Richard Sennetts Kritik an der allgegenwärtigen Forderung nach Authentizität (siehe Tobias‘ feine Posts auf pickaboo) und sein Verweis auf die Folgen dieser Mentalität hat mich ans Predigen erinnert. Da ist ja auch – je nach Gemeindekultur, und alles was jetzt kommt ist überspitzt formuliert! – die Erwartung gestiegen, dass ein Prediger sich, wenn schon nicht zum Thema, dann wenigstens zum Dauerexempel seiner Botschaft macht. Wenn es gut läuft, dann zum Erzheiligen, alternativ auch gern zum Erzsünder:
„Das übermäßige Interesse an Personen auf Kosten der gesellschaftlichen Beziehungen wirkt wie ein Filter, der unser rationales Gesellschaftsverständnis verfärbt.“ So entsteht der Glaube, Gemeinschaft sei das Produkt gegenseitiger Selbstentblößung.
Ich mag persönliche Beispiele, aber man kann es auch übertreiben. Und manchmal beunruhigt mich das Missverhältnis zwischen der Resonanz auf persönliche Anekdoten und der auf inhaltliche Aussagen. Fast so, als ob nur das erste hängen bleibt. Die Folgen könnten nämlich in doppelter Hinsicht zum Problem werden:
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Erstens erzeugt der Druck beim Prediger selbst eine neue Doppelbödigkeit, weil man immer wenigstens authentisch wirken muss, um überhaupt gehört zu werden und dem Verdacht zu entrinnen, man würde “nur Theorie” predigen oder das selbst gar nicht leben. Ich hatte wirklich schon Gesprächssituationen, wo mir jemand signalisierte, er wäre nur dann bereit, etwas ernst zu nehmen und zu tun, wenn ich meine Situation vor ihm (bzw. in der versammelten Runde) ausbreite. Ich habe mich geweigert, das Spiel mitzuspielen. Er muss tun, was er für richtig hält. Die Verantwortung liegt ganz allein bei ihm – nicht bei mir!
Zweitens erzeugt diese Logik beim Hörer die Illusion von “authentischer” Erfahrung aus zweiter Hand, die jedoch nicht die eigene ist und womöglich auch nie wird. Aber die Pseudo-Erfahrung hat, wie im Reality-TV eine voyeuristische Faszination. Nur eben eine Faszination, die mir als Beobachter nichts abverlangt und mich nicht verändert. Ein beliebtes Element gemeindlicher Kuschelkultur. Um noch einmal Tobias zu zitieren:
Diese psychologische Einstellung zum Leben hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Daher nennt Sennett diese, die ‚intime Sichtweise der Gesellschaft’. Dies bedeutet, dass wir vor allem Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zu offenem Ausdruck der Gefühle in allen unseren Erfahrungsbereichen erwarten. Doch: Weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens diese Erwartungen nicht erfüllen kann, wird die objektive Welt für uns schal und leer.
Bevor sich jetzt jemand Sorgen macht: Ich werde weiter persönliche Geschichten erzählen, wenn ich die Freiheit dazu habe und es für sinnvoll und angemessen halte. Aber es darf eben keine Methode werden. Der Franke kann “Authentizität” eh nicht aussprechen.
Finde ich sehr bedenkenswert, was du da schreibst: Braucht eine Predigt immer persönliche Geschichten, um anzukommen?
Zwei verschiedene Gedanken dazu:
Einer der Prediger, die mich immer am meisten ansprechen, ist Wolfram Kopfermann (Anskar, Hamburg). Eines Tages fiel mir dann auf: Er erzählt in seinen Predigten nie, wirklich nie, Geschichten aus seinem eigenen Leben. Beispiele ja, eigene Erlebnisse nein. Trotzdem „funktioniert’s“.
Zugleich schreibt Scot McKnight in einem Kommentar zu dem von dir empfohlenen Post über Brian McLaren und die Diskussion um dessen Theologie das hier: „Will we ever learn that character and life cannot be divorced from what we believe, but that they actually reveal what we truly believe? I can’t tell you the number of times I’ve participated in discussions when I thought — maybe the person won, but I’d not want to be like them; or maybe I won, but “who” was revealed?“
Wie wahr… Heißt natürlich nicht, das ich zu jedem Bibelvers ne irgendwo total ehrliche Geschichte parat haben muss – demonstriert aber wieder mal, dass das worum es geht tatsächlich unser Leben ist.
Hallo Peder,
i wass fa ned, was du maahnsd, wir kenna doch eiwandfrai audenzididi… audenzidi… Echdhait sagn!
…es ist wirklich schön anzusehen, wie man Gedanken aufnimmt, hervorkramt, ein bisschen weiterdenkt und weitergibt, diese dann aufgenommen werden, weitergedacht werden usw. Danke, echt spannend!
Werde demnächst in einem Vortrag was zu der Frage sagen müssen, was Kirche für die junge Generation relevant macht. Ein drittel meiner Antwort wird ganau darin bestehen: Authentizität. Aber es wäre tatsächlich mal interessant zu überlegen, was Auth. (kürze das doofe wort mal ab) in einer Predigt eigentlich ist. Erinnere mich an Prediger, die auth. waren, ohne ein einziges Mal den Satz „ich sag euch mal, wie’s mir damit geht“ verbochen zu haben. Erinnere mich auch an Leute, die dauernd von sich erzählten und es war einfach nur peinlich. Aber (das Aber musste ja kommen), ich bin trotzdem überzeugt: die Leute und – ich selber auch – haben keinen Bock auf Wahrheiten. Was sie brauchen ist das echte Leben. Wenn ich nachdenke, welche Redner oder Schreiber mich wirklich geprägt und inspiriert haben, dann nur die, die (hoffentlich!) echt waren, selbst wenn sie dabei gar nicht so gut weg kamen.
Wir dürfen Auth. nicht zu einer Methode machen, denn dann ist es sowieso keine Auth. mehr. Wenn ich aber echt BIN, auch auf der Bühne (oder Kanzel oder wo immer), dann wirds auch rüber kommen, selbst wenn ich keine Persönliche-Beispiele-Um-Mich-Werfer werde. Ich nehme also das Wort eines alten Mitbruders auf und rufe der Nation zu: „Brüder, lasst uns autistisch werden!“