Ich ließ kürzlich meine Begegnungen mit Christen, die sich als Evangelikale identifizieren, einmal Revue passieren und wollte dabei „das Gute behalten“ – im Gedächtnis, und als Folge davon in diesem Post. Es kam einiges zusammen:
- Der „geschwisterliche“ Umgang: In den meisten Gruppen und Gremien ist man nach kurzer Zeit beim vertraulichen „Du“. Evangelikale pflegen eine warme, wenig distanzierte Frömmigkeit und haben, wenn überhaupt, eher informelle Hierarchien. Unter den Älteren wird man gelegentlich noch ausdrücklich mit „Bruder“ oder „Schwester“ angeredet.
- Die Bereitschaft, sich in Frage zu stellen: Die christliche Tugend der „Bußfertigkeit“ hat sich in weiten Kreisen erhalten. Immer wieder prüfen sich meine evangelikalen Freunde, ob ihr Leben mit ihrem Glauben und Reden übereinstimmt, und sie lassen sich auch von anderen daraufhin ansprechen. Eines der größten Komplimente, dass man als Prediger bekommen kann, ist, dass man seine Hörer „überführt“ und zur Umkehr bewegt hat (in manch anderen christlichen Milieus reagiert man eher verschnupft, wenn man mit seinen dunklen Seiten konfrontiert wird).
- Das hohe Engagement: Evangelikales Christentum ist tätiges Christentum. Und auch wenn dieses Selbstverständnis vielleicht radikaler ist als die Praxis an manchen Orten, so fördert es eine rege Praxis, indem es nachdrücklich dazu aufruft. Das ist in der Regel übrigens keine „Leistungsfrömmigkeit“, sondern hier schlägt das Anliegen durch, Nachahmer Christi zu sein.
- Die Jesusfrömmigkeit: Der etwas antiquierte Begriff „Heiland“ (mein pietistischer Urgroßvater wurde noch „Heilandsbäck“ genannt, weil er Sonntags seine Backstube kalt ließ) hat weithin ausgedient als Anrede für Gottes Sohn, dafür dreht sich nun alles um den Jesusnamen. Die Jesusfrömmigkeit betont die Nähe und Menschlichkeit Gottes, die immanente Seite des christlichen Glaubens.
- Mut zur Minderheit: Evangelikale haben sich immer als Minderheit verstanden und sind dies, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch immer gewesen. Sie haben das selten beklagt, aber oft in ein robust positives Selbstbild übersetzt, nämlich das des Propheten, der den Mächtigen so unerschrocken wie undiplomatisch die Wahrheit ins Gesicht sagt. Daher blühen evangelikale Gemeinden oft auch dort besonders, wo Regierungen sie einzuschränken versuchen. Sich dem Mainstream anzubiedern ist also gewiss nicht ihre größte Versuchung.
- Das Gründergen: Seit den Anfängen des Pietismus haben Evangelikale überall Basisgruppen und Vereine gegründet und (meistens) ohne obrigkeitliche Förderung am Leben erhalten. Gemeinschaften, diakonische Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Missionsorganisationen, Verlage. Und auch wenn davon manche inzwischen in die Jahre gekommen sind, sprießen munter neue Werke aus dem Boden. Wenn die Großkirchen die religiösen DAX-Konzerne in unserer Kultur sind, dann sind die evangelikalen Gründungen wie mittelständische Familienbetriebe. Pioniertypen werden hier sehr geschätzt.
- Ihre Opferbereitschaft: Sie setzen für ihre Mission in der Welt Zeit, Kraft und Geld ein und eben auch den guten Ruf ab und an aufs Spiel und wundern sich gelegentlich, dass nicht alles Christen das mit derselben Selbstverständlichkeit tun.
- Über den dogmatischen Schatten springen: Weil evangelikaler Glaube konkret und praktisch sein will und meistens auch ist, findet er auch zu einem pragmatischen Umgang mit vielen Phänomenen der modernen Welt wie Kommunikationstechnik oder Management. Theologische Streitfragen (etwa die nach der rechten Form der Taufe) lassen sich um der gemeinsamen Mission willen hinten anstellen, selbst wenn diese für das Selbstverständnis der einzelnen oder einer Gemeinschaft einen hohen Stellenwert haben oder an anderer Stelle (etwa in der Ökumene) kirchentrennend sind.
- Wie sie beten: Form und Stil mögen sich unterscheiden, aber sie beten, und sie beten gern gemeinsam. Verschämtes Schweigen oder strikter Formalismus sind eher die Ausnahme. Es gibt kaum etwas, wofür sie nicht beten, weil Gott für sie mit allem zu tun hat, was ihnen begegnet. Davon lasse ich mich gern immer wieder anstecken.
PS: Ich habe auf diesem Blog gelegentlich Ereignisse und Meinungen aus der bunten evangelikalen Welt kritisch oder ironisch kommentiert. Manche LeserInnen haben das leider als Vorurteil oder pauschalen Angriff empfunden (obwohl es unter Evangelikalen zu all diesen Themen auch Kritik und Differenzen gab und gibt und ich darauf in der Regel auch Bezug nehme). Diesmal habe ich den Blick ausschließlich auf die positive Seite gerichtet. Und keine Sorge, das ist weder der Auftakt für eine Serie von Abgrenzungen und Vorwürfen, noch so gemeint, dass alles, was ich hier nicht erwähne, kritikwürdig wäre.
Ihren Bericht über Evangelikale kann ich in den allermeisten Punkten bestätigen und zwar aus dem täglichen Leben. Ich wohne mitten in einer erzfrommen, pietistischen Gemeinde mit Evangelikalen, die sich selbst so nennen, mit Freien Gmeinden und Entschiedenen Christen.
Ein Punkt, den sie ausdrücklich erwähnen, ist mir dabei schon bei der ersten Begegnung aufgefallen. Sie lieben es tatsächlich, wenn jemand „überführt“ wird vom Prediger und dadurch zur „Umkehr“ bewegt wird. Dabei wird, wie in der römisch katholischen Kirche auch, auf strenge Hierarchie und deren genaue Beachtung Wert grösster gelegt. Denn wehe dem Gemeindemitglied, das den Prediger einer Lässigkeit „überführt“. Das haben die Prediger gar nicht gerne und „verschnupfte Reaktion“ seitens der Überführten, wie Sie dies völlig richtig darstellen, sind ein laues Frühlingslüftchen gegen den Tornado der dem blüht, der es wagt einen aus den oberen Rängen der Hierarchie einer Ungerechtigkeit zu überführen. Niemand rächt sich grausamer als ein Gerechter, der eines Unrechts überführt wird. Dann wird es ganz schnell ungemütlich und das Klima schwankt zwischen Arktis und Eiszeit.
Was ich auch bestätigen kann sind die vielfältigen Missionierungsversuche in der festen Überzeugung, dass jeder, der nicht ihren spezifischen Glauben im Detail auch teilt, errettet werden muss. Und diese Missionierungsversuche sind oft von ergreifender Schlichtheit. Und mein Hinweis, dass ich zwar ein ganz eczellenter Sünder sei, Luther nannte Leute wie mich wohl „starcke Sünder“ (sic!), aber zumindest römisch katholisch getauft sei, macht die Sache nicht besser, eher das Gegenteil.
Es ist schwierig mit Leuten auszukommen, die sich im Alleinbesitz aller göttlichen Wahrheiten wähnen. Man kann die so schwer überzeugen …
Ich glaube, an Ihrem Beispiel sieht man, dass die Minderheitensituation die bessere Umgebung ist für Evangelikale – aber nicht nur für sie. Katholiken und Protestanten in der Diaspora finde ich auch meistens genießbarer als da, wo sie den Platzhirsch geben können.
Im Blauen Kreuz waren wir früher stolz darauf „evangelikal“ zu sein und nicht so vom Glauben abgedreht wie die unlöbliche Landeskirche. Da der Begriff evangelikal aber heute von den Vereinfachungsjüngern für eine große Anzahl ganz unterschiedlicher Gruppen verwendet wird hat sich das leider geändert.
Ja, das mit dem Stolz und der Verachtung hat seine Spuren hinterlassen.
Es ist schwer über so einen Begriff etwas allgemeines zu sagen. Da kann jeder nur seine eigenen Erlebnisse beisteuern mit Menschen die für charakteristische Evangelikale hält. Ich bin jetzt gern in der Landeskirche engagiert, war aber vorher bei den Methodisten, einer ev. Freikirchlichen Gemeinde ( LZeichen.de ), und bin auch vor 40 Jahren – wegen der Feundin 🙂 in einen katholischen Gottesdienst gegangen. Ich könnte jetzt sagen: „Die einzelnen Gemeinden sind so oder so“. Das wäre aber ungenau und ungerecht, weil ich überall so unterschiedliche Menschen getroffen habe. Jeder ist auf irgendeine Weise zu seiner Überzeugung gekommen. Und es ist o.k. wenn man seine Meinung nicht jedes halbe Jahr ändert. Derjenige der sich darüber beklagt, hat ja auch seine eigene Meinung zur Wahrheit, selbst wenn es ein Atheist ist. http://www.buskampagne.de/