Newbigin (9): Christus – der Schlüssel zur Geschichte

Im Gegensatz zur Griechentum, das sich nicht vorstellen konnte, wie aus den Wirrungen der Geschichte Vollkommenheit entstehen könnte, setzt das hebräische Geschichtsdenken immer ein Ziel voraus. Freilich nicht eines, was auf rein evolutionärem Weg in einem geschlossenen System erreichbar wäre, sondern man lebte in der Spannung von Verheißung und Erfüllung. An diesem Punkt verbinden sich Prophetie und Apokalyptik im Judentum. Betrachtet man nun Jesu Deutung der Geschichte im Hinblick auf das Kommen Gottes und seiner Herrschaft, so fällt folgendes auf:

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  1. Gottes Herrschaft ist nahe gekommen – das ist zuerst einmal räumlich gedacht: Im Wirken Jesu mitten unter seinen Jüngern.
  2. Zugleich ist diese Gegenwart Gottes verhüllt. Um sie zu erkennen, müssen Menschen ihre Blickrichtung ändern (Umkehr)
  3. Aus dieser Verborgenheit erwächst ein kritischer Konflikt mit den herrschenden soziospirituellen (der Begriff ist jetzt von mir, passt aber gut, denke ich) Mächten, der sich immer mehr zuspitzt.
  4. Das Gebet der Jünger dreht sich darum, dass das Verborgene Reich Gottes offenbar wird (nicht: das Unvollendete vollendet…)
  5. Diese Kluft zwischen der in Jesu Verletzlichkeit und Ohnmacht verborgenen Gottesherrschaft und ihrem Offenbarwerden in Kraft ist der Ort, an dem die Mission der Kirche stattfindet. Schon unter den Bedingungen der Schwachheit ist Gottes Kraft am Werk.
  6. In dieser Spannung sind es gerade die Träger des Geistes, die sich am schmerzlichsten nach der Erlösung (und dem “nahen” Ende der Geschichte) sehnen.
  7. Wenn die Kirche ihrem Auftrag treu ist, wird sie einerseits gekennzeichnet durch die Leiden Christi, andererseits durch die kraftvollen Zeichen der Gottesherrschaft als Vorschau (wir würden heute sagen: Trailer) auf die manifeste Gegenwart Gottes.
  8. Diese Verborgenheit erst macht es möglich, dass das Evangelium im Glauben angenommen werden kann. Wo immer Kirche nach weltlicher Macht strebt oder sie gar erreicht, hört sie auf, ein Zeichen der Gottesherrschaft zu sein und die Mächte der Welt zu demaskieren.
  9. Diese Spannung aufzulösen ist eine ständige Versuchung: die einen sehen in jeder Krise das Ende der Welt, die anderen haben keine Hoffnung, die über das hinausgeht, was schon ist (eine Anspielung auf die Idee der “realized eschatology”).

Am Beispiel von Scotts Polarexpedition erklärt Newbigin, dass man ohne ein Ziel vor Augen Gefahr läuft, nur im Kreis zu gehen. Das Neue Testament enthält die Vision der himmlischen Stadt, in der alles Böse überwunden ist und in die alle Völker ihren Reichtum einbringen. Doch der “Tag des Herrn” ist ein ganzes Zeitalter, das wache und geduldige Hoffnung erfordert. Aber das ausstehende Ende hebt die Freude über den großartigen Anfang (Kreuz und Auferstehung) nicht auf.

Im Unterschied zum Neuen Testament und zu den Gesellschaften der Zweidrittelwelt leidet der reiche Westen nach dem Zusammenbruch des modernen Fortschrittsoptimismus an einem Fehlen von positiver Zukunftserwartung. Man investiert auch gar nicht mehr in die Zukunft, sondern konsumiert ohne sich um die Folgen zu kümmern. Modernes Fortschrittsdenken hatte versucht, die Geschichte zur Auferstehung (Neuschöpfung, Vollendung) zu führen ohne das Kreuz. Sie hat in den zerstörerischen Ideologien des Marxismus und der Nationalismen gezeigt, dass für diese Vision der kollektiven Zukunft die Gegenwart und die einzelnen Menschen geopfert werden können und müssen. Nach ihrem Ende bleibt nur noch eine private Hoffnung auf individuelles Glück und ein Weiterleben der Seele im Jenseits übrig. Das Interesse an gelebter Gemeinschaft und das Engagement in der Gesellschaft leiden darunter.

Newbigin sieht das Schlüsselproblem im Tod: Der Tod verhindert, dass wir das Ende der Menschheitsgeschichte erleben. Wir scheiden vorher aus. Er führt uns unerbittlich vor Augen, dass menschliches Leben so beschädigt ist, dass es keine Vollkommenheit aus sich selbst heraus erreichen wird. Der Tod verbirgt unsere persönliche Zukunft und die Zukunft der Welt vor unseren Augen. Der Glaube aber gibt uns die Hoffnung, dass auch das wenige Gute, das wir zu tun imstande sind, nicht vergeblich ist, sondern seinen Sinn hat. Und auch wenn der Weg zum Gipfel der Geschichte durch ein finsteres Tal führt, das wir nicht einsehen können, so besteht unsere Sicherheit darin, dass Christus es schon durchschritten hat.

Das verheißene Ziel der Geschichte, die Stadt Gottes, macht verantwortliches Handeln in der Geschichte möglich und heilt den Zwiespalt von rein privater und rein kollektiver Hoffnung. In ihr findet beides zusammen: das erneuerte Individuum und die erneuerte Welt, deren Schätze und Leistungen dort Eingang finden.

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