Vielleicht war es der Kreuzträger bei der Beerdigung, an der ich letzte Woche teilnahm, der mich wieder an eine Predigt erinnerte, die ich neulich gehört hatte. Da ging es um Jesu Aufruf, „sein Kreuz auf sich“ zu nehmen und ihm nachzufolgen. Der Prediger erklärte dazu, dabei handele es sich um die Dinge, die einem das Leben eben so zumute und auferlege: Krankheit, ein fieser Chef, lästige Nachbarn, berufliches Scheitern und derlei mehr.
Wenn das so wäre, dann müsste man dieses Kreuz ja gar nicht auf sich nehmen, es würde einem einfach auferlegt. Natürlich gibt es solche Dinge, die uns – ob Christen oder nicht – zugemutet werden, und die sich niemand freiwillig aussucht. Für Jesu Zeitgenossen war das Kreuz aber nicht nur ein vages Symbol, sondern grausame Realität eines Imperiums, das auf Abschreckung durch Gewalt setzte und jeglichen Widerstand damit zu unterbinden versuchte. Wer dem Kaiser trotzte, musste mit Schikanen bis zur physischen Vernichtung rechnen und der totalen Degradierung zu einem hilflosen Bündel aus Blut und Schmerzen.
Also ist das „Kreuz“ Leiden, das man sich mehr oder weniger bewusst einhandelt, weil man sich mit Gott und anderen Menschen identifiziert und sich für sie einsetzt (und dann diffamiert, gemobbt, benachteiligt, ausgeschlossen, verfolgt oder gefoltert wird – nicht immer, aber das weiß man vorher ja nie). Es beginnt mit dem Mitleiden, das nicht immer eine rein innerliche Sache bleibt. Irgendwann verteidigt man zum Beispiel einen Kollegen dem Chef gegenüber und gilt in dessen Augen ab da als Staatsfeind Nummer eins.
In einer abgeleiteten Form ist es auch der ganze Einsatz von Kraft und Zeit, der nötig ist, um sich schon jetzt verändern zu lassen in die Art von Person, die nach Gottes neuer Weltordnung lebt und sie schon unter den Bedingungen der „alten“ Welt sichtbar macht. Auch da geht es ja um Verzicht auf manche Bequemlichkeit oder Disziplinlosigkeit, die man sich herausnehmen könnte, wenn man nicht damit rechnen müsste, in die oben beschriebenen Situationen zu geraten – oder wenn es einem egal wäre, was aus der Welt und den Menschen uns her wird.
Wären wir Christen politische Aktivisten in einem autoritären Staat, dann müssten wir ganz praktisch trainieren, wie man nächtliche Verhaftungen und Verhöre heil übersteht, wie man Folter und Isolation erduldet, wie man Lügen und Erpressungsversuche der Geheimpolizei an sich abprallen lässt. Das würde zu diesem „Kreuz“ im weiteren Sinne dazugehören. Und an viele Stellen der Welt ist ja genau das auch die bittere Realität für viele Christen.
Von daher sind Dinge wie Fasten (als Konsumverzicht) und Teilen, das Gebet und die Meditation (die mich in eine gesunde Distanz zu mir selbst und meinen Mitmenschen bringen und destruktive Reflexe ins Leere laufen lässt), die Beschäftigung mit der Bibel und mit geistlicher Literatur (die mir einen anderen Horizont eröffnet, vor dem ich mich und die Welt betrachte) und regelmäßige Kontakte mit Menschen, die auf demselben Weg sind (niemand schafft das allein) alles Investitionen in eine solche Resilienz. Das kleine Kreuz, sozusagen. Oder das leichte Ende des großen, dessen Stunde durchaus auch eines Tages noch kommen kann.
Weil aber das Kreuz nicht das Ende ist, dürfen wir es an jedem der beiden Enden sogar fröhlich tragen.
Dennoch bleibt dieses „Kreuz“ für uns oftmals nur eine ziemlich abstrakte Größe, glücklicherweise. Ich bin – Spätzünder – jetzt erst auf die Geschichte von Helen Berhane aus Erithrea gestoßen. Unglaublich, unvorstellbar, was für ein Kreuz manchen Menschen auferlegt wird. Und nicht alle erleben die Gnade, dass es ihnen – so wie in ihrem Fall – irgendwann wieder abgenommen wird. Andere brechen schließlich darunter zusammen. Für uns einfach nur schockierend, für diese geplagten Menschen wahrscheinlich eine Erlösung.
Als ich das gelesen habe, kam mir das Gleichnis von Lazarus in den Sinn und die Hoffnung, dass diesen armen, entmenschlichten Menschen irgendwo, irgendwie Trost und Gerechtigkeit entgegengebracht wird.