Die spirituelle und damit auch die ganzheitliche Dimension von Bildung interessiert Parker Palmer in seinem Buch To Know as We Are Known: A Spirituality of Education: Education as a Spiritual Journey . Es geht um Wahrheit, Wissen, Gewalt und Macht. Zu lange wurde das Wissen um der Macht willen angestrebt, und gerade diese Instrumentalisierung des Wissens, um die Welt der eigenen Willkür zu unterwerfen, hat den postmodernen Vorbehalt gegen Wahrheitsansprüche aller Art ja überhaupt erst heraufbeschworen. Die Folgen wiegen schwer.
Das Ziel von Unterricht und Bildung hatte Palmer früher schon einmal beschrieben als „einen Raum zu schaffen, wo man sich im Gehorsam gegenüber der Wahrheit übt“. Wenn zum problematischen Wahrheitsbegriff nun das autoritäre Strukturen legitimierende Wort Gehorsam tritt, dann scheidet dieses Bildungsziel für viele Menschen schon aufgrund dieser Terminologie aus.
Palmer hat daher versucht, andere Begriffe zu finden für das, worum es ihm geht – eine andere Form des Wissens und Lernens. Er ersetzt „Gehorsam gegenüber der Wahrheit“ durch „die Gemeinschaft der Wahrheit“, um dem autoritär-hierarchischen Missverständnis vorzubeugen. Es geht um ein Beziehungsgeflecht, in dem man ebenso zuhört wie redet und sich Wahrheitsansprüchen anderer ebenso stellt wie man selbst Wahrheit für sich selbst beansprucht. Alles hat diesen gemeinschaftlichen, auf Gegenseitigkeit hin angelegten Charakter: Die Ontologie (die Frage nach dem Sein), die Epistemologie (die Frage nach dem Wissen), die Pädagogik (die Frage nach dem Lernen) und die Ethik (die Frage nach dem Leben und Handeln).
In der Biologie (und ähnlich in der Physik) hat die Beziehung und die Gemeinschaft den Wettbewerb, den Überlebenskampf und die isolierte Betrachtung einzelner Objekte als entscheidende Kategorie abgelöst. Alles Sein ist ein Sein in unterschiedlichsten Beziehungen. Ebenso setzt auch alles Erkennen eine Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem, was es betrachtet, voraus. Jede Aussage, die wir über die Natur machen, sagt auch etwas über uns selbst. Die Natur ist nicht stumm, die Geschichte keine „tote“ Vergangenheit, und unsere Beschäftigung mit beidem besteht im Aufspüren unserer lebendigen Verbindung zu beidem.
Folglich setzt auch alles erfolgreiche Lernen eine Beziehung voraus: Zum „Gegenstand“ des Unterrichts, zwischen Lehrer und Schülern, aber auch zwischen den Schülern untereinander. Wenn diese Beziehung etwa durch Angst und Konkurrenzdruck beeinträchtigt wird, dann wird Lernen schnell zum defensiven Nachplappern und sturen Pauken. Ein hoher intellektueller Anspruch lässt sich dagegen nur in einer Atmosphäre des Vertrauens durchhalten, weil sie einen konstruktiven, kreativen Dissens ermöglicht.
All das hat Folgen für die Ethik, sagt Palmer:
Wenn wir unseren Studenten beibringen, die Wirklichkeit als eine Ansammlung von Atomen anzusehen, die wir nach Belieben umgruppieren können, bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn wir Studenten beibringen, den Verstand als ein Werkzeug zu betrachten, mitessen Hilfe man sich von der Welt distanziert, dann bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn wir den Studenten beibringen, um Noten zu wetteifern, als wäre das Wissen eine Ware, an der ein Mangel herrscht, bringen wir ihnen eine gemeinschaftsfeindliche Ethik bei. Wenn diese Dinge durch das heimliche Curriculum von Bildern und Prozeduren vermittelt werden, spielt der Inhalt des förmlichen Lehrplans kaum eine Rolle – egal wie „gemeinschaftlich“ oder „ethisch“ er sein mag.
Kritisches Denken muss kein Akt der Distanzierung sein, sondern kann auch als Teilhabe und Engagement gelebt werden, ebenso wie das Aushalten von Ambivalenz nicht zum billigen Relativismus werden muss, sondern als Hören auf den anderen, das die eigene Stimme darüber nicht verliert. Hinter den Brüchen und Widersprüchen könnte so die verborgene Einheit und Ganzheit des Lebens wieder sichtbar und spürbar werden. Wahrheit, die verbindet statt trennt. Wahrheit, die den verändert, der sie entdeckt, und ihn von dem Zwang heilt, die Welt zu manipulieren, um sich selbst nicht ändern zu müssen.