Weisheit der Woche: Zeitlose Zeitlichkeit

Es ist kein Zufall, dass das Neue Testament zu einem wesentlichen Teil aus Briefen besteht. Diese Briefe führen vor Augen, was es heißt, ganz und bejahend in der Welt zu leben, ohne in ihr letztlich beheimatet zu sein. Sin sind die zentrale literarische Form für das christliche Selbstverständnis zwischen diesseitiger Zeitgenossenschaft und dem Wissen, nicht dieser Zeit und dieser Welt anzugehören. Der Brief im biblischen Kanon bringt das zur Abbildung: zeitlose Zeitlichkeit eines Dokuments.

Christian Lehnert, Korinthische Brocken, S. 13.

 

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Lieber Udo,

ich habe den fröhlichen Klang der Stimmen, die Abenddämmerung nach der großen Hitze, die Kerzen auf unserer Terrasse, den Geruch von Gras, Wein und Pasta noch ganz frisch im Gedächtnis. Spät am Abend seid Ihr von meiner Geburtstagsfeier aufgebrochen, und wie hätte man in der gelösten Stimmung auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen können, dass wir uns gerade für immer verabschieden – diesseits der Ewigkeit?

In diesen letzten Wochen habe ich Dich gelöst erlebt, wie Du von der letzten Reise geschwärmt hast und Dich auf den bevorstehenden Urlaub in Rovinj gefreut hast, das für Dich ein paradiesischer Ort war. Diese Leichtigkeit mitzuerleben war angesichts all der schweren und düsteren Zeiten, die Du in den letzten Jahren wiederholt durchleiden musstest, etwas sehr Kostbares. Deine äußere Robustheit und Umtriebigkeit hat diese zerbrechliche Zartheit häufig verdeckt, und manchmal, so scheint mir, bist du selbst darüber erschrocken, wenn sie durchkam.

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Aber auch im finstern Tal warst Du Dir nie selbst genug, immer hast Du Dich erkundigt, identifiziert, Anteil genommen, Dich nach Kräften und darüber hinaus zuständig gefühlt und mitgedacht. Das ist auch eine dieser Erinnerungen, die bleibt und um die wir uns in diesen Tagen immer wieder versammeln. Es gibt, um eine Redewendung aus „Der Gott der kleinen Dinge“ zu borgen, ein Udo-förmiges Loch im Universum. Und unsere Seele taumelt hin und her zwischen Tränen, Taubheit oder Trotz, und findet zwischendurch Halt in irgendeiner mechanischen Tätigkeit, zu der wir uns überreden.

Als unser gemeinsamer Freund Horst vorletztes Jahr – auch in den Ferien, auch am Wasser – verunglückte, als jene Lücke im Universum sich jäh vor uns auftat, waren wir beide in so einem benommenen Zustand – und es war gut, dass wir einander hatten. Ich habe die Worte damals ein bisschen eher wiedergefunden als Du, aber jetzt kämpfe ich mächtig darum, und es fällt mir schwerer denn je. Als hätte jemand zähes Schweröl über meine Gedanken ausgegossen. Die Nachricht, dass ein achtloser Freizeitkapitän Dich arglosen Schwimmer tödlich verletzt hat, hätte unfassbarer nicht sein können – und sie fühlte sich doppelt bitter an. Bestimmt muss es doch ein Gesetz geben, das mehrere Schläge in die gleiche Kerbe untersagt! Die Ähnlichkeit hat für uns Hinterbliebene (seltsam, wie ein so hölzerner Begriff die Gefühlslage so treffend abbilden kann…) nicht nur etwas absurd Sinnloses, sondern auch fast etwas Zynisches an sich, weil sie das Einzigartige dieses Verlustes scheinbar relativiert.

Unbegreiflich ist Dein Weggang auch, weil wir alle Deine Beständigkeit und Treue kannten. Wenn Du in den Urlaub aufbrachst, hast Du Dich meist verabschiedet und danach wieder zurückgemeldet. Wen Du einmal in den Kreis Deiner Freunde aufgenommen hattest, der musste sich schon selbst daraus entfernen. Alle anderen Adressaten Deiner Anteilnahme und Fürsorge konnten Deines Wohlwollens gewiss sein – auf Lebenszeit. Die aber haben wir, wie sich zeigt, zu optimistisch eingeschätzt.

In den letzten vierzehn Tagen habe ich mit vielen geredet, die Dich gekannt und geschätzt haben. Es gab kaum ein anderes Thema. In ihren Worten war so viel Sympathie, Dank, Bewunderung und Hochachtung zu spüren. Und es waren immer wieder Erinnerungen dabei, wo wir trotz allem ins Schmunzeln kamen. Dieses „Höher, schneller, weiter“ etwa, das nicht nur in Deiner Leidenschaft für den Sport zu spüren war und allen, die mit Dir in den Bergen gewandert sind, in lebhafter Erinnerung bleibt. Du hast Dinge nie auf-, sondern unermüdlich angeschoben. Das hat es manchmal auch ein wenig anstrengend gemacht für uns, aber Du hast es Dir selbst mehr als jedem anderen zugemutet. Und während wir so redeten, fragte ich mich, ob hinter dieser Eile und dem Elan, mit dem Du Deine Tage so randvoll bepackt hattest, irgendwie schon immer die Ahnung steckte, dass Dir tatsächlich weniger Lebenszeit vergönnt war als vielen anderen.

Am Morgen nach Deinem Tod nahm ich an einer Andacht teil. Sie fand im Garten eines Exerzitienhauses statt und begann mit der Einladung, mich umzusehen und dann einige Minuten an einem Ort zu verbringen, zu dem ich mich hingezogen fühlte. Zwei Meter vor meinen Füßen stand eine Pusteblume, die der Rasenmäher offenbar verfehlt hatte – die einzige weit und breit. Ich blieb regungslos stehen vor diesem Symbol der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Und während ich noch dort stand und die Blume ansah, kam jemand vorbei und stieß mit dem Schuh dagegen. Silberne Schirmchen flogen mit dem Luftzug davon, der Stiel blieb fast kahl auf der Wiese zurück. Ich sah noch einen Moment hin, dann kamen die Tränen. Die stumme Trauer hatte in diesem Zeichen einen Ort gefunden, an dem sie zur Geltung kommen konnte – nicht nur in mir sondern vor Gott.

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Als ich über diese Szene nachdachte, fiel mir noch eine weitere Dimension auf, die auch gestern, bei Deiner Beerdigung, mit Händen zu greifen war: Solche „Schirmchen“ Deines Wesens tauchen an so vielen Stellen auf, manch sind tausende Kilometer weit geflogen. Sie sind gelandet bei Menschen, mit denen Du über lange Zeit, große Entfernungen und so manch harte Zerreissproben den Kontakt gesucht, gehalten und oft auch wieder neu geknüpft hast. Ich habe das Nachmittagsprogramm an diesem Tag geschwänzt, meine Laufschuhe angezogen und bin in den Wald gelaufen. Es schien mir der richtige Ort, um an Dich zu denken. Schirmchen flogen durch meinen Kopf – die vielen Runden, die wir in den letzten Jahren durch die Mönau, den Buckenhofer und Tennenloher Forst gedreht haben, während wir über die Höhen und Tiefen unseres Lebens redeten, oder uns Gedanken über Zustand und Richtung unserer Gemeinde machten. Eingehüllt vom intensiven Geruch des Waldes, den Sonnenstrahlen zwischen den Buchenblättern, dem kühlen Wind auf der Hochfläche war die Einsamkeit ein willkommenes Geschenk. Der Takt der Schritte auf dem Schotterweg machte meine Sprachlosigkeit und Leere erträglich.

Ich habe mich in den letzten beiden Wochen mehrfach gefragt, an welchen Ort ich mich zurückziehen könnte, um mich an Dich zu erinnern, aber es fiel mir kein passender ein. Nicht die Ruhe, sondern die Bewegung fühlt sich „richtig“ an. Ich laufe zwar schon immer auch gern alleine, trotzdem werde ich Dich sehr vermissen. Über all die Jahre und Kilometer ist jeder auch ein Teil vom anderen geworden. Von nun an wird die Lücke, die Du hinterlässt, mich begleiten. Seltsamerweise spüre ich schon jetzt, wie mir auch die Seiten an Dir fehlen, an denen ich mich immer wieder gerieben habe. Sie gehörten eben immer auch zum Paket. Umgekehrt haben meine gelegentlichen Flirts mit dem Prinzip der kreativen Zerstörung mehr als einmal Schweiß und Sorgenfalten auf Deiner gewissenhaften Stirn verursacht. Aber wir sind immer weiter gelaufen, haben immer weiter geredet und, wenn nötig, auch mal geschwiegen.

Apropos Abschied und Bewegung: Der geniale Songpoet Rich Mullins (er starb 1997 bei einem Autounfall), hat sich in einem seiner Lieder Gedanken über den Tod gemacht.

When I leave I want to go out like Elijah

With a whirlwind to fuel my chariot of fire

And when I look back on the stars

Well, it’ll be like a candlelight in Central Park

And it won’t break my heart to say goodbye

Elia, der alte Haudegen, dämmerte nicht etwa auf sein Ende hin, sondern wurde nach biblischer Darstellung mitten aus seinem turbulenten Wirken zum Himmel entrückt. Eine andere Zeile aus dem Text lautet:

On the road to salvation

I stick out my thumb and He gives me a ride

And His music is already falling on my ears

Was für Musik auch immer Dich vor Istriens Küste davongetragen hat, sie wird irgendwann auch uns endgültig trösten, wenn sie an unser Ohr dringt. Bis dahin halte ich es auch mit dem guten Rich, wenn er schreibt:

I’m here to tell you I’ll keep rocking, ‚til I’m sure it’s my time to roll.

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Apropos Beißattacken

Die Szene sieht man im Profifußball öfter: Beim Foul geht Sekundenbruchteile nach dem Opfer auch der Täter mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und hofft, dass die Unparteiischen so nicht mehr unterscheiden können, wer hier wem in die Knochen getreten hat. Aktuell zu besichtigen in den Videos von Luis Suarez’ Beißattacke. Kein neuer Trick, aber wirkungsvoll – sofern es keine Kameras mit Superzeitlupe gibt.

In der öffentlichen Debatte passiert gelegentlich etwas ganz Ähnliches. Da geht jemand mit einem dramatischen Aufschrei zu Boden, der verdeckt, dass eben diese Person gerade ein Foul begeht. Meistens wird dabei die bedrohte Meinungsfreiheit ins Feld geführt, im Rahmen derer manche meinen, diskriminierende Äußerungen über andere in die Welt setzen zu können. Gelegentlich auch die Religionsfreiheit, so als lasse einem der eigene Glaube gar keine andere Wahl, als andere in irgendeiner Form als defizitär oder gefährlich zu denunzieren und zu kategorisieren.

Zwei Musterbeispiele für diese Verkleidung des Wolfes im Schafspelz aus letzter Zeit sind die Klage von Henryk Broder, inzwischen würden weiße alte Männer diskriminiert, und die Reaktion des (inzwischen ehemaligen) CDU-Lokalpolitikers Sven Heibel, der sich den Paragraphen 175 StGB zurück wünscht (beziehungsweise dessen Streichung einfach ignoriert), und dafür empörte Kritik erntete. Sogar aus der eigenen Partei, aber ich nehme an, der Mann wird schon irgendeine Alternative finden.

Nun werden weder Broder noch Heibel demnächst Klage einreichen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ersterer ist nicht etwa das Opfer skrupelloser Nachwuchspolitikerinnen, sondern seines Seelenverwandten Thilo Sarrazin, der ihm das einträgliche Geschäftsmodell geklaut hat und noch effektiver gegen andere stänkert. Über Political Correctness wird dann geschimpft, über Ideologie und Denkverbote, der Geruch von Verschwörungen herbeigeredet. Andere Opfer vermeintlichen Gesinnungs- und Tugendterrors stimmen bereitwillig ein in den Chor, fertig ist der Protest. Homophobie etwa versteckt sich dann hinter der (freilich absurden) Behauptung, inzwischen „müsse man sich ja schon dafür entschuldigen, dass man heterosexuell sei“.

Eine gute Orientierung darüber, wie die verschiedenen Menschenrechte (in diesem Fall: Religionsfreiheit und LSBTI-Rechte) miteinander verwoben sind, findet sich in diesem Vortrag von Prof. Heiner Bielefeldt, in dem er für eine Deeskalationsstrategie wirbt, etwa im Fall der britischen Standesbeamtin Lillian Ladele – aber auch klar macht, wo Grenzen gezogen werden müssen. Es ist tatsächlich beides nötig: Konfrontation und weise Zurückhaltung.

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Worauf wir zählen können

Ein sehr lieber Freund ist letzte Woche tödlich verunglückt. Mehr als mein halbes Leben haben wir Höhen und Tiefen des einen wie des anderen geteilt. Unsere Kinder sind zusammen groß geworden, ich erinnere mich an Ausflüge, Urlaube und Feste, das letzte ist gerade zwei Wochen her.

Die Schockwellen laufen unvermindert durch diese Tage, durch die Gemeinde, den Freundes- und Bekanntenkreis. Ich staune, was für eine physische Wucht Trauer hat – auf einzelne und auf Gemeinschaften.

Unter den vielen Fragen und Gedanken, die sich melden, ist auch die Erinnerung an Taufen und Kindersegnungen, wo wir – erst vor wenigen Wochen wieder – Psalm 91,12 zitiert haben:

Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Natürlich ist das der Wunsch aller Eltern für ihre Kinder, aller Menschen für ihre Lieben, dass ihnen Schicksalsschläge erspart bleiben. Nur kann ich nicht erkennen, dass sie Christen oder religiöse Menschen seltener träfen. Willkürlich und unerklärlich widerfährt Leid, wie auch glückliche Rettung aus Gefahr, den einen ebenso wie den anderen. Oder wie Jesus es ausdrückte: Gott lässt die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte.

(Bevor jetzt jemand eilig protestiert: Angenommen, es ließe sich statistisch nachweisen, dass Christen seltener von Unfällen und schweren Krankheiten betroffen wären, wäre das nicht ein recht zwiespältiger Anreiz, sich dem Glauben zuzuwenden?)

Gott als eine Art metaphysische Lebensversicherung zu betrachten, ist also problematisch. Er nimmt sich ganz offenbar die Freiheit, solche Erwartungen zu enttäuschen. Eher können wir darauf zählen, in solchen Momenten nicht einsam, sondern verstanden und geborgen zu sein.

Jesus wird in Lukas 3 übrigens auch mit eben diesem Bibelwort konfrontiert – er hört es aus dem Mund des Versuchers. Es geht für ihn vordergründig darum, sich mutwillig in Gefahr zu begeben, um ein Wunder zu provozieren. Es steht für Jesus in diesem Moment aber auch auf dem Spiel, wer Gott für ihn ist: der Garant eines spektakulär schmerzfreien Lebens oder der, der die Freiheit hat, ihm Leid zuzumuten – im Vertrauen darauf, dass er es schließlich und endgültig doch in Freude verwandelt, zu der es leider keine Abkürzung gibt.

In eben dieser Spannung beten wir das Vaterunser – dass Gottes Wille geschieht, dass wir vom Bösen erlöst werden und dass wir die Geduld geschenkt bekommen, in der Zwischenzeit die Hoffnung und den Glauben nicht zu verlieren. Das Gegenteil von Freude, sagte Klemens Schaupp letzte Woche, ist nicht Trauer, sondern Bitterkeit.

Die gute Nachricht lautet also, dass der Tröster unter uns wirkt. Die schlechte Nachricht ist, dass wir ihn oft bitter nötig haben. In diesen Tagen ist das für mich mit Händen zu greifen. Oder, um es mit einen Rilke-Zitat zu sagen:

Wenn etwas uns fortgenommen wird,
womit wir tief und wunderbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selbst mit fortgenommen.
Gott aber will, dass wir uns wiederfinden –
reicher um alles Verlorene und vermehrt
um jenen unendlichen Schmerz.

(Bild: Dandelion by Seyed Mostafa Zemani, flickr.com/creative commons 2.0)

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Die Macht der Bilder

Die Frage nach der mächtigen, aber oft unbewussten Wirkung verschiedener Metaphern hat mich schon verschiedentlich beschäftigt, zum Beispiel in der Diskussion um die Sühnetheologie und alternative Deutungen des Todes Jesu, oder zur gottesdienstlichen Sprache und dem Liedgut.

Walter Wink hat die Sühne in Verwandlung der Mächte für mein Empfinden etwas zu grob behandelt, aber an anderer Stelle dieses wichtigen Buches eine treffende Beobachtung zur Metaphorik der Evangelien gemacht:

Gleichnis für Gleichnis spricht Jesus von der „Königsherrschaft Gottes“. Er verwendet dabei Bilder aus der Landwirtschaft und der Arbeit der Frauen, nicht aus dem krieg und nicht aus königlichen Palästen. Diese Herrschaft wird nicht beschrieben, als würde sie vom Himmels auf die erde herabkommen; still und unbemerkt steigt sie aus dem Land empor. Sie wird nicht durch Armeen und militärische Macht etabliert, sondern durch einen unaufhaltsamen Wachstumsprozess von unten, aus dem einfachen Volk.

 

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Eine lebendige Bibliothek

Heute wurde ich gefragt, was ich an meiner Kirche schätze und liebe. Ich kann es eigentlich nur mit einem Vergleich sagen, der auch etwas über mich selber verrät.

Ich finde, sie ist wie eine große Bibliothek, in die man immer und immer wieder hineingehen kann, um Neues zu entdecken. Es stehen viele Bücher darin, alte und neue, spannende und langweilige (wobei mir heute vieles spannend vorkommt, was mich vor 25 Jahre noch gelangweilt hätte), Kurioses und Exotisches neben Biederem und Grenzwertigem.

Kurz: Ein gewaltiger Schatz an Erfahrungen und Erinnerungen, aus dem ich schöpfen und lernen kann. Meine Lebenszeit reicht nicht aus, alles zu lesen, aber vielleicht kann ich ein paar Ideen beisteuern für andere Leser. Sie ist halbwegs geordnet, aber mit weitem Interesse zusammengestellt. Manches widerspricht sich, vieles ergänzt sich, anderes ist noch nicht zu Ende gedacht.

Solche Vielfalt kann irritieren – und sie tut es auch ab und an. Aber diese lebendige Bibliothek ist mit einem weiten Herzen zusammengestellt, meistens fehlen klare Abgrenzungen, nur der Staub, der auf manchen Büchern dicker liegt und auf anderen nur ganz fein, sorgt für einen Hauch von Einheitlichkeit. Sie ist ein Raum, der einlädt zum Endecken und Denken, zum Wachsen und Verweilen.

Wie könnte ich nicht dankbar sein dafür?

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Weisheit der Woche: Schutzengel

Das Interesse an Engeln ist großenteils so oberflächlich wie der Materialismus, dem dieses Interesse sich entgegenstellt. So ist es zum Beispiel tröstlich zu glauben, dass jeder Mensch durch einen Schutzengel behütet wird. Leider scheinen die Schutzengel am besten in Wohnvierteln der Mittelklasse zu funktionieren, in denen Wohlstand herrscht. Weniger gut gelingt es ihnen, Kinder in Armengettos vor Schießereien aus vorbeifahrenden Autos zu schützen.

Walter Wink, Verwandlung der Mächte, S. 24

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Pflichtlektüre

Der Pustet-Verlag in Regensburg hat Walter Winks († 2012) kleines Buch The Powers That Be auf Deutsch herausgebracht unter dem Titel Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit.

Es ist eines der wenigen Bücher, von denen ich sagen würde, die sollten zumindest jede Theologin und jeder Theologe gelesen und verarbeitet haben. In der Einleitung bringt es Wink schön auf den Punkt, worum es geht: Viele der Schwierigkeiten und Fehlschläge, die wir uns selbst oder anderen anlasten, sind nicht einfach nur auf individuelles Versagen zurückzuführen, sondern auf die innere Dynamik der Institutionen, die unser Leben regeln. Es geht auch nicht nur technisch um bessere und gerechtere Strukturen, sondern darum, dass da eine spirituelle Dimension enthalten ist, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt, wenn man echte Veränderung anstrebt:

Im Zentrum handfester Institutionen der Gesellschaft entdecken wir etwas Geistiges. IBM und General Motors haben jeweils eine eigene Spiritualität, genauso die Liga für die Ausbreitung des Atheismus. […] Auch die Vordenker der neuen Physik sind, nachdem sie durch den Materialismus hindurch gestoßen sind, in einer Welt der Geist-Materie angekommen. So können auch wir das ganze gesellschaftliche Unternehmen der menschlichen Spezies unter den beiden Aspekten von Geist und Materie sehen. Wir stehen auf der Schwelle der Wiederentdeckung der Seele im Innersten eines jeglichen Geschöpfes. Es gibt nichts, von der DNA bis hin zu den Vereinten Nationen, das nicht Gott in seinem Innersten hat. Alles hat einen spirituellen Aspekt. Alles ist Gott gegenüber verantwortlich.

Vom Weltbild her liegt das nahe an dem, was etwa Patrick Spät in Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein darlegt, aber Wink fragt nun weiter, wie diese Einsicht nun fruchtbar gemacht werden kann im Ringen um eine gerechte und menschliche Gesellschaft, in kirchlichen und politischen – also institutionellen – Veränderungsprozessen und was das für die Spiritualität bedeutet, die wir leben und anderen vermitteln wollen.

Fragt man sich etwa aktuell, warum das TTIP-Abkommen zustande kommen könnte, dessen Geist den Sieg des internationalen Kapitals über die nationalen Demokratien bedeuten würde, so dass selbst die Zeit nur noch den Begriff „satanisch“ dafür findet, dann lässt sich das Geschehen und seine potenzielle Wirkung in den Kategorien von „Mächten und Gewalten“ und deren Hang zum Götzendienst offenbar besser fassen als in der Sprache der Ökonomen und Juristen.

Jetzt, wo die Textgrundlage für alle verfügbar ist, wäre eigentlich eine theologische Konferenz oder ein Symposium über Wink und seine Anstöße fällig. Vielleicht kommt da ja noch etwas von den Herausgebern…?

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Aufgeklärter Opfer-Kult

Richard Sennett macht sich in seinem Buch Autorität Gedanken über allerlei merkwürdige Machtverhältnisse unter Menschen und die Vorstellungen, die ihnen zugrunde liegen. Dabei wirft er eine Reihe interessanter Fragen auf, zum Beispiel die nach der moralischen Bedeutung der Opfer:

Nie war der Status des Opfers höher als heute, und nie barg er größere Gefahren in sich. In der christlichen Theologie war Christus das Opfer der Menschen, aber er wurde durch sein Leiden nicht erhöht. […] Auch die Armen dieser Welt sind für die christliche Theologie keine Helden; sie leiden, und sie werden erlöst werden. Ihre Unterdrücker sind keine Ungeheuer, sondern Menschen. Diese christliche Vorstellung vom nichtheroischen Opfer verblasst im Zeitalter der Aufklärung, und es tritt eine neues Bild vom Leidenden an ihre Stelle. Leidensfähigkeit wird zu einem Zeichen von Mut; die Massen werden heroisch; ihr Leiden wird zum Maßstab sozialer Ungerechtigkeit. Ihre Unterdrücker haben kein Mitleid verdient, jenes Mitleid, dass nach christlicher Auffassung die ganze aus dem Zustand der Gnade gefallene Menschheit verdient hat; die irdischen Unterdrücker sind nur noch Feinde, die es zu vernichten gilt.

[…] Noch weitere Verbreitung fand die in der romantischen Ära entstandene und bis heute fortwirkende Vorstellung, dass der Mensch moralisch nur dann legitimiert sei, wenn er leide. Letztlich rührt die Legitimität, die das Leiden gewährt, aus einer Verletzung, die dem Menschen von einem anderen oder von »der Umwelt« zugefügt wurde.

 

[…] Die Erhöhung des Opfers entwertet das gewöhnliche bürgerliche Leben. »Wenn man bedenkt, wie sie in Harlem leben…« – aber wir leben nicht in Harlem. Die bürgerliche Moral wird zur Stellvertretermoral; das Bürgertum tritt für die Sache der Unterdrückten ein, macht sich zum Sprecher derer, die nicht selbst sprechen können. Die Unterdrückten in dieser Weise zu missbrauchen, um den eigenen moralischen Bestrebungen einen Sinn zu geben, ist unaufrichtig. Selbst wer das Handeln eines Saint-Just ablehnt, der sich das Leiden der unglücklichen Massen als Vorwand für sein Machtstreben zunutze machte, begeht im Grunde die gleiche Sünde, wenn er die Unterdrückten als »Vorbilder« hinstellt, als Menschen, die es »wirklich« mit dem Leben zu tun haben, deren Dasein »substanzieller« ist als das eigene. Das ist psychologischer Kannibalismus.

Das ganze führt schließlich dazu, dass sich Menschen immer intensiver mit den eigenen Verletzungen befassen und dem, was ihnen vorenthalten wurde, um der eigenen Stimme dadurch Gewicht zu verleihen, also von anderen ernst genommen zu werden.

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Die Wende vor dem Ende

Die christliche Kirche hat ihren tiefsten Sinn, der sie von der jüdischen Gemeinde  u n d  dem kommenden Reiche abhebt, eben darin, dass in ihr die Gaben des Reiches schon da sind, ohne dass das Reich selbst, die verwandelte Erde und die Herrschaft Gottes auf ihr, schon da wären. Die Geistbegabung ist also die Vorwegnahme eines endzeitlichen Ereignisses … und weist so immerzu auf das Reich hin!

[…] Es ist an Ostern und Pfingsten eine Wende vollzogen, die schon vor der letzten Ankunft Christi Entscheidendes erkennbar werden lässt. Die Gemeinde Jesu ist nicht in dem Sinne die Fortsetzung der jüdischen Gemeinde, dass auch sie nur in der Enderwartung stünde, nur gestärkt durch einen neuen Zeugen, nur erneuert im alten Glauben. Sie ist „neue“, das heißt aber schon mit einem Fuß auf Reichsboden stehende Gemeinde dadurch, dass sie die Gabe des neuen Aeons, den Geist, besitzt.

Ernst Gaugler, Der Brief an die Römer, Band I, Zürich 1958, 255ff.

 

 

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Moltmann zur Barmer Erklärung

Jürgen Moltmann hat bei einem Studientag von Landessynode und Landeskirchenrat der ELKB 80 Jahre nach der Barmer Theologischen Erklärung einen bemerkenswerten Vortrag gehalten. Er rekapituliert die Entstehung der bekennenden Kirche und fragt von da aus kritisch, inwiefern die evangelischen Kirchen im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr auf die Restauration des Alten setzten und dabei das Erbe der bekennenden Kirche vernachlässigten, und inwiefern sich dieses Muster nach 1989 noch einmal wiederholte.

Deutlich und unverblümt spricht er sich am Ende seiner Rede für eine basisorientierte Gemeindekirche aus, die ihre Gemeinden nicht als „Ortsverein der Landeskirche“ betrachtet, und die statt auf Versorgung und immer professionellere religiöse Dienstleistung lieber auf aktive Beteiligung und Mündigkeit der einzelnen Christen setzt. Was vor 80 Jahren die Bedrohung durch den totalitären Staat war, das ist für ihn heute die totale Ökonomisierung.

Wer wenig Zeit hat und mit der Geschichte vertraut ist, kann die letzten zehn Minuten anhören. Für alle anderen ist das gesamte Video wirklich gut investierte Zeit!

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Sexuelle Vielfalt verstehen

Die FAU Erlangen-Nürnberg befasst sich in der Ringvorlesung dieses Sommersemesters mit dem Thema Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtliche Vielfalt. Ein Thema, das im universitären Alltag selten erscheint, wird hier interdisziplinär bearbeitet: Sozialwissenschaftliche, medizinische, juristische, religiöse, künstlerische und pädagogische Perspektiven befruchten einander dabei.

Ich habe an ein paar Vorlesungen teilnehmen können und fand das jedes Mal sehr bereichernd und anregend. Für alle, die nicht kommen konnten, gibt es gute Nachrichten: Einige Veranstaltungen sind inzwischen auch im Videoportal der FAU abrufbar, darunter auch das theologische Gespräch zwischen den Professoren Bubmann und Dabrock, in dem die beiden das Spannungsfeld von Ethik und Kirchenpolitik etwas ausleuchten.

Demnächst dürfte die gestrige Veranstaltung über Aufklärung und Diskriminierung an Schulen, Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und staatliche Vorgaben dazu kommen.

Ein Highlight steht noch aus: Kommenden Mittwoch spricht Prof. Heiner Bielefeldt vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der FAU über „Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht“.

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Wer ist gemeint?

Spitzenpolitiker treten gern als fürsorgliche „Kümmerer“ auf, stellt Richard Sennett fest. Das Muster kommt mir irgendwie bekannt vor:

… wir [lernen] zur zeit eine höchst eigenartige Spielart des Paternalismus kennen: den politischen Führer, der gleichsam über die Köpfe der Bürokratie hinweg, seine Hand ausstreckt, um einen persönlichen Kontakt zum Volk herzustellen. Das Regierungssystem, an dessen Spitze er steht, wird zum gemeinsamen Gegner des Volkes und des Präsidenten. Der politische Führer wird sich ganz persönlich um das Volk kümmern, wie es der anonyme Apparat nicht kann.

[…] Der politische Führer regiert, doch der Verantwortung für die Staatsmaschine, die Regierungsbürokratie, ist er enthoben. Das mag schlau sein, aber es ist auch gefährlich.

Die Gefahr betrifft einerseits den Politiker selbst, der für das Scheitern seiner Politik nun in den Augen des Volkes persönlich haftet. Sie betrifft aber auch die Demokratie an sich, denn durch diese elterliche Pose wird der Bürger scheinbar wohlmeinend und für ihn auch bequem entmündigt. Lässt er sich darauf ein, dann wird er irgendwann feststellen, dass es die Motivation des Amtsträgers keineswegs so selbstlos war, wie es den Anschein hatte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen einem seriösen Kandidaten vertrauen, der keine falschen Assoziationen benutzt und keine überzogenen Erwartungen weckt, nimmt nach solchen Enttäuschungen auch kontinuierlich ab.

Sennett hat das übrigens schon 1980 geschrieben. Da war Horst Seehofer gerade 31 (und Angela Merkel erst 26) Jahre alt. Den kann er also wirklich nicht gemeint haben. Nur falls das jemand vermutet hätte…

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Viel Lärm um fast nichts

Die Nachricht stand ganz oben in den Portalen: Die USA wollen die Emissionen aus Kohlekraftwerken bis 2030 um 30% senken. Aber wie immer muss man das Kleingedruckte lesen, bevor man sich freut. Dass die Amerikaner sich Ziele setzen, ist ja nicht selbstverständlich, und vielleicht liegt der Wert dieser Nachricht eher darin, dass sie es nun doch tun. Vielleicht jedenfalls.

Das Ziel an sich gibt nämlich keinen Anlass zum Jubel: Die Kohlekraftwerke verursachen 30% des Kohlendioxidausstoßes der USA, davon sollen 30% reduziert werden, aber diese 30% sind nicht vom heutigen Stand aus gerechnet, sondern am Ausstoß des Jahres 2005 bemessen, wie zu hören war. Seither sind schon rund 15% geschafft, es folgen also in 16 Jahren noch einmal 15%.

Die ganze Aktion macht unter dem Strich gerade mal 4,5% aus. Und dagegen laufen jetzt Republikaner und Kohlelobby Sturm. Wenn die SZ diese Senkung als „drastisch“ bezeichnet, dann hatte der Redakteur wohl gerade seinen Taschenrechner verlegt.

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