Kürzlich nahm ich an einem theologischen Gespräch teil über die christliche Lehre vom Heil und der Versöhnung (Soteriologie). Die meisten Teilnehmer kamen aus der evangelikalen Tradition, die seit jeher die persönliche und individuelle Seite des Erlösungsgeschehens in den Mittelpunkt stellt. Uneins waren wir uns an dem Punkt, ob diese Akzentuierung sich zu Recht auf das Neue Testament berufen kann oder nicht. Eine These, die im Raum stand, war nämlich die, dass im Unterschied zu den Heilserwartungen der hebräischen Bibel (dort geht es um Gott und sein Volk, die Individuen sind dem deutlich nachgeordnet) im Neuen Testament eben diese Dimension des Einzelnen ins Zentrum rückt.
Je länger ich das Neue Testament lese, desto weniger kann ich das noch so sehen. Freilich muss man sich von einer bestimmten Auslegungstradition freischwimmen, die etwa mit Augustinus einsetzt, sich in der Reformation verstärkt und die im Pietismus wie Aufklärung noch weiter zunimmt, nämlich die Konzentration auf den einzelnen Menschen. Das fällt vielen schon deshalb nicht mehr auf, weil der moderne Hyperindividualismus das längst noch in den Schatten stellt. Legt man die Brille mal beiseite, die schon mehr oder weniger unbewusst jeden Plural in einen Singular verwandelt und jede Gemeinschaft nur als Ansammlung von Individuen missversteht (in Wirklichkeit ist sie etwas anderes und Größeres), dann ergibt sich ein anderes Bild.
Ein paar Schlaglichter:
- Der zentrale Begriff in der Verkündigung Jesu ist die Herrschaft Gottes. Sie erscheint schon im Danielbuch als Gegenbild zu den antiken Imperien, unter denen Israel zu leiden hatte. Sie ist nicht etwa nur eine religiöse Variante derselben, sondern deren fundamentale Infragestellung – daher ist sie auch „nicht von dieser Welt“: Kein Teil dieses Systems, das Menschen unterwirft und Ordnung bzw. Frieden gewaltsam erzwingt, sondern, wie Walter Wink es nennt, „Gottes herrschaftsfreie Ordnung“ mit kosmischen Konsequenzen (vgl. Jesaja 25,6ff, Ezechiel 47,1ff) . In der Herrschaft Gottes bricht der „Himmel“ auf der Erde an, das Kommende wirft in Jesu Zeichen und Wundern seine Schatten voraus, aber die Geburtswehen dauern noch so lange an, wie das Alte fortbesteht.
- Auch Jesu Verkündigung richtet sich nicht primär an einzelne Menschen, sondern an sein Volk (Matthäus 1,21-23). Jesus definiert Israel explizit als seinen Wirkungsbereich (Matthäus 10,6), und im Stil der großen Propheten (N.T. Wright zeigt das sehr gründlich in Jesus und der Sieg Gottes) ruft er, wie schon der Täufer vor ihm, Israel als Ganzes zur Umkehr.
- Wenn er dabei einzelne in seine Nachfolge ruft, steht das in diesem Kontext: Der Zwölferkreis symbolisiert die endzeitliche Sammlung des seit Jahrhunderten zerstreuten Gottesvolkes, und die zahlreichen anderen NachfolgerInnen bilden (ähnlich wie die Gemeinschaft von Qumran das von sich auch glaubte) das „wahre Israel“.
- Dessen Grenzen freilich weicht Jesus auch gleich wieder etwas auf, wenn er Heiden wie dem Hauptmann und der Syrophönizierin Anteil am Heil schenkt. Aber auch das darf man nicht individualistisch missverstehen, schließlich ist es Israels Berufung seit Abraham, ein Segen für die Völker-/Heidenwelt zu sein (vgl. Gen 12,1ff.). Christus ist, so heißt es in Apg 26,23 „dem Volk (!) und den Heiden ein Licht“.
- Das Passah als das zentrale Symbol des Neuen Bundes (1.Korinther 11,25) greift auf die Exodustradition zurück, Jesus wird wie damals Mose zum Mittler zwischen Gott und dem Volk, das nun aus Juden und Heiden besteht. Ebenso wie das Passah steht auch die Taufe in der Exodustradition (1.Korinther 10,1f.) des Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk. Beides kann nur in Gemeinschaft begangen werden, nicht im stillen Kämmerlein oder der reinen, für alle andere unzugänglichen Innerlichkeit des eigenen „Herzens“. In der alten Kirche und in der lutherischen und katholischen Tradition ist nicht von ungefähr das Sakrament der Angelpunkt der Zueignung und Aktualisierung des Heils. Franckes Bekehrung, stilprägend für den Pietismus und Evangelikalismus, fand dagegen in der Abgeschiedenheit der Kammer statt. Interessanterweise hatte ich für das Gespräch eine These vorbereitet, in der die Eucharistie vorkam, und die Arbeitsgruppe zu diesem Punkt war offenbar der Auffassung, dass der Verweis auf das Sakrament für die evangelikale Soteriologie verzichtbar ist…
- Schaut man genau hin, dann wird im Neuen Testament meines Wissens so gut wie nie davon geredet, dass Jesus für den einzelnen Menschen gestorben sei. Die einzige Ausnahme ist Galater 2,20 (und da nennt Paulus sich eben auch exemplarisch für die Gemeinde, um die er ringt); abgesehen davon steht immer der Plural „für uns“ oder es erscheint gar die ganze Welt als Adressatin des Heils. Demgegenüber ist es schon auffallend, wie das „für mich“ und „für dich“ in Liedgut und Verkündigung seit Pietismus und Aufklärung als der sprachliche Regelfall erscheint, und nicht mehr als die Ausnahme.
- Während die biblische Geschichte in einem Garten mit zwei Menschen beginnt, endet sie in einer Stadt, einer Polis. In diese Stadt bringen nicht einzelne Menschen, sondern ganze Völker und Kulturen ihre Schätze. Gottes universales Heil kann in einem einzelnen, isolierten Menschen also gar nicht anschaulich werden, es überschreitet in seiner Gemeinschaft stiftenden Ausbreitung die Grenzen von Familien, Sippen, Kulturen und politischen Strukturen.
Schließlich ist die umfassende Wiederherstellung der Beziehung, Verbindung und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, Menschheit und Schöpfung ja die Essenz aller christlicher Heilsvorstellungen. Eben deshalb sind Gottes- und Nächstenliebe bei Jesus gleichrangig, ist die Bruderliebe im ersten Johannesbrief das Echtheitskriterium der Gottesliebe. Auch von daher denke ich, man muss dem Zeitgeist zum Trotz – wunderbar, dass ich diesen Satz hier auch mal verwenden kann 🙂 – darauf beharren, dass die Dimension des einzelnen auch im Neuen Testament zwar nicht ausgeblendet und vernachlässigt wird, aber deutlich hinter der gemeinschaftlichen und damit eben auch der sozialen Dimension von Glauben und Heil anzusiedeln ist.
Die Zumutung des Evangeliums in einer zunehmend narzisstischen Gesellschaft ist die Einsicht, dass sich die Welt (und erst recht Gott) nicht um mich dreht, auch nicht um meinen „geistlichen“ Zustand, sondern dass Gottes Geist gerade auf ein dezentriertes Selbst hinwirkt. Ironischerweise sind gerade solche Menschen individueller und unverwechselbarer „sie selbst“ als die meisten anderen. Dem würden nun auch viele Vertreter des Heilsindividualismus zustimmen, für die sich erst einmal alles um die persönliche Gottesbeziehung dreht. Sie würden sich und anderen den Weg dahin (es geht ja um nichts weniger als die oft beschworene „Heiligung“) eventuell erleichtern, wenn sie in der missionarischen Verkündigung gleich auf dem richtigen Fuß beginnen würden.
Danke! Ein paar Diskussionsthesen nehme ich gleich mit zu einem Referat am Montag … 🙂
Lieber Peter,
meines Erachtens muss man hier mit Recht den Schwachpunkt bei der Reformation sehen. Sie hat und dass ist bei allem, was man vielleicht als gut sieht tatsächlich die Einheit der Kirche geschwächt.
Als ich während meines Studiums mal eine Zeit lang in Rom die katholische Kirche studiert habe, ist mir das gleich aufgefallen, dass man sich als Weltkirche und Weltorganisation ansieht- nicht als „Landeskirche“ oder „freie unabhängige“ (ist das überhaupt irgendwie biblisch?) Gemeinde. Deine Erfahrung mit der Eucharistie spricht Bände und ist offenbar tatsächlich typisch für viele evangelikale Christen
In Rom war es ganz normal, dass Menschen aus unterschiedlichen Ländern gemeinsam Gottesdienst gefeiert haben und dass man bestrebt war auf eine Einheitliche Linie zu kommen.
Ich denke, es ist ein Schwachpunkt bei uns Protestanten, dass wir uns auch mit Verweis auf „die Bibel“ immer weiter aufspalten, weil wir unsere Privaterkenntnis für wichtiger halten, als die Einheit.
Das gilt leider auch für die Evangelischen Landeskirchen, welche die Erfahrungen von Christen aus den anderen Kulturkreisen in der Theologie und Praxis oft ausblendet und stattdessen tatsächlich vom „deutschen“ Zeitgeist abhängig ist. Praktizierende Katholiken laden dagegen ganz oft ein- nicht nur zu Jesus, sondern auch zur Kirche, weil sie die Kirche als unverzichtbar sehen, um Nachfolge zu lernen -und weil sie meinen, dass die Kirche etwas der Welt geben kann, was letztere sich nicht selbst geben kann. Ich denke, das können wir durchaus von den Katholiken lernen.