Sünden-Suche

IMG_1683Manchmal wird behauptet, man solle oder dürfe über das Thema Sünde heute nicht mehr reden. „Sollte nicht“, weil es säkulare Menschen verprellt, sagen die Modernisierer – „darf nicht“ weil die biblische Botschaft in unserer Spaßgesellschaft totgeschwiegen wird, argwöhnt dagegen die „Schluss-mit-Lustig“-Fraktion.

Weiter als diese Scheinalternative bringt uns, denke ich, die Frage, wie dieser theologische Begriff in unserer weitgehend säkularen Welt erscheint und gehört wird.

Dazu habe ich das Schlagwort bei einem großen Internet-Buchhandel eingegeben. Zur Trefferliste werden dort die Kategorien angezeigt, und ganz oben auf der Liste standen „Krimis und Thriller“, „Kochen und Genießen“ und „Liebesromane“. Die inzwischen tausendfach variierte Frage von Zarah Leander, ob Liebe denn Sünde sein könne, ist so betrachtet klar mit „ja“ beantwortet – erst die „sündige“ Liebe ist die eigentlich interessante. Zugleich wird deutlich, wie langweilig aus dieser Perspektive das Leben ohne Sinnlichkeit und den Reiz des Verbotenen wäre.

Die mit Abstand meisten Treffer jedoch waren weiter unten bei „Religion und Glaube“ einsortiert. Bei religiösen Menschen hat das Thema also einen höheren Stellenwert und ist Gegenstand ernsthafter, freilich nicht immer gelungener Auseinandersetzung. Man kann aber schon ahnen, warum man hier ganz schnell aneinander vorbei redet.

„Sünde“ ist ein altertümliches deutsches Wort, mit dem man vor Jahrhunderten den griechischen Begriff hamartia übersetzt hat. Seither haben sich die Wortfelder im deutschen wie tektonische Platten im Zeitrafferfilm munter verschoben. Vielleicht wäre ein erster Schritt zu gelingender Kommunikation, zu prüfen, welche heutigen Begriffe dafür vielleicht passender erscheinen und es ermöglichen, über den Sachverhalt verständlicher zu reden. Freilich werden manche auch das schon als Feigheit (das Schlüsselwort hier heißt „politisch korrekt“) werten, dass man die Frage nach einer angemessenen Terminologie überhaupt stellt, statt darauf zu beharren, dass die Welt den eigenen Jargon übernimmt.

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Gute Bibelfragen

„Antworten auf alle Fragen findet du in Gottes Wort“, lautete ein Aufkleber, den in grauer Vorzeit Bekannte von mir auf ihren Bibeln spazierentrugen. Vermutlich habe auch sie inzwischen entdeckt, dass das so nicht stimmt. Es gibt viele Fragen, auf die die Bibel nicht antwortet: Wie wird das Wetter morgen? Warum hat Angela Merkel die Wahl gewonnen? Ist diese oder jene Person „die Richtige“ für mich? Muss man die Musik von Xavier Naidoo mögen?

Diese Woche las mein Sohn ein paar der verstörenderen Passagen aus dem Ersten Testament und wunderte sich über diese oder jene recht blutrünstige Episode. Passend dazu fand ich einen Post von Rob Bell, der anmerkt, dass man selten eine gute Antwort auf die Frage findet, warum Gott dieses oder jenes befahl (und in welches Licht das nun Gott rückt, wenn da hunderte oder tausende sterben müssen).

Wir kommen weiter, wenn wir fragen,

  • warum jemand es wichtig fand, eine solche Geschichte zu erzählen
  • was der Anlass war, sie aufzuschreiben
  • was sich in der damaligen Welt abspielte
  • was der Text über das Selbst- und Gottesbild derer aussagt, die ihn verfasst haben
  • was für eine Geschichte hier eigentlich erzählt wird

Wer sich dafür interessiert, wie solches Fragen sich auswirkt, für den spielt Bell das am Beispiel der Sintflut einmal durch.

Bible

(Bild: „Bible“ von Chris Zielecki via Flickr, creative commons 2.0)
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Weisheit der Woche: klärender Kontrast

Ohne klare Vorstellung vom Kontrast zwischen Gottes herrschaftsfreier Ordnung und dem Herrschaftssystem wird das Evangelium in einem soziopolitischen Vakuum verkündet, einem zeitlosen, orts- und kontextfreien, ewigen Nirgendwo. Die Wahrheiten des Evangeliums werden als ewige Prinzipen behandelt, die mit den konkreten Dingen dieser Welt nichts zu tun haben.

Walter Wink

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Widersprüchliche Jesusbilder

Der Religionswissenschaftler Reza Aslan ist vor einiger Zeit durch ein Fernsehinterview, das auf Youtube die Runde machte, groß herausgekommen – was allerdings nicht an ihm, sondern an der selten dämlichen Journalistin von – wie könnte es anders sein? – Fox News lag.

Nun hat Zeit Online es besser gemacht. Spannender als den Inhalt seines Jesus-Buchs „Zealot“ (seinen Kurzfassungen konnte ich noch nichts bahnbrechend neues entnehmen) fand ich beim Lesen seine Biographie: Aslan hat eine Jesuitenschule besucht, wurde als Jugendlicher begeisterter Christ, und es war ausgerechnet das Bibelstudium, das ihn ins Zweifeln brachte:

Ich bin aus der Kirche ausgetreten, nachdem ich begann, die Bibel zu studieren. Plötzlich wurde mir klar, dass Jesus sich selber nie als Gott sah. Wenn er sagt: „Ich bin der Messias!“, dann heißt das: Ich bin ein Nachkomme König Davids! Kein Jude würde das übersetzen mit: Ich bin Gott! Das ist eine rein christliche Interpretation.

Mit diesem Satz hat er natürlich recht. Anscheinend hatte er mit einem Frömmigkeitstyp und in einem Milieu zum Glauben gefunden, wo ein unkritisches, dogmatisches Jesusbild so dominierte, dass der Zweifel daran auch zum Bruch mit dem christlichen Glauben führen musste. Als ihm dann im Studium auffiel, dass der Jesus des Evangelien sich zwar in der Rolle des Messias sieht, aber (wenn man die Texte aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang heraus versteht) nicht den Anspruch erhebt „Gott zu sein“, wandte der gebürtige Iraner sich wieder dem Islam zu.

Die evangelische Theologie hat die Frage seit dem Fragmentenstreit intensiv beackert, wie sich die altkirchlichen Bekenntnisse (das trinitarische Dogma und die „Zweinaturenlehre) und die historische Jesusüberlieferung zu einander verhalten. Dass man sie nicht, wie bis zur Aufklärung geschehen, naiv miteinander identifizieren kann, ist den meisten klar. Die Folgerung, dass sich das christliche Bekenntnis zu Jesus als dem menschgewordenen Gott – von Paulus über Johannes und weiter bei den Kirchenvätern – und die Selbstaussagen Jesu in den synoptischen Evangelien gegenseitig ausschließen, ist andererseits aber auch keineswegs zwingend.

Freilich muss man sich die Zeit nehmen und die Mühe machen, beides sauber und ohne historische oder dogmatische Kurzschlüsse zusammenzudenken. Ein guter Ansatzpunkt dafür ist von der neutestamentlichen Seite her N.T. Wrights gründliche und umfangreiche, aber durchaus auch für Nichttheologen lesbare Untersuchung Jesus und der Sieg Gottes. Wenn einiges davon sich unter frommen Verkündigern herumspräche, wären solche Konflikte, wie Aslan sie erlebte, vielleicht seltener.

Gern werden solche Episoden als Beleg dafür herangezogen, vor dem Theologiestudium zu warnen, weil man da angeblich seinen Glauben verliert. Ich denke, es wird allerdings auch andersherum ein Schuh draus, dass nämlich in vielen Gemeinden so selten, so denkfaul und so angepasst über theologische Schlüsselthemen diskutiert wird, dass sich manch einer regelrecht betrogen vorkommt, wenn er entdeckt, was ihm dort alles verschwiegen wurde. Dass dann mit den allzu simplen und naiven Theologumena auch noch die Kirchenzugehörigkeit über Bord geht, ist kein großes Wunder.

Reza Aslan bezeichnet sich übrigens immer noch als Jesusnachfolger:

But I am a follower of Jesus, and I think that sometimes, unfortunately — I think even Christians would recognize this and admit it — those two things aren’t always the same, being a Christian and being a follower of Jesus.

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Mehr Dekonstruktion, bitte!

Diese Woche lieferte wieder einmal großartigen Anschauungsunterricht: Silvio Berlusconi wurde in letzter Instanz verurteilt und versucht nun, die Folgen des Schuldspruchs dadurch zu begrenzen, dass er sich – wieder mal – als Opfer der bösen roten Justiz auspielt. Sein Medienimperium und die politischen Kräfte, die auf sein Wohlwollen angewiesen sind, spielen das Schmierentheater mit. Alle anderen hoffen, dass seine Strategie nicht aufgeht, aber sicher sein kann man sich da nicht.

Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion hat zusammen mit seinem berühmten Satz, dass es nichts außerhalb des Textes gebe, unter anderem auch den in seine „objektiven“ Gewissheiten verliebten modernistischen Flügel der Christenheit dadurch erschreckt, dass er darauf hinweist, dass wir gar nicht anders können, als Erfahrungen, Ereignisse und Gegenstände immer schon zu interpretieren, meist so unbewusst, weshalb wir unsere Interpretation dann auch oft für selbstverständlich und objektiv halten. Dass Berlusconi tatsächlich glaubt, was er sagt, lässt sich nicht völlig ausschließen. Gerade bei Machtmenschen ist das häufig anzutreffen, dass sie keine anderen Interpretationen der Wirklichkeit als die eigene gelten lassen, ja für möglich halten.

Statt in den oft befürchteten grenzenlosen Relativismus zu führen, hat richtig verstandene Dekonstruktion etwas Befreiendes, schreibt James K.A. Smith in Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church:

Wenn die Dekonstruktion anerkennt, dass alles Interpretation ist, eröffnet das einen Raum, wo man Fragen stellen kann – einen Raum, in dem die herkömmlichen und vorherrschenden Interpretationen hinterfragt werden, die oft den Anspruch erheben, gar keine Interpretationen zu sein. Dekonstruktion also solche interessiert sich für Interpretationen, die marginalisiert und ausgegrenzt wurden, und sie aktiviert Stimmen, die verstummt waren. Das ist der konstruktive, ja prophetische Aspekt von Derridas Dekonstruktion. (S. 51)

Dass das Evangelium „nur“ eine Interpretation der Ereignisse um Jesus von Nazareth ist, neben der es schon immer auch andere gab, wussten Christen schon immer. Es ist die Kehrseite der Aussage, dass alles Glauben und Verstehen Gnade ist. Dass es eine unauflösliche Vielfalt an Interpretationen gibt, bedeutet auch nicht, dass alle gleich wahr wären – auch das wird Derrida ja gelegentlich unterstellt – oder dass die Frage nach der Wahrheit sinnlos wäre. Wo man aber die eigene Interpretation für die „objektive Wirklichkeit“ hält, wird es selbst in einer pluralistischen Gesellschaft ganz schnell übergriffig.

Renold Blank hat den Sachverhalt griffig dargestellt (vgl. die Grafik unten): Je nach Prätext (der konkreten, situativ bedingen Absicht einer Aussage) und Kontext (dem Zusammenhang, aus dem heraus ein Text zu verstehen ist) können sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben. Bei Berlusconi etwa ist der Prätext die Sicherung von Macht und Einfluss, der Kontext ist Korruption sowie das tiefe Misstrauen und die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der politischen Klasse und dem Staat.

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Der Cavaliere mit dem gefärbten Haar möchte seiner frisierten Wirklichkeit nun durch Proteste auf den Straßen Geltung verschaffen. Dass sich hier ausgerechnet ein Milliardär eine Art Robin-Hood-Image verpasst und dem angeblich gierigen Staat im Namen der Freiheit trotzt, indem er Steuern hinterzieht und Richter besticht, zeigt schon, wie sehr der jeweilige Kontext die Interpretation des Textes (hier: des Gerichtsurteils) bestimmt. So wie der römische Kaiser (und heute der US-Präsident) sich zum Friedensbringer stilisieren ließ, während er zugleich einen gewaltigen Militärapparat befehligte.

Auch Blank weist auf den prophetischen Aspekt authentischer Offenbarung hin. Dabei geht prophetische Kritik immer zuerst nach innen und erst dann nach außen; das Evangelium dekonstruiert also auch die kirchlichen Verhältnisse (und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche einzelner Theologien und Richtungen), um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solche Stimmen täten momentan nicht nur in Italien gut.

Smith schreibt über eine „dekonstruktive“ Kirche:

… sie hat einen Sinn fürs Traditionelle, nichtsdestoweniger zeichnet sie sich durch eine Vielfalt aus und ein globales Interesse, das den Status Quo über den Haufen wirft. Die dekonstruktive Kirche hält an der Tradition fest, aber nicht am Traditionalismus des Status Quo. Sie ist eine Gemeinschaft der Interpretation, die unterdrückte Lesarten schätzt – großteils auch deshalb, weil das Evangelium selbst eine Interpretation des Menschseins ist, die von der säkularen Moderne ins Abseits gedrängt wurde. (S. 57f.)

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Wer kommt zu wem?

Gestern saß ich mit ein paar Theologen zusammen und wir sprachen unter anderem über Vorstellungen und Formulierungen, die in Gebeten und Liedern uns am Beginn so mancher Gottesdienste begegnet sind. DSCF1041.jpg

Da war zum Beispiel die Aufforderung oder Gewohnheit, Gott „willkommen zu heißen“. Wir waren uns schnell einig, dass Gott vermutlich schon deutlich länger „da ist“ als wir. All diese räumlichen Vorstellungen eines Herbeikommens hinken erheblich. Zudem liegt es dem christlichen Verständnis von Gottesdienst deutlich näher, zu sagen, dass wir die Gäste sind und Gott der Gastgeber, statt ihn umgekehrt irgendwohin „einladen“ zu wollen. Das klingt doch schnell etwas großspurig.

Es gibt freilich in der Schrift und der Tradition eine Bitte um das Kommen des Geistes, das (Wieder-)Kommen Christi und das Kommen des Reiches Gottes. Die bezieht sich aber weniger auf das Gelingen eines Gottesdienstes als vielmehr auf den Zustand unserer Welt, die Menschen in so vieler Hinsicht als gottverlassen erfahren. Im Gottesdienst hätte so etwas bei den Fürbitten einen guten Platz.

Auch etwas kontraproduktiv sind die beliebten Tempel-Analogien mit der Vorstellung, dass Gott an einem bestimmten Ort wohnt, vor allem deshalb, weil er dann anderenorts vermutlich schwerer zu erreichen wäre. Denn obwohl z.B. die Psalmen Gottes Gegenwart nicht exklusiv auf den Tempel beschränken, hat dieses Bild häufig eine solche Wirkung. Der eigentlich sakrale „Raum“ ist jedoch die versammelte Gemeinde, in der Gott in einer anderen Weise und Qualität gegenwärtig ist (oder besser: wirkt) als wenn sich jeder selbst genügen würde – das gilt selbst dann, wenn man miteinander „nur“ schweigt. Da wo die Tempelanalogie im Neuen Testament verwendet wird, in Epheser 4, ist wieder nicht vom Gottesdienst im engeren Sinn die Rede, sondern vom Leben der Gemeinde.

Leider etwas technisch und hölzern klingen Formulierungen, die Gottes grundsätzliche Anwesenheit voraussetzen, deren wir uns nun unsererseits bewusst werden. Tatsächlich geht es ja um ein inneres Ankommen und Gegenwärtigsein, um Aufmerksamkeit und eine Ausrichtung des Herzens.

Hilfreicher ist da vielleicht der etwas altmodisch klingende Begriff von Gottes „Angesicht“. Der setzt eine „räumliche“ Anwesenheit schon voraus, nun geht es um das gegenseitige Wahrnehmen und Erkennen, um die bewusste Zuwendung. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Kinder ab und zu, wenn sie auf meinem Schoß saßen und mit mir reden wollten, mit ihren kleinen Händen erst mein Gesicht zu sich hindrehten um Blickkontakt zu bekommen, bevor sie losredeten. Sie wollten sich meiner ungeteilten Aufmerksamkeit versichern. Und tatsächlich wissen wir heute, dass sich das Selbstwertgefühl und das Ich-Bewusstsein eines Babys durch den Blick in das Gesicht seiner engsten Bezugsperson entwickelt.

Am Beginn eines Gottesdienstes geschieht etwas Ähnliches. Wenn wir „Gottes Angesicht suchen“ (Ps 27,8), dann wollen wir ihm begegnen, seine Zuwendung erfahren, erkannt (und durchschaut) werden, uns seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bewusst werden. Umgekehrt müssen auch wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf Gott richten – in uns selbst, in den anderen. Wenn in der Bibel vom „Leuchten“ des göttlichen Angesichts die Rede ist, dann ist damit diese liebevolle, gütige und freundliche Zuwendung gemeint, die uns Frieden und Geborgenheit schenkt in einer chaotischen Welt, der wir aus eigener Kraft nicht Herr werden.

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Die Kirche ist nicht die Antwort

Paul Zulehner spricht ja gern von der Jesusbewegung, weil der Begriff „Kirche“ in vieler Hinsicht abschreckend wirkt auf unsere Zeitgenossen. Marcus Mumford von Mumford & Sons hat das wohl ganz ähnlich empfunden, als er sich neulich in einem Interview mit dem Rolling Stone Magazine als „Jesus-Nachfolger“ bezeichnete, aber den Ausdruck „Christ“ ablehnte.

Was aber ist die Aufgabe dieser Jesusbewegung a.k.a. „Kirche“? Wie und mit welchen Mitteln kann sie die Welt verändern, gerade dann, wenn sie auf die Machtmittel, den rigiden Dogmatismus und die autoritären Strukturen verzichtet, auf die jene problematischen Gestalten von Kirche und Christentum, für die wir uns heute nur entschuldigen können, allzu gern zurückgriffen? Kann sie das überhaupt?

John Caputo hat das für mein Empfinden ganz treffend formuliert. Er greift Charles Sheldons Frage „What would Jesus do?“ auf (bei Martin Niemöller hieß das dann ein halbes Jahrhundert später: „Was würde Jesus dazu sagen?“ – der Akzent auf dem Tun statt dem Reden gefällt mir allerdings besser). Freilich ist es schnell geschehen, dass wir vorschnelle Antworten geben und dass der Jesus, von dem wir da reden, uns erstaunlich ähnlich sieht – und nicht wir ihm. Caputo schreibt:

Die Aufgabe der Kirche ist es, sich selbst dieser Frage zu stellen, statt sie als Prügel zu benutzen, um andere zu strafen. Die Kirche, das Archiv Jesu, ist in einer ganz realen Weise diese Frage. Sie hat keine andere Pflicht und kein anderes Privileg als die Erinnerung an Jesus zu tragen und sich selbst diese Frage zu stellen. Die Kirche ist nicht die Antwort. Die Kirche ist die Frage, diese Frage, die Versammlung von Menschen, die von der Erinnerung an Jesus zusammengerufen wurden und die diese Frage stellen, die zusammengerufen und in Frage gestellt wurden von dieser Frage, die unter Anklage stehen, unter dem Ruf, die befragt werden und angesichts dieser Frage die Aussage nicht verweigern können, und die allmählich begreifen, dass es kein einfachen, vorgefertigten und abgepackten Antworten darauf gibt.

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Der göttliche Wanderer

Anselm Grün beschreibt in seinem Buch Erlösung. Ihre Bedeutung in unserem Leben unterschiedliche Ansätze im Neuen Testament, das Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Menschen zu schildern. Lukas zum Bespiel beschreibt Jesus als den göttlichen Wanderer, der bei seinem Volk einkehrt:

Lukas verbindet die Erfahrung des Heils auch mit der Vergebung der Sünden. Aber er spricht nicht vom Tod Jesu als der Bedingung für die Vergebung unserer Sünden. […] Im Lukasevangelium sind es nicht in erster Linie die Geburt Jesu oder sein Tod, die uns erlösen. Der ganze Weg Jesu ist ein Heilsweg. Jesus ruft ein Heilsjahr aus. Alles, was er im Jahre dieses Heiles tut, was er sagt und welche Wege er geht, das ist erlösend und heilend für uns Menschen. (S. 42f.)

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Retro-Gottesbilder

Wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem Atheismus über die Existenz Gottes, sagt der brasilianische Theologe Renold Blank in Gott und seine Schöpfung, ist im 21. Jahrhundert die Frage, inwiefern das eigene Gottesbild im Laufe der Geschichte und unter dem Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Umstände bedenklich einseitig geworden ist, und inwiefern selbst theologisch „richtige“ (also irgendwie aus der Bibel und der Tradition herleitbare) Formeln sich auf die konkrete Gottesbeziehung hinderlich auswirken. das Ideologische liegt in der Einseitigkeit, mit der bestimmte Aspekte betont und andere verschwiegen werden.

So wurde Gott über weite Zeitabschnitte primär gesehen: das „ganz Andere“, der nicht Erkennbare und nicht Verstehbare. Die einzig adäquate Haltung des Menschen diesem Gott gegenüber war konsequenterweise jene der Anbetung und des Lobes. Auch diese Haltung findet sich bis heute bei unzähligen Christinnen und Christen. Ja, sie wird erneut aktiviert und gefördert in den vielen neukirchlichen und pfingstlichen Religionsgemeinschaften unserer Zeit. Ihre Konsequenz ist die Problematik der Rückkehr zu einem Gottesbild, das jeder Art von Entfremdung und Abkehr von der Welt Vorschub leistet.

Eine Art Retro-Effekt, könnte man sagen, aber nicht retro und damit eben auch nicht neu genug, findet Blank:

Alle diese Gottesvorstellungen aber sind weit entfernt von jener ungeheuer neuen Perspektive, wie sie beispielsweise in prophetischen Texten sichtbar wird – oder später bei Jesus Christus. Und doch enthalten sie die [die Propheten] authentische Offenbarung darüber, wie Gott denn sei; und diese Offenbarung ist oft weit entfernt vom Gottesbild vieler Frommer.

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (5)

Letzter Teil meiner Serie zu Rodney Starks Analyse des Wachstums der alten Kirche. Anscheinend bezieht sich auch John Ortberg in „Weltbeweger“ darauf, und wer das Thema etwas vertiefen und die missionale Thematik weiter verfolgen möchte, kann gern auch in Evangelium: Gottes langer Marsch durch seine Welt weiterlesen.

Antiochia muss ein für unsere Verhältnisse unerträglich enges, düsteres und stinkendes Gewirr kleiner Gassen gewesen sein. Die nach Rom, Alexandria und Ephesus viertgrößte Stadt des römischen Weltreiches war damit keine Ausnahmeerscheinung. Von den freistehenden luftigen Villen der Historienfilme, in deren Atrium stets ein Brunnen friedlich plätschert, kam im Schnitt eine auf 26 Blocks mehrstöckiger verrußter Mietskasernen, in denen es weder Wasserleitungen noch Kamine (und das bedeutete stete Feuergefahr!) gab. Ganze Familien teilten sich mit ihren Haustieren meist nur ein Zimmer. Nicht selten stürzten Gebäude ein und begruben ihre Bewohner unter sich, weil die oberen Stockwerke mit den billigeren Wohnungen hoffnungslos überfüllt waren und die Statik nachgab.

Die Einwohnerdichte betrug, so schätzt Stark, das Doppelte des heutigen Manhattan. Viele Leute waren aufgrund der hygienischen Verhältnisse und der schlechten Luft chronisch krank, die Säuglings- und Kindersterblichkeit lag bei 50%, und wenn jemand das Erwachsenenalter erreicht hatte, war in der Regel ein Elternteil schon verstorben. Ohne ständigen Zuzug vom Land wären die Städte allesamt geschrumpft. Brände, Erdbeben, Plünderungen, Aufstände und Epidemien – im Schnitt dezimierte während der Antike alle 15 Jahre eine große Katastrophe die Population der Stadt am Orontes. Stark schreibt:

Jede zutreffende Darstellung Antiochias aus neutestamentlicher Zeit muss eine Stadt voller Elend, Gefahren, Angst, Verzweiflung und Hass zeichnen. Eine Stadt, in der die Durchschnittsfamilie ein armseliges Leben in dreckigen und beengten Quartieren führte, wo mindestens die Hälfte aller Kinder bei der Geburt oder im Säuglingsalter starb und die meisten Kinder, die überlebten, mindestens ein Elternteil verloren hatten, bis sie erwachsen waren. (S. 160)

Hier wurde das Christentum als Stadtreligion geboren. Denn weil das Evangelium soziale Schranken aufhob (etwa die tiefe Kluft zwischen Sklaven und Freien), religiöse Aus- und Abgrenzungen sprengte (Juden und Heiden, einschließlich sämtlicher zerstrittener Untergruppen der beiden Lager), weil entwurzelte Menschen dort eine Familie und ein funktionierendes soziales Netz fanden, und sich damit immer seltener aggressiv und kriminell selbst behaupten mussten, weil Streit durch Vergebung und wo nötig auch ein paar ernste Mahnungen der Ältesten beigelegt wurde – aus all diesen Gründen waren die Christen „gute Nachricht“ für das stets vom Kollaps bedrohte Leben der Metropole. Das Christentum war, schreibt Stark, nicht nur eine neue Religion, sondern „eine neue Kultur, die das Leben in den griechisch-römischen Städten erträglicher machen konnte.“ (S.162)

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (4)

Während Christen heute im Blick auf die Rolle und Gleichberechtigung von Frauen eher hinterherhinken, war das in den ersten Jahrhunderten umgekehrt. Rodney Stark nennt auch dazu interessante Details:

Der Status von Frauen in der jüdisch-christlichen Subkultur war beträchtlich höher als der in der griechisch-römischen Welt: In Rom kamen auf 100 Frauen 131 Männer, etwa 140 in Italien, Kleinasien und Afrika, denn ungewollte Mädchen (heute heißt das perinataler Femizid) und missgebildete Knaben wurden vielfach als Säuglinge getötet oder ausgesetzt – in allen sozialen Schichten, keineswegs nur bei sozial Schwachen. Unter den Christen sah diese Relation anders aus, dort gab es mehr Frauen als Männer. Eine Hauskirche in Nordafrika sammelte etwa im Jahr 303 16 Tuniken für Männer und 82 für Frauen.

In der Mehrheitsgesellschaft führte das dazu, dass Frauen als knappes Eigentum behandelt wurden, in den christlichen Gemeinden hatten sie einen ganz anderen Stand. Es gab zahlreiche Konversionen von Frauen, vor allem auch aus den höheren Schichten (z.B. Marcia, die Konkubine des Commodus). Junge Frauen hatten als Christinnen die Wahl, ob sie heiraten wollten oder unverheiratet blieben, Kinderbräute mit alten Ehemännern waren ein sehr viel selteneres Phänomen als in der Mehrheitsgesellschaft. Unter Juden und Christen waren außerdem Säuglingsmord und Abtreibung tabu – das bedeutete: weniger Mütter starben nach hochriskanten Eingriffen, mehr Mädchen blieben am Leben, und so war auch die Fruchtbarkeit christlicher Ehen höher als im Durchschnitt der Gesellschaft.

Während „Keuschheit“ damals allgemein hoch im Kurs stand, verzichteten die Christen auf die in der Antike übliche Doppelmoral, die für Männer alle möglichen Ausnahmen machte. Aber es entstanden neue Fragen: Im Jahr 220 verursachte der römische Bischof Callistus Aufregung, als er einen „gerechten Konkubinat“ ohne formale Eheschließung befürwortete: Frauen, besonders aus höheren Schichten, fanden keine sozial gleichrangigen Männer in der Gemeinde, durch eine Heirat hätten sie aber ihren gesellschaftlichen Status und ihr Vermögen verloren, also sollten sie offiziell unverheiratet zusammenleben.

Paulus (1.Korinther 7) und Petrus (1.Petrus 3) kannten Frauen in Mischehen. Diese waren auch in späteren Zeiten an der Tagesordnung, fast immer waren die Männer Heiden. Die Polemik mancher Bischöfe dagegen (Tertullian sprach von „Sklaven des Teufels“) muss keineswegs bedeuten, dass diese Fälle selten waren. Im Gegenteil: „Sekundärkonversionen“ von Ehemännern waren wohl vergleichsweise häufig. Der Glaube dieser Frauen hatte offenbar etwas sehr Überzeugendes.

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (3)

NotarztKaritativer Einsatz und ein Engagement für das Gemeinwohl von Seiten einer verfolgten Minderheit, das ist ungewöhnlich. Zwei große Seuchenwellen im zweiten und dritten Jahrhundert (vermutlich Pocken und Masern) rafften weite Teile der Bevölkerung des römischen Reiches dahin: ganze Landstriche werden entvölkert und verwahrlosen. Heidnische Philosophen und Priester konnten keine überzeugenden Antworten auf diese Tragödien geben – über deren Versagen hatte, so schreibt Rodney Stark, Jahrhunderte zuvor schon der griechische Historiker Thukydides geklagt.

Seife war noch nicht erfunden, die Existenz von Bakterien und Erregern unbekannt. Während führende Mediziner wie der prominente Arzt Galenus (er hatte ein Landgut in Kleinasien) die Katastrophengebiete fluchtartig verließen, blieben die Christen in den Städten und pflegten die Kranken. In der Vita des Cyprian von Karthago heißt es dazu:

Später brach dann die schreckliche Pest aus, und die verheerende, gräßliche Seuche raffte tagtäglich unzählige Menschen, jeden an seinem Ort, in plötzlichem Anfall hinweg und ergriff der Reihe nach die Häuser der zitternden Menge, eines nach dem anderen. Voll Angst flüchtete alles und suchte der Ansteckung zu entgehen; die eigenen Angehörigen setzte man lieblos aus, gleich als ob man mit dem todgeweihten Pestkranken auch den Tod selbst vertreiben könnte.

Mittlerweile lagen in der ganzen Stadt schon Haufen von Menschen oder vielmehr schon Leichen auf der Straße und forderten das Mitleid der Vorübergehenden heraus durch die Betrachtung des gemeinsamen Loses. Niemand sah auf etwas anderes als auf grausamen Gewinn; niemand ließ sich durch den Gedanken beunruhigen, daß ein ähnliches Geschick ihn treffen könne; niemand handelte an dem Nächsten so, wie er selbst gewünscht hätte, behandelt zu werden…

Nun, es wurde sofort jedem einzelnen je nach den persönlichen Verhältnissen und nach dem Stande seine Dienstleistung zugewiesen. Viele, die wegen ihrer eigenen Armut kein Geld aufwenden konnten, leisteten mehr als Geldopfer, indem sie selbst Hand anlegten und so Dienste leisteten, wertvoller als aller Reichtum. Und wer hätte unter einem so tüchtigen Lehrer sich nicht beeilen sollen, irgendeine Stelle in einem solchen Kriegsdienst zu finden, um darin Gott dem Vater und Christus dem Richter und vorerst dem Priester zu gefallen? So tat man also in verschwenderischem Überfluss gute Werke an allen, nicht nur an den Glaubensgenossen.

Doch schon eine ganz elementare Fürsorge reduziert die Sterblichkeit bei Infektionskrankheiten erheblich. Auch das erklärt, warum Christen und Heiden im Umfeld von Christen spürbar häufiger überlebten. – das wurde von allen Seiten als eindrückliches Wunder empfunden. Christen waren durch die Pflege der Kranken häufiger immun gegen die Erreger geworden, viele Heiden dagegen hatten ihre Familien verloren und neuen Anschluss bei den Christen gefunden.

Stark schätzt, der Anteil der Christen wäre zwischen 160 und 260 von 0,4% auf etwa 12% gewachsen – aufgrund der beschriebenen Reaktion der Gemeinden in diesen Zeiten der Krise betrug er an die 25%. Noch im vierten Jahrhundert ärgerte sich übrigens Kaiser Julian Apostata: „Die gottlosen Galiläer unterstützen nicht nur ihre Armen, sondern nicht minder unsere.“

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (2)

Es geht weiter mit der Frage nach dem Wachstum der alten Kirche: Warum schlossen sich Menschen dieser neuen Glaubensgemeinschaft an? Zum Thema Konversion merkt Rodney Stark gleich vorabin seiner sehr pragmatischen Sicht an: „Konversion zu neuen, abweichenden religiösen Gruppen geschieht, wenn … Menschen zu Mitgliedern dieser Gruppe stärkere Bindungen haben oder entwickeln als zu Nichtmitgliedern.“ (S. 18) Wir kennen das als „you belong before you believe“. Erst im Rückblick, so Stark, begründen Konvertiten ihren Schritt dann theologisch und dogmatisch, also von den Glaubensinhalten her.

Für eine Glaubensgemeinschaft ist daher die entscheidende Frage, ob sie ein offenes Netzwerk bleiben kann, das den Kontakt in andere Beziehungsnetze hält, oder ob sie sich teilweise bzw. völlig abschottet. Auch wenn es das Wort damals noch nicht gab – das ist eine genuin missionale Fragestellung und ein schönes Beispiel, dass etwa Milieuverengung kein unausweichliches Schicksal ist.

Stark stellt in Frage, ob es sich beim jungen Christentum um eine proletarische Bewegung gehandelt haben kann: Gerade Arme und weniger Gebildete verhalten sich nämlich religiös eher konservativ, während in der Mittel- und Oberschicht einer Gesellschaft sich Skepsis gegenüber den Traditionen schneller ausbreitet; die Bereitschaft, sich neuen „Kulten“ anzuschließen, ist dort besonders hoch. Stark geht davon aus, dass Paulus in der urbanen Mittelschicht und oberen Mittelschicht besonders erfolgreich war, selbst deren „Abhängige“ waren wirtschaftlich besser gestellt als die Landbevölkerung und die Sklaven der Grundherren.

Das brachte auch mittelbaren politischen Einfluss mit sich: Polykarp von Smyrna war in Sorge, der (offenbar beträchtliche) Einfluss seiner Glaubensgeschwister in Rom könne ihm sein Martyrium noch vermasseln. Generell waren die Christenverfolgungen in Rom weniger brutal und konsequent als die Niederschlagung von Unruhen in der Unterschicht.

Vor allem ein Netzwerk war entscheidend für die Ausbreitung des Christentums, nämlich das Diasporajudentum. Mit Johannes Weiß (Das Urchristentum, 1914) geht Stark davon aus, dass das junge Christentum während der gesamten ersten vier Jahrhunderte den Kontakt zum Diasporajudentum (ca. 4-5 von insgesamt 60 Millionen Menschen im Imperium Romanum) nicht verlor und dass Diasporajuden vor allem nach Bar Kochba zum Christentum übertraten, weil es ihnen einerseits die Möglichkeit einräumte, wesentliche Traditionen weiter zu pflegen und zugleich eine bessere Integration in die multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft ermöglichte, das Ende des „barbarischen“ Stigma, das vor allem dem militanten palästinischen Judentum anhaftete.

Moderne Analogien dazu wären das Reformjudentum im 19. Jahrhundert, das (ähnlich wie das hellenistische Judentum um Philo) viele ethnisch-kulturelle Schranken aufzuheben bemüht war, oder die Pfingstbewegung im globalen Süden, die es Menschen ermöglicht, Elemente und Erfahrungen traditioneller Kulturen in ein Christentum zu integrieren, das ihnen den Anschluss an die moderne Welt verheißt.

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (1)

Ich habe diese Woche in Berlin ein paar Schlaglichter aus Rodney Starks Buch „The Rise of Christianity“ präsentiert, im Wesentlichen mit der Absicht, dass sie uns als Sehhilfe dienen für unsere Aufgaben heute. Der Länge halber teile ich das auf mehrere Posts auf, hier der erste Teil:

Stark (geb. 1934) ist kein Theologe, sondern Religionssoziologe. Er stammt aus einer lutherischen Familie, hat in Berkeley studiert, wurde dort promoviert und lehrte später Sozialwissenschaften an der Baylor-University. Er ist einer der wichtigsten Vertreter der „Rational Choice“-Theorie religiöser Bekehrung. Vor kurzen hat sein (mit einem gewissen Recht als „revisionistisch“ beschriebenes) Buch über die Kreuzzüge auch in Deutschland Aufsehen erregt.

Im seinem weniger verfänglichen Werk The Rise of Christianity nimmt Stark die Zeit der Alten Kirche unter die Lupe und fragt nach den Ursachen für deren bemerkenswertes Wachstum. Er beginnt mit einer experimentellen Rechnung: Bei einer vorsichtig geschätzten Ausgangszahl von 1.000 Christen im Jahr 40 ergäbe sich mit einer kontinuierlichen Wachstumsrate von 40% pro Jahrzehnt eine Zahl von

  • 7.530 Christen für das Jahr 100 (0,0126% der Gesamtbevölkerung),
  • 217.795 (0,36%) für das Jahr 200,
  • 6.3 Millionen für das Jahr 300 (10,5%) und
  • 33 Millionen (56,5%) für das Jahr 350.

Danach war ein solches Wachstum auch praktisch nicht mehr möglich. Man kenne, so Stark, ähnliche Wachstumsraten von religiösen Gruppierungen im 20. Jahrhundert. Das sind aber, wohlgemerkt, rein hypothetische Zahlen. Eine Art Plausibilitätsrechnung. Andererseits auch ganz befreiend, dass ein eher konstant-gemächliches Tempo im Vordergrund steht, hin und wieder wurden da ja schon ganz andere Kurven von Gemeindewachstum als Ziel ausgegeben.

Stark hält ein konstantes Wachstum für wesentlich plausibler als spontane und wundersame Massenbekehrungen, von denen außerdem keine Berichte existieren. Zudem zeigen diese Projektionen, dass die in ihrer Wirkung heftig diskutierte konstantinische Wende eher eine Folge des exponentiellen Wachstums der Christenheit war als deren Ursache: Der christliche Glaube war im 4. Jahrhundert längst auf dem Weg zum Massenphänomen. Der Kaiser sprang auf den fahrenden Zug auf, er schob ihn nicht an.

Was dieses Wachstum im Einzelnen beförderte, dazu demnächst mehr.

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Evangelisation: Darf’s ein bisschen mehr sein?

Der „Runde Tisch Evangelisation“ in Berlin ging gestern zu Ende mit einer Betrachtung von Erhard Michel zu Jesaja 49,6. Dort heißt es:

Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.

Die Diskussionen vom Vorabend gingen mir noch im Kopf herum, wo das traditionell evangelikale Verständnis von Evangelisation auf den Gedanken der Gesellschaftstransformation (ich würde ja lieber von integraler Mission sprechen) getroffen war, als Erhard im Blick auf das Jesajawort vom „ganzen Schalom Gottes“ sprach und damit den eschatologischen Horizont des Propheten benannte.

Und genau hier liegt für mich der Angelpunkt, auf den die unterschiedlichen Ansätze bezogen werden müssen. Das herkömmliche Verständnis von „Evangelisation“ hat damit zu tun, „Seelen“ für den „Himmel“ zu gewinnen. Der theologische Bogen reicht vom Sündenfall bis zur jenseitigen Heimat, in die der einzelne aufgenommen wird, sofern er zustimmend auf die Predigt des Evangeliums antwortet. Evangelisation ist daher die Erläuterung des Heilsweges und der dringende Appell, ihn zu wählen. Wenn jemand den Weg in den Himmel einschlägt, indem er glaubt, ist das Ziel erreicht. Alles andere wird tendenziell als Hilfsdienst betrachtet, wenn es also „funktioniert“ und sofern die evangelistische Pflicht erfüllt ist (bzw. eben leichter von der Hand geht), kann man sich gern an die Kür machen. Alles soziale oder gar politische Handeln jedoch steht permanent unter dem tiefsitzenden Verdacht, das „Eigentliche“ könne darüber vergessen oder vernachlässigt werden. Dann geht es Menschen vielleicht vorübergehend besser, aber sie verpassen womöglich doch das ewige Ziel, und dann wäre aller Aufwand vergeblich. Johannes Reimer hat das gestern morgen sinngemäß so kommentiert, dass man auf die Rettung einzelner „aus der Welt“ bedacht ist, aber die Welt (bzw. die vielfältigen Lebenswelten, die Heinzpeter Hempelmann zuvor schon klug analysiert hatte) weitgehend sich selbst überlässt. Dieser Rückzug war theologisch vielleicht noch nachvollziehbar in den Wirren der Völkerwanderung (Augustinus) oder unter einem Monarchen, den von Gottes Gnaden regierte (Luther), passt aber nicht mehr in die offene Bürgergesellschaft. Allerdings: Aufgrund dieser Eschatologie, der Vorstellungen vom Ziel und Ende der Welt, ist die enge Definition von Evangelisation ganz logisch. Ein innergeschichtlicher Kampf für Gerechtigkeit ist vielleicht heroisch, aber nicht eigentlich nötig. Es sichert ja niemandem einen rettenden Platz im Himmel, denn der wird nach anderen Kriterien vergeben, und alles Diesseitige verliert demgegenüber an Bedeutung.

Wenn man allerdings wie etwa Jürgen Moltmann, Tom Wright und viele andere eine Eschatologie zugrunde legt, in der wie bei Jesaja das universale Heil für die ganze Schöpfung, die Neuschöpfung aller Dinge, also die zukünftige Verwandlung und Heilung der Welt der Fluchtpunkt göttlichen Wirkens in der Welt ist, dann ist all das Soziale nicht einfach Beiwerk, sondern schon eine konkrete Vorwegnahme dieses erwarteten und erhofften Zustands umfassender Gerechtigkeit, es ist zugleich ein theopolitischer Aufstand gegen all unsere korrupten Formen von Macht, all unsere destruktiven Verstrickungen in Hass (und sei er noch so subtil), Lüge oder Gier. Es ist eine Demonstration des Reiches Gottes, ohne die jede Wortverkündigung entleert wäre und unvollständig bliebe und sich dem Verdacht einer billigen Vertröstung aussetzen würde. Was im traditionellen Paradigma als „Evangelisation“ erscheint, wäre dann der Aufruf und das Angebot, sich dieser Bewegung Gottes in der Welt (die im Übrigen nicht unbedingt nur Christen umfassen muss) anzuschließen. Wer sich gewinnen lässt, für den beginnt damit ein sehr konkretes Ringen um eine tiefe Umgestaltung, eine unablässige Konfrontation mit allen inneren und äußeren Kräften der Zerstörung, eine Hinwendung zu anderen Menschen, ein Mitleiden mit der geschundenen Kreatur und zugleich das dankbare und ausgelassene Feiern all der Vorboten des zweiten Frühlings unserer Welt und Gottes barmherziger Gegenwart mitten in ihr. Wie könnte so jemand schweigen oder sprachlos bleiben, wenn er nach dem Grund seiner Hoffnung gefragt wird?

Insofern handelt es sich für mich auch nicht um zwei Sichtweisen, die gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander stehen oder um theologische Geschmacksfragen. Das „alte“ Paradigma (das eigentlich das jüngere ist) ist eine theologische Verkürzung und praktische Verengung dessen, was uns die Propheten, Jesus und die Apostel an Hoffnung mitgegeben haben und worauf der Geist Gottes mitten in der Geschichte dieser Welt hinwirkt. Während der messianisch-missionale Ansatz (neue Kombination von Attributen, aber ich finde sie ganz apart) alle wesentlichen Elemente das bisherigen in sein Koordinatensystem aufnehmen kann, ist das umgekehrt kaum zu schaffen. Unglücklicherweise befinden sich viele Vertreter des traditionellen Evangelisationsparadigmas historisch bedingt in einer Frontstellung gegen die Aufklärung, die Reich Gottes und zivilisatorischen Fortschritt durch pädagogische Vernunft und guten Willen in eins setzte bzw. den Fortschritt und die reine Immanenz vorzog. Das führt häufig zu verzerrten Wahrnehmungen und falschen Alternativen – als ob jemand, der Gott auch immanent am Werk sieht, deswegen gleich auch allen Bezug zur Transzendenz aufgegeben hätte. In dieser Frontstellung hat man zu Recht Kritik an der rationalistisch-pragmatischen Ausrichtung des Modernismus geübt, de facto aber auch dessen dualistisches Denken und die Reduktion des Glaubens auf das Jenseitige, Private, Innerliche und Apolitische stillschweigend übernommen.

Aber das ist eben einfach zu wenig: Wir müssen das wieder integrieren, was frühere Generationen abgespalten haben, statt es weiter misszuverstehen und zu bekämpfen. Das muss man gut und umsichtig tun, aber eben auch ohne sich einschüchtern zu lassen, wenn einem mal eben wieder Verrat am Evangelium oder (und das wäre in den Augen derer, die es sagen, dasselbe) ein Flirt mit Positionen des Weltkirchenrates unterstellt wird. Nun ist die Lausanner Bewegung im Grunde ja auf einem solchen Weg: 1974 stellte man das soziale Handeln ergänzend und eher lose neben die Evangelisation, in Kapstadt 2010 war dieses Nebeneinander und das Ringen um eine theologische Integration der verschiedenen Flügel wieder deutlich spürbar und das von Chris Wright geprägte Abschlussdokument sagt es unter anderem so:

The Church exists to worship and glorify God for all eternity and to participate in the transforming mission of God within history. Our mission is wholly derived from God’s mission, addresses the whole of God’s creation, and is grounded at its centre in the redeeming victory of the cross. This is the people to whom we belong, whose faith we confess and whose mission we share.

Der Ansatz ist also da. Was machen wir nun daraus? Andrew Perriman hat die Aufgabe jüngst so formuliert, und ich lasse das als Schlusswort im Raum stehen:

It seems to me that the church in the West today needs to recover something of that eschatological urgency and ambition. A sound biblical theology should do more than provide structure, shape and stability. It should generate the narrative by which we make sense of our place in the scheme of things—not somewhere vaguely between creation and new creation but here in the twenty-first century, as we struggle to justify our existence in the face of an all-powerful, all-meaningful, all-consuming secular materialism.

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