Newbigin (5): Vernunft, Offenbarung und Erfahrung

In der katholischen Theologie wurden Schrift und Tradition, in der anglikanischen zusätzlich die Vernunft als Quellen und Kriterien des Glaubens bezeichnet. Newbigin plädiert dafür, sich von diesen Modellen zu verabschieden:

  1. Vernunft setzt Sprache voraus. Sprache aber enthält die gewachsene Tradition einer menschlichen Gemeinschaft. Wir können nicht anders denken als in den Konzepten und Begrifflichkeiten, die unsere Sprache uns vorgibt.
  2. Denktraditionen entwickeln sich ständig weiter durch Diskussion und Kontroversen. Wir lernen, indem wir die bisherigen Überlegungen nachvollziehen und uns an der aktuellen Diskussion beteiligen.
  3. Rationalität entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, sondern sie wird beeinflusst (wenn auch nicht völlig bestimmt) von den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen, die bestimmte Fragen aufwerfen und auf die man denkend antwortet.
  4. Diese sprachlich-kulturelle Bedingtheit aller Vernunft könnte in einen völligen Relativismus führen. Man muss aber sehen, dass jede Tradition eines rationalen Diskurses auf immer neue inneren Widersprüche und äußeren Herausforderungen stößt, sich ändern muss oder von einer konkurrierenden Denkrichtung abgelöst wird, die bessere Antworten und Problemlösungen ermöglicht. Was die Sprache betrifft, so sind unterschiedliche Weltbilder (ähnlich wie Lyrik) im Grunde nicht übersetzbar in andere Begrifflichkeiten, und doch kann man sie wie eine “zweite Muttersprache” (also keine Fremdsprache) erlernen und dann Vergleiche anstellen, welche Sicht der Dinge angemessener ist. Schließlich ist der radikale Relativismus soziokulturell gesehen das Produkt einer kosmopolitischen (wir würden sagen: globalisierten) Kultur ohne tiefe soziale Wurzeln und mit einer universalen Sprache (Englisch), die die oberflächliche Illusion fördert, man wisse alles über andere Kulturen, ohne sich je wirklich auf ihre Lebensweise eingelassen zu haben.

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Keine un-bedingte Erkenntnis
Lessings Gegensatz von notwendigen, selbstverständlichen Vernunftwahrheiten und zufälligen, erklärungsbedürftigen Geschichtswahrheiten beruht also auf einer Fiktion. Mathematisch ausgedrückt ist ein Axiom nicht Grundlage eines Systems, sondern das Resultat eines langen kollektiven Denkprozesses. In der Theologie war es daher auch notwendig, darauf hinzuweisen, dass es nicht darum geht, sich um zeitlose axiomatische Glaubenssätze zu drehen, sondern kontextuell, also im Blick auf die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit, nach Gottes Wirken zu fragen.

Zwischen den Entdeckungen der Wissenschaft und der Offenbarung Gottes, von der die christliche Tradition handelt, gibt es Parallelen: Ereignisse und Erfahrungen, die plötzlich tiefer blicken lassen und die weitere Richtung des rationalen Denkens stärker verändern, als es zunächst den Anschein hatte, die Überzeugung, dass die Wirklichkeit sich rational erschließt, und dass unsere Erfahrung auf einen Zusammenhang und Sinn hindeutet. Es gibt aber auch Unterschiede – nämlich dass im letzteren Fall – dem der Offenbarung – nicht auf die eigene Leistung verwiesen wird. Wissen, das der autonomen Vernunft entspringt, gehört nach Martin Buber in die Kategorie “Ich-Es”. Mein Gegenüber ist ein Gegenstand, dessen ich mich durch die Vernunft so weit wie möglich bemächtige. In der Welt persönlicher Beziehungen kann man zwar auch so verfahren, aber echtes Kennen zwischen Personen erfordert, dass wir (ohne den Verstand dabei abzuschalten) anderen vertrauen, sie hören und uns auf sie einlassen.

Falsche und tatsächliche Alternativen
Offenbarung und Vernunft sind nur scheinbar ein Gegensatz. In Wahrheit ist die Frage die, ob nicht alle Wirklichkeit ihren Ursprung in einem persönlichen Gegenüber hat und von da aus verstanden werden muss. Wir finden den Zugang zu ihr wie zu einem personalen Wesen – statt zu meinen, wenn wir es psychologisch, soziologisch oder neurobiologisch analysiert hätten, wüssten wir Bescheid. Persönliches Erkennen wird aber erst dann möglich, wenn wir den Anspruch der autonomen Vernunft zurückweisen, das Gegenüber zum Objekt zu machen und erkennen zu wollen, ohne dass es sich mir aus freien Stücken mitteilt. Dass nämlich Menschen Gott überhaupt erkennen können, kann nicht abstrakt bestritten werden. Vielmehr erweist es sich in der konkreten Begegnung mit Gott (Newbigin verweist auf Karl Barth, KD III/2). Ausgehend von Gottes Selbstoffenbarung lernen wir, Gott in der Schöpfung und unseren Erfahrungen durch Unterscheidung zu erkennen, auch mit dem Verstand.

Die christliche Tradition von Rationalität nimmt keine angeblich selbstverständlichen Wahrheiten zum Ausgangspunkt. Ihr Ausgangspunkt sind die Ereignisse, in denen Gott sich Männern und Frauen unter bestimmten Umständen offenbart hat – Abraham und Moses, der langen Reihe von Propheten und den ersten Aposteln, die das fleischgewordene Wort Gottes selbst sahen, hörten und berührten, Jesus von Nazareth. All das sind Ereignisse innerhalb der Welt säkularer Ereignisse, die die Natur- und Humanwissenschaften erforschen.

Zweigleisig denken lernen
Die beiden rivalisierenden Traditionen rationalen Denkens existieren neben einander. Es gibt keinen (!) neutralen Punkt, von dem aus ein objektives Urteil möglich wäre. Lange war die Rationalität des Glaubens die herrschende Perspektive in Europa, doch wer sich heute für sie entscheidet, sieht sich angesichts veränderter Plausibilitätsstrukturen dem Verdacht des Subjektivismus ausgesetzt. Die Konsumkultur hat alles zur Geschmacksfrage werden lassen. Nun kann man sich in ein Ghetto zurückziehen, in dem (noch) andere Maßstäbe gelten, oder als Christ lernen, in beiden Traditionen zuhause zu sein und die Spannung unterschiedlicher Selbstverständlichkeiten auszuhalten durch einen ständigen inneren Dialog, der mich zum äußeren Dialog fähig macht.

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