„Negative“ Gefühle

Ab 1681 wurden King Lear von Shakespeare und andere Tragödien des Dichters in einer revidierten Fassung aufgeführt – 150 Jahre lang bekamen sie ein Happy End verpasst. Es war die Blüte der „Aufklärung“, des Enlightenment, und die moderne Präferenz für alles Helle hatte zur Folge, dass man die Schatten verschwinden ließ und einen ebenso zwanghaften wie ungesunden Optimismus verbreitete. Am Ende siegen immer Tugend und Wahrheit.

Doch allein schon die Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“ Gefühle hat es in sich, auch wenn sie uns inzwischen ganz selbstverständlich über die Lippen kommt. Sie geht davon aus, dass die

bevorzugten Gefühle wertvoller sind, produktiver, ja sogar gehaltvoller als andere. Es unterstellt buchstäblich, dass eine Art von Gefühlen auf der Abwesenheit anderer beruht – ’negativ‘ impliziert die Verleugnung oder das ‘Nein-Sagen‘ zu etwas, das vorher da war oder grundlegend existiert. Es muss jedoch keineswegs stimmen, dass ‘negative‘ Emotionen wie Traurigkeit in irgendeiner Hinsicht negativ sind; verlören wir die Fähigkeit, traurig zu sein, würde das bedeuten, dass wir von der offenkundig leidenden Welt um uns herum so abgehoben sind, dass es schon ans Psychopathische grenzt.

Iain McGilchrist, The Master and His Emissary, 337

Ein typisch „modernes“ Christentum begeht oft genug denselben Fehler, krampfhaft „gute“ Stimmung zu verbreiten und „negative“ Gefühle zu verleugnen. Deshalb ist kontemplative Spiritualität so heilsam, weil sie die Regungen des Herzens gerade nicht wertet und dann das Unerwünschte ausschließt, sondern bewusst wahrnimmt und zulässt.

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