Newbigin (2): Die Wurzeln des Pluralismus

Newbigin unterscheidet Pluralität und Pluralismus. Religion und Kultur sind zwar in vieler Hinsicht verbunden, aber nicht identisch. Insofern ist auch zwischen kulturellem und religiösem Pluralismus zu unterscheiden. Letzterer geht davon aus, die Unterschiede zwischen Religionen haben nicht mit wahr oder falsch zu tun, sondern mit verschiedenen persönlichen Auffassungen ein und derselben Wahrheit. Hauptsache, man ist aufrichtig in dem, was man glaubt. In der mit Tatsachen befassten Wissenschaft ist Aufrichtigkeit dagegen kein Ersatz für die Frage, ob eine Ansicht wahr ist. Welche Dinge gelten also als Tatsachen, welche nicht?

Der Siegeszug der Naturwissenschaften beruhte darauf, dass man des Zusammenhang von Ursache und Wirkung erforschte und die Frage des Wofür ausblendete. Menschen mögen Absichten haben, Dinge jedenfalls nicht. Eine Maschine ist aber mit einer bestimmten Absicht geschaffen worden, über die aber nur der Konstrukteur Auskunft geben kann. Ein Urteil über gut und böse ist nur dann möglich, wenn Absichten im Spiel sind, die wir kennen (N.B.: Rasierklingen in Verkehrsflugzeugen können mit ganz unterschiedlichen Absichten an Bord gebracht worden sein, P.A.). Hätte also der Autor der Geschichte der Welt (und Menschheit) seine Absicht verraten, wäre das ein Faktum von enormer Bedeutung. Die Konzentration auf “Tatsachen” aber macht begründete Werturteile unmöglich, wie schon Nietzsche erkannte, weil das eine mit dem anderen in der gängigen Plausibilitätsstruktur nichts zu tun hat.

Eltern der Mittelschicht wollen, dass ihren Kindern Werte vermittelt werden, weil das Leben angenehmer ist, wenn man sich an sie hält. Aber sie fragen nicht, ob diese Werte in irgendeinem Verhältnis zu den “Tatsachen” stehen, die in der Schule gelehrt werden. Sie fragen nicht, ob man die Sorge um Minderheiten, Arme, Behinderte als wichtig betrachten kann, wenn Tatsache ist, dass menschliches Leben sich einem Prozess verdankt, in dem der Starke den Schwachen eliminiert.

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Seit Descartes leidet das europäische Denken an einem Dualismus zwischen denkendem Subjekt und räumlich-materiellem Objekt. Die wirkliche Welt ist nach Kant unseren Sinnen nicht zugänglich, die nur die Erscheinungen erfassen. Die rationale Struktur der Erscheinungen liegt in unserem Denken begründet, nicht in den Dingen selbst. Weil man über die letztgültige Wirklichkeit keine Aussagen machen kann, kann man die Welt nur nach dem “wie” ihrer Entstehung und Beschaffenheit erforschen, nicht aber nach dem “wozu”. Das bleibt der subjektiven Spekulation überlassen.

Newbigin hält das Dogma, Zweifel sei intellektuell redlicher als Glaube, für kritikwürdig, weil es voraussetzt, das die letztgültige Wirklichkeit nicht zu erkennen ist:

1. Kritik des Zweifels: Ich kann nur dann etwas anzweifeln, wenn ich etwas anderes glaube. Ob man eine Aussage bezweifelt, weil man eine gegenteilige Auffassung hat oder weil man sie für nicht beweisbar hält – in beiden Fällen setzt man Kriterien voraus, die bestimmen, was wahr ist.
2. Wissen beginnt mit Glauben: Ich muss meinen Sinnen vertrauen oder anderen, die mich unterrichten. Beides kann sich als Täuschung herausstellen, und doch gibt es keinen anderen Ansatzpunkt. Zweifel ist sekundär – man kann nur bezweifeln, was man kennt, und das nur, weil man anderes weiß oder kennt. Dass Zweifel ehrlicher sein soll, ist eine irrationale Annahme mit destruktiven Folgen.
3. Moderne Wissenschaft beruht auf unhinterfragten Annahmen, nämlich dass die Welt rational und kontingent ist (d.h. auch anders sein könnte). Völlige Irrationalität würde Wissenschaft unmöglich machen, wäre sie nicht kontingent, könnte man sie auch rein kontemplativ erkennen. Dass wir bestimmte Dinge als Fakten bezeichnen, ist auch ein Ergebnis gewachsener Denktraditionen. Alle “Fakten” beruhen auf Interpretationen, diese wiederum auf einer bestimmten Theorie. Fakten und Annahmen können also nicht strikt unterschieden werden.
4. Wer behauptet, die Wirklichkeit oder Wahrheit entziehe sich jede Beschreibung, muss sich fragen lassen, woher er das wissen will. Die Annahme ist deshalb so beliebt, weil man sich damit die Freiheit schafft, sich alles nach Belieben auszumalen. Umgekehrt besitzt man die Wahrheit jedoch nicht, auch wenn man sie erkennen kann, und man verfügt nicht über alle Wahrheit. Doch nur der wird nach mehr Wahrheit und tieferer Erkenntnis suchen, der sie für erreichbar hält. Völliger Relativismus ist nur ein Ausweichen vor den Realitäten des Lebens.
5. Die Annahme eines objektiven Wissens (Russell: “Wahrheit ist, wenn meine Annahme den Fakten entspricht”) setzt einen außermenschlichen Referenzpunkt voraus, den es nicht gibt. Stattdessen gilt:

Der Test für die Ernsthaftigkeit meiner Überzeugung wird sein, dass ich bereit bin, sie zu veröffentlichen, sie anderen mitzuteilen, ihr Urteil und wenn nötig ihre Korrektur anzunehmen. Wenn ich mir diese Übung erspare, wenn ich meinen Glauben als Privatangelegenheit behandle, ist es kein Glaube an die Wahrheit.

Wissen hat immer einen subjektiven und einen objektiven Pol. Subjektiv, weil es eine bewusste Anstrengung bedeutet und weil ich dafür die Verantwortung trage, ob und wie ich lerne. Aber es geht um eine für alle Menschen gültige Wahrheit, die erkannt werden soll. Diese zerfällt nicht in Fakten, zu deren Erkenntnis weder Mühe noch Verantwortung nötig ist, und völlig willkürliche Glaubenssätze (beliefs), die nur “wahr für mich” wären und deren Verallgemeinerung sofort den Vorwurf des Dogmatismus nach sich zöge. Die Spaltung der Christenheit in “Evangelikale” und “Liberale” spiegelt diese Kluft wider: Die einen lehren den Glauben als System objektiv wahrer Glaubenssätze, die für die anderen nur Symbole subjektiver Erfahrungen darstellen.

Die Tatsache, dass bei aller Vielfalt nun unterschiedliche Religionen auf engstem Raum und in unmittelbarer Nachbarschaft existieren, dass wir viele Anhänger anderer Religionen als überzeugter, engagierter und aufrichtiger erleben als die meisten Christen in Europa, und die enge Verbindung von zwischen religiösen Vorurteilen und Rassismus lassen den religiösen Pluralismus, der die Wahrheitsfrage für irrelevant erklärt, heute als etwas Wünschenswertes erscheinen. Kann er überwunden werden?

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