Gurus, Mentoren und transformatorisches Lernen

Nächsten Samstag wirke ich bei einem Seminar zum Thema “Mentoring” mit und bin mitten in den Vorbereitungen. Dabei bin ich auf einen Artikel von Elizabeth Debold zur Zukunft der Schüler-Lehrer-Beziehung gestoßen. Vielleicht ist er um so interessanter, als ihm der christliche Hintergrund völlig fehlt. Sie setzt sich engagiert und detailliert mit dem Buch “Do you need a Guru?” von Mariana Caplan auseinander. Caplan beschäftigt sich ihrerseits mit der Autoritätskrise östlicher Spiritualität nach den Guru- und Sektenexzessen des 20. Jahrhunderts (zu denen es wenigstens weitläufige Parallelen in verschiedenen christlichen Strömungen gab).

Die Lehrer-Schüler Beziehung als der wichtigste Kontext für echte Transformation – also ein Lernen, das die Person verändert und nicht nur ihren Kenntnisstand – hat im letzten Jahrhundert durch den beispiellosen Vertrauensschwund in so gut wie alle Autoritäten (beziehungsweise deren Integritätsverlust) schwer gelitten. Bezold meint “wir sind zu aufgeklärt, um die Rolle des Abhängigen in einer autoritären Beziehung anzunehmen. und nur allzu oft ist der Wunsch nach einem Lehrer tatsächlich mit all unseren anderen Motivationen vermischt, welche mehr mit Bequemlichkeit und Trost zu tun haben als mit echter Transformation.”

Interessant ist dann die Schlussfolgerung: “wir hinterfragten und stellten dabei fest, dass unsere Autoritäten den Erwartungen nicht gerecht wurden. Deshalb ernannten wir – gemäß einem glorreichen Ideal von Gleichheit und Freiheit für alle – uns selbst zu ultimativen Autoritäten.” Der Weg führt in einen krassen, weil eklektischen spirituellen Individualismus. Doch die erhoffte Transformation bleibt aus, weil sie (der Gedanke hat mich dann doch überrascht) den “Tod” des Ego voraussetzt: Die Aufgabe egozentrischer Motivation und narzisstischer Wünsche und Ängste.

Das Problem des Individualismus ist, dass das Ego die Zügel in der Hand behält und eine verbindliche Beziehung, in der es radikal in Frage gestellt werden könnte, nur allzu schnell aus verletztem Stolz heraus beendet. Das erschwert die Hingabe und Verbindlichkeit der Schüler-Lehrer Beziehung, in der das Vertrauen zu Gott (das sollte man vermutlich lieber mit kleinem “g” schreiben…) eingeübt werden könnte, wenn sie denn funktionieren würde.

Bezold findet, dass Caplans Modell der “bewussten Schülerschaft” (conscious discipleship!) das Problem nicht löst und den Herausforderungen der Gegenwart nicht gerecht wird. Die Einzelheiten der Argumentation finde ich für diesen Zusammenhang auch nicht so wichtig. Im Prinzip schlägt Caplan vor, der Person des Lehrers gegenüber kritisch zu bleiben, aber seiner “Transmission” (dem, was spirituell von ihm ausgeht – Charismatiker würden hier wohl “Salbung” sagen) dennoch zu vertrauen. Merkwürdiges Kunststück…

Relativ ratlos formuliert Bezold am Ende die Aufgabe, “dass wir autoritätsphobische, verwundete Postmodernisten das Risiko eingehen müssen, uns über unseren Zynismus hinsichtlich spiritueller Autoritäten hinaus zu entwickeln in unserer verzweifelten globalen Lage die Inspiration, den Mut und die Demut zu finden, nach Führung zu suchen”. Das östliche Erleuchtungsmodell in seiner traditionellen Form hält sie für ungeeignet. Es gibt keinen Weg zurück in eine vormoderne Naivität.

Parallelen zur Diskussion über das Thema “Jüngerschaft” (discipleship) liegen auf der Hand: Echte Transformation erfordert den Kontext einer Beziehung mit einem gewissen Maß an Vertrauen und Verbindlichkeit und vor allem der Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen, bevor man alle anderen in Frage stellt, nur nicht sich selbst. In der Vergangenheit (70er und 80er Jahre) sind rigide autoritäre Modelle zur Rückgewinnung dieser Dimension gescheitert und haben uns in den 90ern die (notwendige) Diskussion über geistlichen Missbrauch beschert, vor allem aber eine grenzenlose Ernüchterung unter vielen, die damit direkt oder auch nur ganz indirekt zu tun hatten und nun als gebrannte Kinder auch die elementarsten und wirklich harmlosen Formen von Verbindlichkeit scheuen.

Andererseits gibt es in der Bibel keine solchen ungebrochenen Guru-Beziehungen. Am ehesten scheinen noch Prophetenschüler (z.B. Elia/Elisa) dem zu entsprechen, aber da war der Fokus schon viel größer als die spirituelle Entwicklung des Schülers: Es ging auch und vor allem um soziale und politische Kritik am Königtum. Jesus hat das Lehrer-Schüler-Verhältnis ganz anders akzentuiert als andere Lehrer seiner Zeit, weil bei ihm Person und Lehre nicht unterschieden werden konnten. Paulus führt den christozentrischen Ansatz fort und stellt sich nur in die erste Reihe der Nachfolger Christi. Er kritisiert “Schulbildungen” explizit, in denen geistliche Führer eine dominierende Rolle beanspruchen oder (das scheint noch häufiger geschehen zu sein) zugewiesen bekommen.

Der ganz wesentliche Unterschied zum östlichen Ansatz scheint mir, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis viel stärker als Teil des Gemeinschaftslebens verstanden wird. Nach Jeremia 31 ist es das Kennzeichen des neuen Bundes, das nicht mehr einer den anderen zur “richtigen” Erkenntnis führen muss. Und im Neuen Testament (das haben viele Publikationen der letzten Jahre gezeigt) finden wir neben herkömmlichen Gedanken über Autorität immer auch den Gegenpol einer gegenseitigen Unterordnung/Abhängigkeit, verschiedener Gaben in dynamischer Spannung und Ergänzung zu einander. Der einzelne setzt sich als Teil einer Gemeinschaft bewusst verschiedenen Einflüssen aus. Das geht, weil Christus als der geistliche Lehrer/Führer in allen lebt und durch alle wirkt und sich Fehler einzelner in der Gemeinschaft (wenn die nicht sektenmäßig abgeschlossen verstanden wird!) korrigiert und ausgeglichen werden.

Liegt in diesem Bezugsrahmen für Mentoring, geistliche Begleitung und (yep!) “Jüngerschaft” also doch noch Hoffnung auf echte Transformation begründet – auch für autoritätsphobische, verwundete Zyniker? Wir werden den Beweis in der Praxis suchen müssen.

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