Heiligkeit, die sich die Hände schmutzig macht

Kennt wahrscheinlich jeder schon: Das Kreuz lässt sich so deuten, dass der vertikale Balken die Gottes- und der horizontale die Nächstenliebe symbolisiert. Dann steht es entweder für das Doppelgebot der Liebe oder (freilich kein Gegensatz) für die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen untereinander.

So weit, so schön und so passend.

Die beiden Kreuzbalken entsprechen so gesehen auch den beiden Tafeln der Zehn Gebote. Die erste Tafel hat mit dem Verhältnis zu Gott zu tun und schützt seine Integrität vor menschlichen Zugriffen: Die Einzigartigkeit, das Bilderverbot, der Name und der Sabbat (die letzten beiden stehen für alle übrigen Kultgesetze). Die zweite Tafel hat mit den Mitmenschen zu tun: Eltern, Unversehrtheit, Partner, Besitz und Wahrhaftigkeit.

201703211604.jpg

Wenn man nun fragt, was Jesus ans Kreuz gebracht hat, dann stößt man auf ein ganzes Bündel von Konflikten, die sein Wirken nach sich zog. Und interessanterweise lassen diese sich relativ stringent auf die zwei Tafeln verteilen. Jesus verletzt – in den Augen seiner Gegner (ob das nun Pharisäer oder Saddzuzäer waren) – die Gebote der ersten Tafel. Er missachtet die Sabbatruhe, er relativiert gängige Vorstellungen von Reinheit, er kündigt das Ende des Tempels und des Opferbetriebes dort an. Und selbst aus römischer Sicht zeigt er sich auch dem Gottkaiser und dessen irdischen Repräsentanten gegenüber ziemlich respektlos.

Umgekehrt wirft Jesus den Gegnern vor, in ihrer Praxis gegen den Sinn der Gebote der zweiten Tafel zu verstoßen: Statt die Alten zu versorgen, spenden manche das Geld an den Tempel. Männer verstoßen ihre Frauen und die sind dagegen weitgehend wehrlos. Zur Schau gestellte Frömmigkeit soll einen sozialen Vorteil verschaffen, und wer weniger intensiv glaubt, wird verächtlich gemacht und mit Schimpfwörtern belegt. Vergebung für Betrug oder Gewalttaten gibt es auch ohne Opfer und rituelle Reinigung. Das sind nur die Fälle, die mir sofort eingefallen sind.Kreuz:Tafeln

Insofern steht das Kreuz in eben dieser Deutung auch dafür, warum Jesus den Kreuzestod starb und das aller Wahrscheinlichkeit nach auch kommen sah und in Kauf nahm. Er stellte viele gängige Deutungen und Umsetzungen der Gebote in Frage. Und er verschob die Aufmerksamkeit weg vom Kult und all dem Kleingedruckten der „rechten“ Gottesliebe hin zu einem barmherzigen, offenen und versöhnlichen Umgang mit dem Nächsten, der ethnische und religiöse Grenzen überschreitet.

Interessanterweise gibt es das ja immer noch, auch unter Jesusnachfolgern: Diesen Streit, ob zuviel Nächstenliebe (und damit auch soziales und politisches Engagement) der Reinheit unserer Gottesliebe abträglich ist, oder ob das gar kein Gegensatz ist und auch besser nicht als solcher behandelt werden sollte. Ich finde diese rotznasige, empathische Heiligkeit mit den schmutzigen Händen und den weiten Grenzen jedenfalls viel attraktiver als die sterile, strenge und skrupelhafte Variante.

Share