Der „Runde Tisch Evangelisation“ in Berlin ging gestern zu Ende mit einer Betrachtung von Erhard Michel zu Jesaja 49,6. Dort heißt es:
Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.
Die Diskussionen vom Vorabend gingen mir noch im Kopf herum, wo das traditionell evangelikale Verständnis von Evangelisation auf den Gedanken der Gesellschaftstransformation (ich würde ja lieber von integraler Mission sprechen) getroffen war, als Erhard im Blick auf das Jesajawort vom „ganzen Schalom Gottes“ sprach und damit den eschatologischen Horizont des Propheten benannte.
Und genau hier liegt für mich der Angelpunkt, auf den die unterschiedlichen Ansätze bezogen werden müssen. Das herkömmliche Verständnis von „Evangelisation“ hat damit zu tun, „Seelen“ für den „Himmel“ zu gewinnen. Der theologische Bogen reicht vom Sündenfall bis zur jenseitigen Heimat, in die der einzelne aufgenommen wird, sofern er zustimmend auf die Predigt des Evangeliums antwortet. Evangelisation ist daher die Erläuterung des Heilsweges und der dringende Appell, ihn zu wählen. Wenn jemand den Weg in den Himmel einschlägt, indem er glaubt, ist das Ziel erreicht. Alles andere wird tendenziell als Hilfsdienst betrachtet, wenn es also „funktioniert“ und sofern die evangelistische Pflicht erfüllt ist (bzw. eben leichter von der Hand geht), kann man sich gern an die Kür machen. Alles soziale oder gar politische Handeln jedoch steht permanent unter dem tiefsitzenden Verdacht, das „Eigentliche“ könne darüber vergessen oder vernachlässigt werden. Dann geht es Menschen vielleicht vorübergehend besser, aber sie verpassen womöglich doch das ewige Ziel, und dann wäre aller Aufwand vergeblich. Johannes Reimer hat das gestern morgen sinngemäß so kommentiert, dass man auf die Rettung einzelner „aus der Welt“ bedacht ist, aber die Welt (bzw. die vielfältigen Lebenswelten, die Heinzpeter Hempelmann zuvor schon klug analysiert hatte) weitgehend sich selbst überlässt. Dieser Rückzug war theologisch vielleicht noch nachvollziehbar in den Wirren der Völkerwanderung (Augustinus) oder unter einem Monarchen, den von Gottes Gnaden regierte (Luther), passt aber nicht mehr in die offene Bürgergesellschaft. Allerdings: Aufgrund dieser Eschatologie, der Vorstellungen vom Ziel und Ende der Welt, ist die enge Definition von Evangelisation ganz logisch. Ein innergeschichtlicher Kampf für Gerechtigkeit ist vielleicht heroisch, aber nicht eigentlich nötig. Es sichert ja niemandem einen rettenden Platz im Himmel, denn der wird nach anderen Kriterien vergeben, und alles Diesseitige verliert demgegenüber an Bedeutung.
Wenn man allerdings wie etwa Jürgen Moltmann, Tom Wright und viele andere eine Eschatologie zugrunde legt, in der wie bei Jesaja das universale Heil für die ganze Schöpfung, die Neuschöpfung aller Dinge, also die zukünftige Verwandlung und Heilung der Welt der Fluchtpunkt göttlichen Wirkens in der Welt ist, dann ist all das Soziale nicht einfach Beiwerk, sondern schon eine konkrete Vorwegnahme dieses erwarteten und erhofften Zustands umfassender Gerechtigkeit, es ist zugleich ein theopolitischer Aufstand gegen all unsere korrupten Formen von Macht, all unsere destruktiven Verstrickungen in Hass (und sei er noch so subtil), Lüge oder Gier. Es ist eine Demonstration des Reiches Gottes, ohne die jede Wortverkündigung entleert wäre und unvollständig bliebe und sich dem Verdacht einer billigen Vertröstung aussetzen würde. Was im traditionellen Paradigma als „Evangelisation“ erscheint, wäre dann der Aufruf und das Angebot, sich dieser Bewegung Gottes in der Welt (die im Übrigen nicht unbedingt nur Christen umfassen muss) anzuschließen. Wer sich gewinnen lässt, für den beginnt damit ein sehr konkretes Ringen um eine tiefe Umgestaltung, eine unablässige Konfrontation mit allen inneren und äußeren Kräften der Zerstörung, eine Hinwendung zu anderen Menschen, ein Mitleiden mit der geschundenen Kreatur und zugleich das dankbare und ausgelassene Feiern all der Vorboten des zweiten Frühlings unserer Welt und Gottes barmherziger Gegenwart mitten in ihr. Wie könnte so jemand schweigen oder sprachlos bleiben, wenn er nach dem Grund seiner Hoffnung gefragt wird?
Insofern handelt es sich für mich auch nicht um zwei Sichtweisen, die gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander stehen oder um theologische Geschmacksfragen. Das „alte“ Paradigma (das eigentlich das jüngere ist) ist eine theologische Verkürzung und praktische Verengung dessen, was uns die Propheten, Jesus und die Apostel an Hoffnung mitgegeben haben und worauf der Geist Gottes mitten in der Geschichte dieser Welt hinwirkt. Während der messianisch-missionale Ansatz (neue Kombination von Attributen, aber ich finde sie ganz apart) alle wesentlichen Elemente das bisherigen in sein Koordinatensystem aufnehmen kann, ist das umgekehrt kaum zu schaffen. Unglücklicherweise befinden sich viele Vertreter des traditionellen Evangelisationsparadigmas historisch bedingt in einer Frontstellung gegen die Aufklärung, die Reich Gottes und zivilisatorischen Fortschritt durch pädagogische Vernunft und guten Willen in eins setzte bzw. den Fortschritt und die reine Immanenz vorzog. Das führt häufig zu verzerrten Wahrnehmungen und falschen Alternativen – als ob jemand, der Gott auch immanent am Werk sieht, deswegen gleich auch allen Bezug zur Transzendenz aufgegeben hätte. In dieser Frontstellung hat man zu Recht Kritik an der rationalistisch-pragmatischen Ausrichtung des Modernismus geübt, de facto aber auch dessen dualistisches Denken und die Reduktion des Glaubens auf das Jenseitige, Private, Innerliche und Apolitische stillschweigend übernommen.
Aber das ist eben einfach zu wenig: Wir müssen das wieder integrieren, was frühere Generationen abgespalten haben, statt es weiter misszuverstehen und zu bekämpfen. Das muss man gut und umsichtig tun, aber eben auch ohne sich einschüchtern zu lassen, wenn einem mal eben wieder Verrat am Evangelium oder (und das wäre in den Augen derer, die es sagen, dasselbe) ein Flirt mit Positionen des Weltkirchenrates unterstellt wird. Nun ist die Lausanner Bewegung im Grunde ja auf einem solchen Weg: 1974 stellte man das soziale Handeln ergänzend und eher lose neben die Evangelisation, in Kapstadt 2010 war dieses Nebeneinander und das Ringen um eine theologische Integration der verschiedenen Flügel wieder deutlich spürbar und das von Chris Wright geprägte Abschlussdokument sagt es unter anderem so:
The Church exists to worship and glorify God for all eternity and to participate in the transforming mission of God within history. Our mission is wholly derived from God’s mission, addresses the whole of God’s creation, and is grounded at its centre in the redeeming victory of the cross. This is the people to whom we belong, whose faith we confess and whose mission we share.
Der Ansatz ist also da. Was machen wir nun daraus? Andrew Perriman hat die Aufgabe jüngst so formuliert, und ich lasse das als Schlusswort im Raum stehen:
It seems to me that the church in the West today needs to recover something of that eschatological urgency and ambition. A sound biblical theology should do more than provide structure, shape and stability. It should generate the narrative by which we make sense of our place in the scheme of things—not somewhere vaguely between creation and new creation but here in the twenty-first century, as we struggle to justify our existence in the face of an all-powerful, all-meaningful, all-consuming secular materialism.