Die Erfindung der Geschichte

Lesslie Newbigin hatte ja viel Spannendes über die Geschichtlichkeit des Glaubens und die Bibel als einzigartige Interpretation der Weltgeschichte zu sagen. Thomas Cahill geht noch einen Schritt weiter und bemerkt, dass es Geschichte, wie wir sie kennen, ohne die Bibel gar nicht gäbe. Sie ist eine “Erfindung” des Judentums, dessen Stammvater Abraham die mesopotamische Kultur verlässt, in der das ewige Rad des Himmels das ständige Werden und Vergehen auf der Erde symbolisiert und umgekehrt. Angesichts dieser beiden Pole – Ewigkeit des Himmels und Vergänglichkeit alles Irdischen – ist schlicht nichts Neues möglich und denkbar, sondern es erscheint als Illusion und Verrücktheit.

Dass etwas “neu” war, war also nichts Positives. Hoffnung auf Fortschritt und Veränderung waren nicht angesagt. Doch für Abraham wird es möglich, weil sein Gott zu ihm spricht und auf dieser Reise sich ein immer persönlicheres und exklusiveres (andere Götter ausschließendes) Verhältnis zu diesem einen (später dann: einzigen) Gott entwickelt. Und damit zum ersten Mal so etwas wie Individualität.

Gott offenbart sich also nicht nur in der Geschichte, sondern seine Offenbarung ermöglicht Geschichte eigentlich erst so richtig. Für uns ist das so selbstverständlich, dass wir oft ahnungslos über ganz unerhörte Aussagen hinweglesen:

»Wayyelekh Avram« (»da zog Abram weg«), zwei der kühnsten Worte der Weltliteratur. Sie verweisen darauf, dass alles, was der langen Evolution der Kultur und des Empfindungsvermögens vorausgegangen war, aufgegeben wurde. Aus Sumer, dem zivilisierten Ort des Vorhersehbaren, kommt ein Mann, der sich, ohne zu wissen, wohin ihn seine Reise führen wird, auf den Weg in die Wildnis macht, weil sein Gott es ihm befohlen hat (…). Aus einem Menschengeschlecht, das weiß, dass alles irdische Streben mit dem Tod enden muss, geht ein Führer hervor, der an ein außergewöhnliches Versprechen glaubt. Im Menschen erwacht der Traum von etwas Neuem, etwas besserem, das noch bevorsteht – in der Zukunft.

(Thomas Cahill, Abrahams Welt. Wie das jüdische Volk die westliche Zivilisation erfand, Köln 2000, S. 67)

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5 Antworten auf „Die Erfindung der Geschichte“

  1. In der Tat ist der Auszug Abrahams im Vertrauen auf Gott für die biblische Geschichte, in der auch wir stehen, von entscheidender Bedeutung. Das aber als Urgrund von Geschichte und Individualität zu sehen halte ich für übertrieben.
    Auch im Gilgamesch-Epos zieht Gilgamesch in die Ferne, dem Tod und Schicksal zu trotzen, und wirklich gelingt es ihm, das Kraut des Lebens für seinen toten Freund Enkidu mitzubringen, auch hier ist die Hoffnung zum Ausbrechen aus dem Rad von Tod und Leben greifbar nahe. Wenn auch diese Geschichte nach all der Spannung ein geradezu plattes Ende nimmt, so geht es trotzdem um ein sich austrecken nach etwas neuem, was vorher noch nie da war.
    Zum anderen wäre es interessant, sich den Buchtitel mal genauer anzuschauen, die westliche Zivilisation scheint mir aktuell, mehr denn je, eher vom antiken Griechenland geprägt zu sein trotz (noch) linearem Zeitverständnis.

  2. Ja, das Buch lohnt sich. Bei allen Ähnlichkeiten ist für Cahill gerade auch Gilgamesch der Beweis der Differenz, eben dass es dort keine echte Veränderung gibt und keine echte Individualität. Und wie du auch bemerkst: Trotz aller episodischen Spannung zwischendurch fehlt dem Epos ein Ziel. Und die Akteure sind Typen, keine Individuen.

    Gilgamesch war, wie die griechischen Heroen, eben ein Halbgott. Die Sumerer kamen gar nicht auf die Idee, von Nicht-Königen eine Genealogie zu schreiben, wie sie heute noch in Genesis 11 steht. Die Griechen, Ägypter, Inder vor 4000 Jahren waren da vermutlich auch nicht anders. Unser ganzes neuzeitliches Personverständnis ist ohne die Bibel undenkbar.

  3. Es ist das Privileg der Mächtigen, die Geschichte zu schreiben, die auch überliefert wird. Die Legitimation der Königshäuser war (und ist z.T. immer noch interessanterweise) eine übernatürliche Abkunft in irgendeiner Art und Weise.
    Funde von Aufzeichnungen und Briefen zeigen, daß auch der „kleine Mann“ (oder eher der „mittlere“, der schreiben konnte) sein Leben gelebt hat, sowohl im Zweistromland, als auch in Ägypten.
    Es ist ja nicht der „Bürger“ Abraham gewesen, der die Initiative ergriff und nun auch seine Geschichte für überliefernswert hielt. Es ist die Geschichte des Gottes Abrahams, in dem Fall also nicht nur die Geschichte eines Halbgottes, sondern sogar eines „Vollgottes“, der für die überlieferte Geschichte sorgt, somit also nicht wirklich ein Ausbruch aus dem bewährten Schema.

  4. Ohne das Buch hier wiedergeben zu können: Klar konnten einzelne schreiben, doch es gab eben keine Gemeinschaft, die auf die Idee gekommen wäre, ihre Geschichte überhaupt zu erzählen. Und die der „göttlichen“ Könige wurde erzählt, weil sie für das unvergängliche (dachte man…) Reich standen, nicht weil sie Individuen gewesen wären.

    Aber die Ich-Du Struktur der letztgültigen bzw. gesamten Wirklichkeit ist eben ein jüdischer Gedanke, und bei Abraham taucht er erstmals in der Geschichte auf.

  5. Ja, dadurch bekommt der Mensch seine Bedeutung als Gottes Gegenüber zugesprochen.
    Halbgötter in weiß und anderer Coleur bleiben meist beim „Ich“ hängen.

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