Ausgerechnet in Zeiten des Individualismus und der scheinbar unbegrenzten Wahlmöglichkeiten wird es immer schwerer zu sagen, was das Individuum eigentlich ausmacht. Es erinnert ein wenig an die Suche nach der Seele bei den ersten legalen (und illegalen) Obduktionen im mittelalterlichen Europa. Da fand man auch nichts. Oder an Juri Gagarin, der im Weltraum ankam und nichts von Gott sah.
Jemand zuhause?
Je nach Blickwinkel scheint es keine bestimmende Konstante zu geben. Menschen zerfallen in Rollen, Verhaltensmuster, ihre Lebensgeschichte in Episoden und Fragmente. Wir sind viel stärker verwoben in unsere Umwelt, als es die gängigen Konstrukte von Identität suggeriert hatten. So landet der Philosoph Thomas Metzler im Focus bei der Aussage: “keiner war oder hatte jemals ein Selbst”. Atome haben wir schon längst in andere “Elementarteilchen” zerlegt. Nun sind auch wir selbst zerlegbar – kein In-dividuum (Unteilbares) mehr.
Wir stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: Die Folgen dieser Art zu denken können gravierend bis katastrophal sein. Manche sehen schon die buddhistische Auflösung ins Nichts wissenschaftlich gerechtfertigt. Andererseits wird, christlich gedacht, aber auch Folgendes immer deutlicher:
- In uns selbst finden wir das einigende, organisierende Prinzip einer menschlichen Identität nicht, es kann uns also nur von außen zugesprochen werden, und zwar nicht von anderen Menschen (die dasselbe Problem haben), sondern von Gott. Es gibt uns eben nicht “an sich”, sondern nur in diesem (transzendenten) Gegenüber.
- Auch wenn viele Hirnforscher Gott a priori zur Projektion und Erfindung erklären, würde der kategorische Zweifel an unserer Fähigkeit, Dinge außerhalb unserer Hirnfunktionen wahrzunehmen natürlich auch die Ergebnisse ihrer eigenen Forschung betreffen. Zum Erkennen gehört eben ein Subjekt.
- In beiden Fällen bestehen also bestimmte Denkvoraussetzungen – Personalität ist damit zur Glaubenssache geworden, die jenseits aller Wissenschaft liegt.
- Das Thema “unsterbliche Seele” ist zum Glück erledigt. Die gibt es vielleicht im Platonismus, aber jüdisch-christlich war der Gedanke nie, bestenfalls ein enorm problematischer Fremdkörper. Ewiges Leben im biblischen Sinn ist etwas anderes, Ganzheitlicheres, und es handelt von Liebe und Treue in unseren Beziehungen, nicht von abstrakten “Eigenschaften”.
- Viele Aussagen in der Bibel deuten darauf hin, dass unsere Identität viel widersprüchlicher, komplexer, undurchschaubarer und rätselhafter ist, als es die gängigen Modelle moderner Psychologie je waren.
- Und sie unterstreichen, dass wir immer wieder damit überfordert sind, uns selbst zu organisieren, dass es aber auch Überraschungen in jede Richtung – tragisch und hoffnungsvoll – geben kann. Letztere vor allem dann, wenn wir uns auf Gott als Gegenüber besinnen und einlassen und darin eine Würde entdecken, die wir uns selbst nicht geben (oder nehmen) könnten, sondern die uns von außen – jenseits unserer selbst – zugesprochen werden muss.
Die Diskussionen über seelische Gesundheit, Recht und Unrecht, Sinn und Wirklichkeit werden auf der theoretischen Ebene immer schwerer zu führen sein. Das ist aber kein Grund, sie gar nicht mehr zu führen. Vielleicht lassen sich Menschen ja tatsächlich gern an ihre von Gott geschenkte Würde erinnern. Der Wunsch danach wird so schnell nicht aussterben, selbst wenn der Verstand die Frage für unlösbar hält.