Seit einer ganzen Weile schon beschäftigt mich das Stichwort „Ökonomisierung“. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, das sich überall beobachten lässt. Wirtschaftliche Kriterien werden immer häufiger in den verschiedensten Lebensbereichen angelegt, zum Teil sicher auch deswegen, weil uns ethische Kriterien als zu unscharf und zu wenig „eindeutig“ erscheinen und wir meinen, nüchterne Zahlen sprächen eine klare Sprache, zum anderen, weil ideologische Diskussionen und weltanschauliche Grabenkämpfe verfahrene Situationen produziert haben, und schließlich, weil so mancher einstmals unumstrittene Maßstab längst individueller Beliebigkeit gewichen ist.
Familie, Liebe, Partnerschaft und vor allem Kinderwunsch und Geburtenrate werden immer stärker in ökonomischer Begrifflichkeit von kurz- und langfristigen Kosten und deren Kompensation beschrieben und analysiert, im Bereich der Zuwanderung rechnet Sarrazin uns beängstigende Zahlen vor und andere rechnen engagiert dagegen, kaum jemand stellt jedoch in Frage, ob das Rechnen denn die höchste Bürgerpflicht ist. Und in der Klimadebatte geht es nicht zuerst um aussterbende Spezies und das Elend der Opfer von Flut und Dürre, sondern ein paar Schlaumeier rechnen sich hier und da äußerst zweifelhafte Vorteile heraus.
In diesen Tagen zog die Studie „Deutsche Verhältnisse 2010“, die weltweit größte Vorurteilsstudie, laut Tagesschau.de das deprimierende Fazit, dass Deutschland nicht nur momentan ganz physisch, sondern langfristig und konstant sozial vereist:
Wer eine ökonomistische Sichtweise teilt – also Menschen nach ihrem Nutzen beurteilt – neigt der Studie zufolge deutlich eher zur Abwertungen schwacher Gruppen. Der Zusammenhang ist bei denen besonders hoch, die sich selbst „oben“ verorten. Insgesamt sei „eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse zu registrieren“.
Aber selbst wenn man in die Kirchen schaut, wird auch überall gerechnet, gerechnet, gerechnet. Die großen Kirchen errechnen Stellenpläne, die entlang demografischer Kurven schrumpfen müssen, und am manchen Orten hat sich längst eine Art Dienstleistungsekklesiologie etabliert, wo man sich als Anbieter religiöser Waren und Leistungen versteht und aus der Nachfrage nach solchen Dingen die Existenzberechtigung der Institution wie auch ihrer Strukturen (hier vor allem der Kirchensteuer) ableitet.
In evangelikalen Gemeinschaften und den verschiedenen Freikirchen sieht man die große Institution eher kritisch, meidet tendenziell ein allzu unverbindliches Verständnis von „Dienstleistung“, hat aber das trojanische Pferd der Ökonomie von der anderen Seite her in die Stadt geschoben: Möglichst kräftiges quantitatives Wachstum wird häufig unreflektiert zum Kriterium von Erfolg und Qualität gemacht, „Kennziffern“ orientieren sich an der Zahl der Köpfe. Statt der Institution wird nun die Firma zur heimlichen Metapher, die Leiter sind nun nicht mehr Gelehrte – oder seit den 70er Jahren auch sehr verbreitet: Therapeuten –, sondern Manager und Unternehmer. Wachstumskonzepte werden (ohne das transparent zu machen) aus dem Marketing geklaut (zum Beispiel kopiert der unselige G12-Ansatz einen Strukturvertrieb). Wie in der „realen Wirtschaft“ entsteht auch hier ein Verdrängungswettbewerb mit alle möglichen ungesunden Zwängen. Plötzlich muss man sich zum Beispiel um das Image der „Marke XY“ sorgen. „Mission“ wird unter der Hand zum Vertriebsproblem: Wie bringt man das Evangelium so an den Mann, dass es sich für die Organisation auszahlt?
Andere Denkweisen sind also gefragt: Will man Kirche/Gemeinde „organisch“ denken darf man nicht nur auf exponentiale Reproduktionskurven abfahren (da wären wir wieder beim Schneeballsystem des Strukturvertriebs), sondern man muss sie eher als Ökosystem innerhalb eines größeren Ökosystems denken. Nach innen wie nach außen muss ein fruchtbarer, nachhaltiger Austausch stattfinden. Vor allem muss der Punkt herauskommen, der Paulus zu seinem organischen Vergleich in 1.Kor 12 veranlasst hat: Niemand ist minderwertig oder überflüssig. Auch nicht die, die die neuesten kirchlichen Erfolgstrends ignorieren oder verschlafen haben.
Meine grundlegende Sorge aber ist die: Wenn wir ökonomische Metaphern weiter in diesem Maß akzeptieren, werden sie unsere Gedanken und Diskussionen beherrschen – und schließlich pervertieren. Wir müssen uns von ihnen befreien. Und in einer Gesellschaft, die das schon längst exzessiv tut, müssen wir unbedingt gegen den Strom schwimmen, wenn wir das Evangelium nicht – nicht einmal mit dem besten Absichten – verraten wollen. Im Magnificat finden wir dazu eine Ahnung von Gottes alternativer, weil barmherziger Ordnung, die die Schwachen nicht ab- sondern aufwertet. Ganz einfach deshalb, weil er sie erwählt hat, und weil in dieser Erwählung Nützlichkeitskriterien keine Rolle spielen:
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er lässt die Arroganten ins Leere laufen;
er kippt die Mächtigen aus ihren Chefsesseln und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Sehr einsichtig und gut argumentiert. Habe schon lange gedacht, es sei falsch, dass heute fast jeder Entscheid im Leben aus finanziellen statt ethischen Überlegungen getroffen wird.
Hi Peter,
vielen Dank für Deinen Post. Mich haben diese Woche ganz ähnliche Gedanken beschäftigt. Im DLF hörte ich einen Beitrag zur neuesten PISA-Studie. Es wurde bemängelt, dass das Schielen auf ein möglichst gutes Abschneiden in irgendwelchen Rankings dazu führt, dass z.B. die künstlerische und musische Bildung immer mehr an den Rand gedrängt wird. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich m.E. auch bei der Gestaltung von Bachelor- und Masterstudiengängen beobachten.
Der Wertekosmos der Gesellschaft scheint sich immer mehr auf Dinge zu reduzieren, die in irgendeiner Art messbar sind und sich damit anhand vermeintlich objektiver Kriterien in eine bestimmte Reihenfolge bringen lassen. Vielleicht könnte man das Ganze als Weiterentwicklung eines materialistisch-reduktionistischen Weltbildes zu einem ökonomisch-reduktionistischen Weltbild bezeichnen. Ich meine aber, das es immer Selbstbetrug ist, der Komplexität des Lebens mit einer fortschreitenden Verengung der eigenen Erklärungsmuster zu begegnen.
Umso trauriger finde ich es zu sehen, dass viele Gemeinde offenbar genau dasselbe tun, obwohl ich das Evangelium als Botschaft verstehe, die gerade Grenzen sprengen soll. Als Botschaft, die Komplexität und Unerklärliches zulässt, weil ich auf Gott vertrauen darf.
Zum Thema „Marketing und Gemeinde“ kann ich einerseits das „Spirituelle Gemeindemanagement“ von Hans-Jürgen Abromeit (Bischof von Pommern) und Michael Herbst (Theologieprof. in Greifswald) und andererseits Aufsatzsammlungen wie „Kirche in der Marktgesellschaft“ von Joachim Fetzner empfehlen.
Gerade im Spirituellen Gemeindemanagement wird das Zusammenspiel von Theologie und Marketing ausgewogen diskutiert. Theologie gibt demnach Inhalt und Ziele vor, Marketing nennt Methoden wie Analyse, Umsetzung von Visionen usw. Diesen Ansatz finde ich persönlich sehr wertvoll.
Jetzt gerade lese ich Bill Hybels „Mutig führen“. Und da stößt mir die unkritische Übernahme von Elementen des Marketings schon etwas auf.
In der theologischen und kirchlichen Diskussion sehe ich das Problem gut erkannt und durchdacht. Wie es in der konkretten Gemeindepraxis aussieht, ist wieder eine andere Frage.
Liebe Grüße,
Justus
Vielen Dank für den Post!
Kirche und Ökonomie, Glaube und Geld, ethisches Handeln und Konsum sind eines der spannungsreichsten Themen einer christlichen Spiritualität. Leider empfinde ich, dass dieser Bereich in meinem Umfeld (fast) gar nicht vorkommt und unreflektiert bleibt. Das ist eigentlich merkwürdig, denn Jesus spricht u.a. bei Lukas dauernd davon. Gott und der Mammon scheinen doch zusammenzugehen. Zumindest sieht man selten ein Widerspruch darin. Freut mich deshalb umsomehr für den übersichtlichen Beitrag.
Gerri
In der Kirche ist man halt lange Zeit auf der anderen Seite vom (Trojanischen? ;-)) Pferd gekippt: Weil man den Heiligen Geist ja eh nicht messen kann, darf man den Gottesdienst ruhig lieblos abspulen – und den Gemeindebrief auf grauem Papier zusammenkopieren. Das hat nun Gegenreaktionen hervorgebracht – und nicht alle sind sinnlos. Aber da gibt es eine Grenze, stimmt. Kann man die objektiv beschreiben? Oder muss da eben doch wieder der Heilige Geist ran?
Das liebe Geld und die Kirche, wie immer ein gutes Thema um sich hochzuschaukeln.
Aber wer von uns verzichtet denn wirklich gern auf Geld, wenn nicht die reale Chance besteht es zu bekommen?
Egal ob nun dabei vorsätzlich gegen Gesetzte zu verstoßen oder nicht. Mich beschäftigt gerade das Buch „Der Neonazi“ von Damaris Kofmehl. Es kam Anfang des Jahres heraus. Für Hänssler und die Autorin wurde es zu einem Renner, ganz sicher auch wirtschaftlich gesehen.
Ganz schnell wurde der Wahrheitsgehalt des Buches angezweifelt. Verlag und autorin reagierten Wochen und Monate lang nicht. Meine böse ganz private Unterstellung ist: Wer macht sich schon gern selbst seine Geldquelle kaputt?
Jetzt ist das Buch gestoppt. Hat es wirklich des Geldes wegen so lange gedauert? Nur wer wirklich unabhängig vom Geld ist sollte mit Steinen werfen und dabei auf das Glas aufpassen welches er treffen könnte.
Das Beispiel soll zeigen wie schwierig mit dem Thema Geld umzugehen ist. Grad auch für uns Christen, noch ist es ja so, dass grad wir viel härter beurteilt werden.
Da gab es vor Jahren mal so einen Fall, ein gewisser Mike Warnke schrieb „Agent des Satans“ – blieb jeden Beleg schuldig für die irre Story, aber es verkaufte sich toll. Mit Geld umgehen zu können oder nicht, gierig zu sein oder nicht ist trotzdem eine Sache, und ein Verlag muss natürlich kostendeckend arbeiten.
Aber das Leben nur (bzw. primär) unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten ist nochmal etwas anderes. Der Homo Oeconomicus ist ein etwas windiges Konstrukt.
„und ein Verlag muss natürlich kostendeckend arbeiten“
dass stimmt natürlich, aber bei meinem Beispiel: „Der Neonazi“ hat der Verlag es versäumt einigen Geschichten selbst noch einmal zu überprüfen. Überall, sogar auf dem Cover wurde Werbung gemacht mit dem Zusatz „wahre Geschichte“ Das grenzt sicher an ethischen Normen, eal ob nun christlich oder nicht.
Schnell hört man dann Kommentare wie: Die sagen nur nichts weil gerade christliche Verlage vor Weihnachten 50 Prozent an Umsatz einfahren . . .
Also die Geldfrage bleibt immer aktuell
Noch ein kleiner Nachtrag, grad entdeckt:
Wen es interessiert was passiert wenn grad ein kirchlicher Verlag angegriffen wird:
Schaut bei amazon unter meiner Rezension zu „Der Neonazi“ in die Kommentare