Deutsch zum Abgewöhnen (8): „besinnlich“

„Besinnlich“ ist ein Ausdruck, der Menschen praktisch nur in der Weihnachtszeit über die Lippen kommt. Er gehört überhaupt nicht zum „normalen“ Repertoire und ist eines dieser Verlegenheitswörter, die man, statt sie im Munde zu führen, vielleicht lieber zum Anlass nehmen sollte, sich der darin zum Ausdruck kommenden Verlegenheit zu stellen.

„Besinnlichkeit“ scheint mir eine Art Platzhalter zu sein, von dem man schon gar nicht mehr so genau sagen kann, wofür er eigentlich steht. Man empfindet eine Ahnung, dass da mal etwas stand, von dem noch ein Abdruck da ist, aber sonst jede substanzielle Spur fehlt. Besinnlichkeit benennt eine Stimmung, in der sich vielleicht der zarte Wunsch nach einer tieferen Besinnung auf „das Wesentliche“ noch widerspiegelt.

Zu letzterer kommt es in der Regel aber gar nicht mehr konkret, weil man entweder nicht weiß, wie man das mit dem Sich-Besinnen praktisch angehen sollte, oder aber in Anbetracht der Mühseligkeit dieses Unterfangens schon zufrieden ist mit dem Platzhalter-Gefühl, dem bloßen Vorhandensein jener Gemütsverfassung, die mir so etwas wie „Tiefgang“ attestiert, ohne dass ich einen Blick in diese womöglich schwindelerregende Tiefe riskieren muss.

Folglich lautet mein Weihnachtswunsch für alle, die diesen Post lesen, dass sie in diesem Tagen zu einer Besinnung finden, die reich und erfüllend genug ist, um jeden Hang zu nebulöser Besinnlichkeit überflüssig zu machen.

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Eine Antwort auf „Deutsch zum Abgewöhnen (8): „besinnlich““

  1. Aus den Augen einer Frau : Ich bin froh, dass ich endlich „zur Besinnung“ kommen kann. Mich nervt dieses Wort in der Vorweihnachtszeit, weil es einen Anspruch an mich impliziert, dem ich als Familienfrau aufgegeben habe, gerecht zu werden. Ich habe wohl Sehnsucht danach, deshalb stellt sich Ärger ein, wenn mich jemand mit diesem Anspruch konfrontiert, weil die Sturmflut an Jahresendabschlüssen, Geschenkwünschen, Vorbereitungen e.t.c mich jedes Jahr davonspült…und in all dem noch Raum für Besinnung zu schaffen, für mich wie die letzte Überforderung im weihnachtlichen Balance-Akt wirkt. Ich habe wohl darüber nachgedacht, wie man das ändern könnte. Da Kloster ausscheidet, käme nur noch eine Änderung der „Weihnachtszeitkultur“ in Frage, z.Bsp ein radikales Umdenken in puncto Geschenken und des Weihnachtsabendrituals um den Erwartungsdruck der jährlich zur Erfüllung drängt, in seiner Richtung zu ändern. z. Bsp.: ein klitzekleines Überraschungsgeschenk an meine engsten Familienmitglieder und ansonsten ein Geschenk, das mir einfällt, oder zufällt, an jemanden, der nicht damit rechnet…Weihnachten mal draußen feiern, ohne Braten und Baum…Ideen habe ich, aber ich merke, das traditionell festgefügte Weihnachtsparadigma in den Köpfen meiner Liebsten – in einer Zeit, in der Traditionen weniger geachtet werden – ist doch so fest verankert, als ob es die letzte Traditionsbastion ist, die uns zusammenhält…ein Versuch sollte es aber wert sein. Mal sehen, ob sich damit mehr Raum für Besinnung schaffen lässt, denn der will ja auch gestaltet sein, wenn man Familie hat. Jedenfalls sind für mich die Tage nach den Weihnachtstagen die „Tage ohne Namen“, ein Gleiten zwischen den Zeiten und wenn ich dann etwas zur Besinnung gekommen bin, finde ich auch den ein oder anderen „besinnlichen“ Gedanken wieder. Diesen Freiraum liebe ich und meine Seele gestaltet ihn von selbst. Letztendlich glaube ich das unsere Reizüberflutung medialer, materieller Art plus unsere mangelnde Verbundenheit mit der Natur uns von dem natürlichen Raum der Besinnlichkeit trennen, denn Besinnlichkeit braucht ein Vakuum, und wer hat das vom 1. bis zum 24. Dezember ? Ich bin so „vernetzt“, dass mir die Besinnung fehlt, dem Vogel vor meinem Fenster bei seiner Suche nach Futter zuzuschauen…

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