Im Gespräch mit einem Freund kam ich darauf, dass es (vor allem in größeren Städten) das Phänomen einzelner Gemeinden gibt, die viele junge Leute anziehen – weil viele andere junge Leute da sind und man dort gute Aussichten hat, bei der Partnersuche fündig zu werden. Ist das Kunststück dann geschafft, kommt gar das erste Kind, dann sind die Paare so schnell wieder verschwunden, wie sie dort aufgetaucht waren.
Die Pastoren dieser Gemeinden glauben gerne, dass der Zulauf mit ihrer Predigtgabe zu tun hat, während viele Gottesdienstbesucher ein Auge anbetend schließen und mit dem anderen nach dem/der potenziellen Angebeteten Ausschau halten. Daran ist ja auch nichts verkehrt, so lange man sich eingesteht, wie die Gruppendynamik tatsächlich funktioniert. Vielleicht sollte man das ja nicht „Gemeinde“ nennen, sondern „Worship-Dating“? Aber dann würde es vielleicht nicht mehr so gut funktionieren.
Wo ich schon mal dabei war, fragte ich mich gleich weiter, ob dann die Gemeinde für Eltern von Kindergarten- und Schulkindern folgt, und auch dafür spricht einiges. Viele Väter und Mütter entscheiden sich für die xy-Gemeinde und deren Gottesdienst, weil der Nachwuchs dort am besten „versorgt“ ist. Und auch da denken manche Pastoren irrigerweise, es seien ihre attraktiven Predigten, die die Gemeinde zum Blühen bringen. Wenn die Kinder groß genug sind, wandern sie und ihre Eltern allmählich weiter – nicht unbedingt in dieselbe Richtung. Und dann erst stehen die Chancen gut, dass Predigten – neben dem Gospel- oder Bachchor, der ausschlafkompatiblen oder sonntagswandererfreundlichen Gottesdienstzeit, zumutbarer Entfernung, Raumtemperatur und dezenter Beleuchtung oder Verdunkelung – die Entscheidung irgendwie beeinflussen.
Parallel gibt es das Phänomen der Ein-Generationen-Gemeinde: Sie haben als Jugendgruppe oder junge Erwachsene angefangen und werden nun gemeinsam alt. Irgendwann haben sie sich alle ineinander verliebt, ein paar haben auch heraus- oder hineingeheiratet, dann haben fast alle Kinder bekommen. Und als man die gemeinsam groß gezogen hatte, sind die in eine Gemeinde abgewandert, wo sie einen Partner finden konnten. Die Eltern werden gemeinsam älter und …
… ja, was nun?
Es soll Gemeinden geben, in der dies alles unter dem gleichen (Kirchen-)Dache geschehen kann. Ich habe den Eindruck, dass ich in einer solchen gelandet bin, in einer Lebensgemeinde mit einem gemeinsamen Hauptinteresse.
…der Geist weht eben, wo er will 😉
Wo ist eigentlich das Problem? Es gibt eh nur eine Gemeinde Jesu. Keine Form ist perfekt und es gibt auch keine Ortsgemeinde, die alles abdeckt (und auch nicht kann, nicht mal mit 15.000 Mitgliedern geht das). Wir brauchen eine große Vielfalt von Gemeinden, die sich gegenseitig ergänzen – und keine Ekklesiolüge: „Wir sind die Gemeinde für alle!“
@metalpreacher: Niemand außer Dir hat hier bisher von einem Problem gesprochen, so weit ich das sehe.
Ja, eine Beobachtung, die ich teile. Selbst, wenn es einer Gemeinde gelingt, wirklich „Gemeinde vor Ort“ zu sein, d.h. eine Gemeinde, die relativ hilfreich in ihre Nachbarschaft hineinwirkt, wird man immer nur einen Ausschnitt der dortigen Bevölkerung ansprechen. Ob ich will oder nicht: wir betreiben immer Zielgruppenarbeit mit mehr oder weniger starren Grenzen. Entsprechend können sich diese Zeilgruppen auch angezogen fühlen.
Gemeinden, die „alles“ haben, mag es auch geben… in der Generationen zusammen sind und so gut es geht, einander helfen. Gerne mehr davon. Doch selbst da, wird es irgendwas geben, wodurch sich mancher ausgeschlossen fühlt…
Was bleibt?
Vielleicht die These von der Vielfalt in Einheit oder dem vinyard’schen „Gemüsesalat“.
Ich kenne dieses Phänomen der Gemeinde für Junge, für Alte, für Paare, für Singles etc. wohl, nur tue ich mich persönlich schwer darin einen Vorteil zu sehen. Ich vermisse in meiner – recht jungen – Gemeinde beispielsweise die weisen Alten, die ein halbes Jahrhundert und mehr mit dem Herrn gelebt haben und die aus dieser Erfahrung heraus gute Seelsorger, gute Lehrer und vor allem: Vorbilder im Glauben sind.
Ist nicht gerade die integrierende Botschaft des Evangeliums so schön? Juden und Griechen, Zöllner und Pharisäer, Reiche und Arme, Freie und Sklaven, Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Professoren und Arbeitslose, Ausländer und Inländer, Alleinerziehende und Verheiratete – und alle zusammen in einem Leib. Nicht nur auf einer abstrakt-theologischen Ebene in einem Leib, weil es nur den einen Leib Christi gibt, sondern auch in einer (freilich unvollkommenen) Gemeinschaft vor Ort. Ist das nicht eine Gemeinde, die Christus verherrlicht? Denn all diese verschiedenen Menschen lassen sich nicht anders vereinen, als nur in Christus.
Vermutlich liegt das Geheimnis einer generationen- und bedingt auch kulturübergreifend funktionierenden Gemeinde oder Gemeinschaft in einer grundlegenden Offenheit. In der Bereitschaft, andere mit ihrer Persönlichkeit, mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen aufzunehmen und als Bereicherung bzw Erweiterung des Gemeindehorizontes anzuerkennen.
Mit einer – wie auch immer gearteten – festgelegten Gemeindekultur ist das natürlich schwierig. Da kommt man dann als „Neuer“ hin und fühlt sich solange als Gast, bis man die Gepflogenheiten selber verinnerlicht hat. Und wenn dann die eigenen Ecken und Kanten, Wünsche und Sehnsüchte lange genug abgeschliffen wurden, hat man es endlich geschafft, ein integrierter Teil dieser Gemeindekultur zu werden.
Fieser Gedanken, aber so ist es wohl in vielen Gemeinden. Heißt aber nicht, dass es so sein muss: „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“. Naja, jedenfalls manchmal, überwiegend, eventuell… 😉
Wenn man das bewerten möchte, dann ist m.E. die Schlüsselfrage die, ob es richtig ist, wenn viele Gemeinden die Fragmentierung der Gesellschaft einfach nur widerspiegeln. Und damit sind wir beim umstrittenen „Homogenous Unit Principle„.
Und klar kann man sagen: „Ist doch schön, ergänzt sich doch prima.“ Ob dieser Satz jedoch das Selbstverständnis der einzelnen Gemeinden und die Praxis des Miteinanders unter diesen treffend beschreibt, ist für mich noch eine ganz andere Frage.
Zuletzt die ganz ernst gemeinte Frage: Was machen Gemeinden, in denen diese Verengung fehlt, eigentlich richtig? Dem müsste man vielleicht engagierter nachgehen. Ich habe dazu noch relativ wenig gelesen in den gängigen Periodika über Gemeindeaufbau. Kann gut sein, dass es darauf auch ganz unterschiedliche Antworten gibt.
Ich habe mir schon ab und zu Gedanken darüber gemacht, wieso es manche Gemeinden gibt, die seit Jahrzehnten mit stark heterogenen Menschen funktionieren.
Die einzig gute Antwort darauf gab mir mal meine Frau: Diese Gemeinden haben Jesus im Zentrum. Nicht nur von der theoretischen Zielsetzung her, sondern wirklich.
Gemeinde ist dann nämlich keine Interessengemeinschaft von Leuten, die gerne moderne Worship-Songs singen oder die alle ungefähr den selben sozio-ökonomischen Status innehaben. Denn sobald sich mein Musikgeschmack ändert oder ich meinen Job verliere (oder befördert werde), passe ich nicht mehr in die alte Interessengemeinschaft. Ist aber wirklich Jesus das Fundament unserer Zusammenkunft, dann ändert auch eine Veränderung meiner Lebensumstände nichts an meiner Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde.
Das Thema spricht mich an.
Ganz anderer Aspekt: Es klingt in den Beiträgen bisher ja ein wenig so, als ob jeder sich aussuchen würde, in welche Gemeinde man geht.
Aber da gibt es auch die Ortsgemeinde. Die, in der ich getauft wurde, vielleicht konfirmiert oder gefirmt, wo ich geheiratet habe, wo meine Großeltern beerdigt wurden, wo ich vielleicht Pfarrgemeinderat oder Kirchenvorsteher bin, …
Ich kenne auch die Perspektive, dass die, die’s gerne „charismatischer“ o. ä. haben, sich in eine andere Gemeinde „geführt fühlen“.
So witzig Peters Text ist, so vielfach sind die Erfahrungen dazu. So alt ist die primär evangelische Wanderbewegung.
Tausend neue Fragen tauchen im Nu auf …
Ja, sehr interessante Frage, über die ich mir in der letzten Zeit auch viele Gedanken mache. „Jesus im Zentrum“ klingt natürlich (theoretisch) gut, wer aber würde schon freiwillig zugeben, dass das in seiner/ihrer Gemeinde nicht so ist? Was bedeutet das also praktisch?
Eine Gemeinde, die seit Jahrzehnten mit großer Konstanz in ihrer Arbeit und Lebendigkeit überzeugt (und die ich so ein wenig „aus dem Augenwinkel“ beobachte) weist folgendes Merkmal auf: konsequente Ausrichtung nach außen, anderen Menschen zugewandt, in aktiver Hilfe und auch Mission. Wenn man auf diese Weise Gemeinde lebt, verhindert das, sich zu sehr in sein gemütliches Biotop zu vergraben oder sich festzufahren.
Seeeehr beindruckend, wenn das in der Praxis funktioniert. Das wäre also ein Ansatz: Die Sicherheit, „Jesus im Zentrum“ zu haben, ermöglicht die leidenschaftliche Ausrichtung auf die Bedürfnisse anderer. Nicht an irgendetwas festhalten, sondern das, was man hat, freigiebig und mit offenen Händen weiterzugeben. Das wäre inzwischen mein persönliches „Geheimrezept“ für gesunde und heterogene Gemeinde. Und wie sehr wünsche ich mir das für meine eigene, weg von dieser Egozentrik…
@Simon: Sicherlich ist eine missionarische und caritative Ausrichtung ein absolut notwendiger Teil von „Jesus im Zentrum“-Haben. Ich kann jedoch an meiner eigenen Gemeinde beobachten, dass man nur im eigenen Bekanntenkreis missioniert und hilft und naturgemäß ist die Krankenschwester hauptsächlich mit anderen Krankenschwestern befreundet und der Manager mit anderen Managern. Das radikale Durchbrechen von gesellschaftlichen Schranken – wie Jesus es tat – fehlt über weite Strecken. Selbst wenn es so sein sollte, dass wir eine stark nach außen orientierte Gemeinde sind, so gibt es eklatante Defizite.
Aber zu Deiner Hauptfrage, wer schon zugeben würde, dass seine Gemeinde Jesus nicht im Zentrum hat: Ich tue das. Es ist nicht leicht, da das mit vielen Widerständen in der Gemeinde einhergeht, aber im NT gibt es einfach zu viele Gemeinden, die „die erste Liebe verlassen“ haben, als dass diesen Phänomen heute als ausgestorben betrachtet werden könnte. Das Heilmittel scheint mir in Off 2,5 beschrieben zu sein:
1. sich erinnern, wen man verlassen hat
2. Buße tun
3. die ersten Werke tun
PS: Wenn ich schreibe, dass ich dies bei meiner Gemeinde entdeckt habe, dann nehme ich mich bewusst nicht aus der Diagnose aus.
@notizzettel: Vielleicht ist das Miteinander der Generationen ja vom Lernprozess her ein Schritt in die Richtung, auch die Grenzen von sozialen Milieus und Kulturgrenzen zu überwinden. Dasselbe ist es ja nicht, aber verwandt in dem Sinn, dass auch hier die Frage ist, wieviel Differenz erlaubt/gewünscht/möglich ist und was man unternimmt, um das zu fördern.
@evadiaspora: Diese Ortsgemeinde gibt es natürlich auch, und wo es sie gibt (ganz selten noch in „Reinkultur“), kämpft sie damit, wie man all die integriert, die nicht hineingeboren wurden und daher nicht so in ihr verwurzelt sind, dass sie sich nichts anderes vorstellen können. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne…
Also ich glaub, die kommen wegen meinen Predigten … ja, bin mir ganz sicher … also … doch, doch …
Vielleicht würde sich manches ändern, wenn man Gemeinde nicht so stark an Veranstaltungen fest machen würde …
@Andi: Mag sein, aber die Frage bliebe am Ende doch, ob und wo sich nämlich die verschiedenen Gruppen/Generationen begegnen, oder?
Stimmt, und ich werde mich hüten jetzt mit einem Patentrezept zu kommen.
Ich hab aber auch die Hoffnung, dass ein „Modell“ von diversen Schnittmengen eine denkbare Alternative zu einer Zentralveranstaltungslastigkeit sein könnte.