Newbigin (8) Die Bibel als Universalgeschichte

Ein befreundeter Hindu hat Newbigin darauf aufmerksam gemacht, dass die Bibel eine einzigartige Interpretation der Universalgeschichte und verantwortlichen menschlichen Handelns bietet. Religiöse Schriften dagegen gäbe es in Indien schon genug, daher bräuchten die Missionare die Bibel auch nicht als ein solches zu behandeln.

Geschichtsschreibung stellt immer die Frage nach der Auswahl relevanter Ereignisse. In unserer Kultur lieferten lange die Nationen den Rahmen der Erzählung, Weltgeschichte wurde als Geschichte der Zivilisationen verstanden. Ein Problem heutiger Geschichtsdarstellung ist die Frage, ob man in der Geschichte überhaupt einen Sinn ausmachen kann. Ohne Vorstellung von Sinn sind weder Hoffnung noch Verantwortung denkbar.

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Wenn das Ende der Geschichte noch aussteht, kann man über ihren Sinn nur dann reden, wenn der Autor verrät, auf welches Ziel hin sie sich bewegt. Der induktive Weg einer Vermutung, die an den Fakten verifiziert wird, ist unmöglich, weil jetzt noch nicht alle Fakten zugänglich sind: “Kein Computer hätte im Jahr 1900 die Quantenmechanik vorhersagen können, denn sie vorherzusagen hieße, sie schon zu kennen.” Hat aber tatsächlich so etwas wie Offenbarung stattgefunden, dann bedeutet das für die “Eingeweihten”:

  1. Das offenbarte Geheimnis erfordert Glauben. Man kann es auch nicht glauben.
  2. Das Bekenntnis, dass diese Offenbarung in der Geschichte Israels stattgefunden hat, kann in der Theologie nicht “objektiviert” werden, wie es etwa in der von der gängigen Plausibilitätsstruktur her denkenden Religionsgeschichte geschieht (“Israel war der Auffassung, dass seine Geschichte…”).
  3. Die Aussage, dass Gott in bestimmten Ereignissen handelt, ist keine nachträgliche Interpretation, sondern der Schlüssel zum Verständnis des Ereignisses. Die biblischen Autoren setzen Gottes aktives Wirken immer schon voraus.
  4. Ereignisse haben mehr als eine mögliche Interpretation. Jesus hat darauf verzichtet, selbst eine unveränderliche Fassung seines Lebens zu schreiben, sondern er vertraute sein Geheimnis einer Gemeinschaft an, die es in die Welt hinaus trägt und ständig im Licht der jeweiligen Umstände neu interpretiert, wie das Neue Testament mit seinen Diskussionen zur Genüge beweist.
  5. Die Autorität der Bibel war lange der fraglose Eckpfeiler der abendländischen Plausibilitätsstruktur, ähnlich wie heute die Wissenschaft und Vernunft. In beiden Fällen gab und gibt es heftige Auseinandersetzungen über einzelne Schlussfolgerungen. Die Frage bleibt, ob und wie das unhinterfragt dominierende Weltbild (sei es nun das “wissenschaftliche” oder das östliche vom ewigen Rad, das sich immer gleich bleibt) aus den Angeln gehoben werden kann. Die Bibel kann dabei weder fundamentalistisch als unfehlbares Kompendium des gesamten Wissens verstanden werden, noch als ein Buch spiritueller Erfahrung. Einzigartig ist sie in der Geschichte, die sie erzählt, und dem, was diese Geschichte – wenn sie wahr ist – für diese Welt bedeutet.
  6. Für die christliche Gemeinschaft geht es darum, nicht den Text der Bibel, sondern die Welt durch diesen Text zu verstehen. Sie betrachtet ihn nicht “von außen”, sondern indem man aus dieser Erzählung heraus lebt, eine Vorstellung von Gottes Wesen entwickelt und sein Wirken in der Welt begreift.

Für Newbigin bedeutet das noch etwas konkreter formuliert:

  • Eine alternative Plausibilitätsstruktur wird immer von einer Gemeinschaft verkörpert. Sie ist mehr als nur Ideen und Theorie und sie ist lebendige Grundlage der Auseinandersetzung dieser Gemeinschaft mit den Fragen des Lebens.
  • Auf die Frage “Wer bin ich?” und “Worum geht es in dieser Welt?” kann man nur mit einer Geschichte antworten.
  • Die biblische Geschichte bietet dabei keine Antworten, die mir die Verantwortung für mein Leben und meine Handlungen abnehmen. Sie fordert mich auf, angesichts meiner Unvollkommenheit Gott zu vertrauen.
  • Dass ich in dieser Haltung und aus dieser Geschichte leben kann, ist nicht das Resultat eines rationalen und neutralen Vergleichs alternativer Weltbilder, sondern im Geheimnis von Gottes Erwählung und Berufung begründet.
  • Diese biblische Gegenkultur zeichnet sich durch eine Hoffnung aus, die dem östlichen Denken (wie der westlichen Konsumkultur) offensichtlich fremd ist und die auch unter schwierigsten Umständen hoffnungsvolles Handeln möglich macht.
  • Der Zukunftshorizont dieser Hoffnung ist nicht durch den Tod beschnitten, der entweder den einzelnen daran hindert, die Vollendung der Welt zu erleben, oder aber nur das Weiterleben des einzelnen ohne Bezug zur Welt zulässt. Für Christen ist dieser Horizont der Advent, das Kommen Gottes. Hier finden Innerlichkeit und konkretes politisches Handeln ihren gemeinsamen Bezugspunkt.
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