfgang Herles sprach es gestern bei Pelzig hält sich an) in einer fundamental unberechenbaren Welt ist das der Unsicherheit. Folglich nimmt das Bedürfnis nach Sicherheit dramatisch zu.

Aber wie gehen Bürger und Politiker nun damit um? Es werden immer mehr Versuche unternommen, bestimmte Risiken zu eliminieren, und diese Maßnahmen haben einen immens hohen Preis. Neben den monetären Kosten bleibt vor allem eine am Gemeinwohl orientierte Ethik auf der Strecke, wie Bauman treffend anmerkt. Im Namen der Sicherheit werden bestimmte „Risikogruppen“ pauschal entmenschlicht und ausgegrenzt:

What casts security and ethics in principled opposition to each other (an opposition excruciatingly difficult to overcome and reconcile) is the contrast between divisiveness and communion: the drive to separate and exclude which is endemic to the first versus the inclusive, unifying tendency constitutive of the second. Security generates an interest in spotting risks and sorting them out for elimination, and for that reason it targets potential sources of danger as objects of ‘pre-emptive’ exterminating action, unilaterally undertaken. The targets of this action are by the same token excluded from the universe of moral obligation. Targeted individuals and groups or categories of individual are denied human subjectivity and recast as objects pure and simple, located irrevocably at the receiving end of action.

Sicherheit und Ethik geraten in einen grundsätzlichen Gegensatz zu einander (der sich nur unter großen Anstrengungen überwinden und versöhnen lässt) durch den Kontrast zwischen Spaltung und Gemeinschaft: Der Drang zu trennen und auszuschließen, der in ersterer angelegt ist, gegen die einschließende, verbindende Tendenz, die die letztere konstituiert. Sicherheit führt zu einem Interesse daran, Risiken zu erkennen, sie zu kennzeichnen, um sie ausmerzen zu können, und aus diesem Grund nimmt sie potenzielle Gefahrenquellen als Objekte „präventiver“ Beseitigungsmaßnahmen ins Visier, die einseitig unternommen werden. Die Ziele diese Aktion sind im Gegenzug aus dem Universum moralischen Anspruchs ausgeschlossen. Den anvisierten Individuen und Gruppen oder Kategorien von Individuen wird es vorenthalten, ein menschliches Subjekt zu sein, sie werden schlicht und ergreifend zu Objekten reduziert, die unwiderruflich nur noch Betroffene dieser Maßnahmen sind.

Bauman erinnert daran, wie Juden und „Zigeuner“ im dritten Reich durch „sanitäre“ Maßnahmen beseitigt wurden. Von heutigen Sicherheitsdebatten unterscheidet sich der Rassenwahn von damals sehr wohl durch andere Auswahlkriterien, nicht aber darin, dass das subjektive Bedürfnis nach Sicherheit keine Grenzen kennt und die Angst zunimmt, je mehr man sich in Kokons abschottet und in „gated communities“ einmauert. Es sind weiterhin „die Fremden“ vor der eigenen Haustür, auf die man die Angst projiziert, deren eigentliche Ursachen oft hunderte oder tausende Kilometer entfernt liegen, wenn man ihnen überhaupt einen bestimmten Ort zuweisen kann. Und je länger man im Ghetto und der sehr exklusiven und noch oberflächlicheren Gemeinschaft derer zubringt, die genauso sind wie man selbst (und der man sich auch nur so lange aussetzt, wie man Lust darauf hat), desto mehr schwindet die Fähigkeit, mit Andersartigkeit überhaupt noch angstfrei klarzukommen:

The principal beneficiary is our fear: it thrives and exuberates as it feeds on our border-drawing and border-arming efforts.

Der hauptsächliche Nutznießer ist unsere Angst: sie blüht und gedeiht durch unsere Bemühungen, Grenzen zu ziehen und uns zu wappnen.

Existenzielle Angst und die Suche nach Sicherheit, der Hang zur Ausgrenzung und der Hass auf Fremde und Schwache sind zentrale Themen der biblischen Überlieferung und der christlichen Theologie. Um so interessanter ist es, wie Bauman die Lösungsstrategien der Gegenwart beschreibt und bewertet:

Über kurz oder lang führt der Sicherheitswahn zum Verlust jeglichen Vertrauens innerhalb einer Gesellschaft: Verdächtigungen, Abgrenzungen, Feindseligkeit, Aggression und das Verkümmern moralischer Hemmungen. Und diese Phänomene sind keineswegs nur das Problem rechtspopulistischer Rattenfänger. Der wahre Grund der Unsicherheit der Mittelschicht sind nicht die Armen, sondern die alles andere als unbegründete Angst vor dem plötzlichen und unwiderruflichen Absturz, dem Verlust sozialer Privilegien und dem Ausschluss aus einer immer unsolidarischeren Gemeinschaft. Dagegen bieten auch Familie und Partnerschaft kaum noch Schutz, sie sind selbst brüchig geworden unter der Dauerbelastung unsicherer Arbeitsverhältnisse und ausgebluteter Sozialsysteme: Die Profiteure dieser Entwicklung, die ständig reicher werdenden Milliardäre, werden als Helden verehrt und bewundert. Das Vermögen der reichsten 400 US-Amerikaner (und das ist durchaus repräsentativ für die Superreichen weltweit) hat sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt, allein im vergangenen Jahr stieg es um über 300 Milliarden auf nun 2 Billionen, schrieb Forbes diese Woche.

Dass Baumans Analyse brandaktuell ist, zeigt ein kurzer Blick in die Tagespresse: Nils Minkmar weist aktuell in der FAZ auf eine Studie des Rheingold-Instituts hin, die zeigt, dass in der „Beschaulichkeit des Merkelschen Neobiedermeier“ eine neue Qualität des Hasses auf Randgruppen und der Ausgrenzung heranwächst:

In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in Rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass „das eigene Geld im Süden versickert“; dass Zuwanderer und soziale Randgruppen „Geld von Vater Staat geschenkt bekommen“. Im Fokus des Hasses sind Hartzer und Sozialschmarotzer, die Faulenzer im Süden, die üblichen Verdächtigen. In der Studie heißt es dazu: „Die Angst vor der eigenen Ohnmacht beschwört die Sehnsucht nach eigener Tatkraft und der verlorenen Gewissheit, Herr im eigenen Haus zu sein.“

Und er lastet diese Entwicklung der Politik und Wahltaktik der Kanzlerin direkt an, wenn er weiter folgert:

Das ist die Gefahr, welche die Kanzlerin heraufbeschwört, wenn sie den Eindruck erweckt, man könne nichts machen und müsse das ja auch gar nicht; welche auch die Medien befördern, wenn sie die Möglichkeit einer anderen Politik als von vorneherein chancenlos und daher irrelevant karikieren; und die jene Intellektuelle in Kauf nehmen, die erklären, man könne ebenso gut auch nicht zur Wahl gehen. Es gibt in diesem Land eine manifeste Gefahr von Rechts, die sich ermutigt fühlt, je mehr alle anderen das Vertrauen in die Politik verlieren. Zudem ist der Eindruck, dass die Wahl entschieden sei, oder irrelevant und bloße Therapie, völlig falsch. Fast meint man, jemand habe ein Interesse daran, eine Macht, die alle teilen, permanent klein zu reden. Es ist aber echte und große Macht.

Da kommt also noch einiges auf uns zu…

(Wer möchte: hier geht’s zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Bauman-Reihe)

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Mächtig verunsichert?

Eine Studie über das Verhalten von Bürokraten hat unbeabsichtigt, aber wunderbar klar herausgearbeitet, schreibt Zygmunt Bauman in Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age, wie Macht in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen funktioniert. Die einzelnen Exponenten und Ämter seien stets darauf aus gewesen, die Spielräume der anderen möglichst strikt zu regulieren, während man sich selbst jeder Festlegung zu entziehen versuchte. Wenn „der andere“ erst einmal seiner Handlungsoptionen beraubt war, konnte man sein Verhalten ausrechnen und ihn umgekehrt mit unvorhersehbaren Manövern ständig unter Druck setzen.

Anders gesagt: Wer den anderen ständig im Ungewissen lassen kann, sitzt am längeren Hebel.

Im Industriezeitalter galt für Unternehmer wie Mitarbeiter insofern noch eine gewisse Chancengleichheit, als etwa Henry Ford seine Angestellten auch als potenzielle Kunden betrachtete. Entlassungen im großen Stil hätten also unmittelbare Folgen für den Absatz und Gewinn des Unternehmens gehabt. Mit dem Anbruch der flüssigen Moderne hat sich das geändert, und der massiv geschwächte Staat hat dem kaum etwas entgegenzusetzen (tatsächlich haben die Regierenden auch gar kein Interesse daran!).

Es gibt jetzt nur noch eine einseitige Abhängigkeit, die Bosse waren für die Arbeiter außer Reichweite und hatten plötzlich zahllose Optionen auf ihrer globalen Spielwiese, während die einzelnen immer weniger Alternativen dort hatten, wo sie lebten. Die Folgen waren schwerwiegend – alles wurde beweglich, auch die Arbeitsprozesse selbst wurden dereguliert, plötzlich mussten die Leute nicht nur arbeiten, sondern ihre Arbeit in einem vorsätzlich immer willkürlicheren System auch selbst organisieren und verantworten:

During that second revolution, the managers banished the pursuit of routine and invited the forces of spontaneity to occupy the now vacant supervisors’ rooms. They refused to manage; instead, they demanded from the residents, on the threat of eviction, self-management.

… the new managerial philosophy is that of comprehensive deregulation: dismembering the firm and fixed procedural patterns that modern bureaucracy sought to impose. It favours kaleidoscopes over maps, and pointillist time over the linear. It puts intuition, impulse and spurs of the moment over long-term planning and meticulous design.

Um eine Gesellschaft aus derart verunsicherten Individuen dazu zu bringen, gegen die Mächtigen nicht aufbegehren, sondern sich freiwillig zu unterwerfen, sind noch weitere Tricks nötig. Im nächsten Post geht es dann um die systemstabilisierende Funktion der Angst vor den Fremden.

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