Die gute Nachricht: Das Deutschlandticket bleibt erhalten, aber – und das ist die schlechte Nachricht – es wird teurer. Das hat große Wellen geschlagen. Ich habe selber eins seit einigen Monaten, und nutze es immer wieder für längere oder kürzere Fahrten.
Dabei habe ich Ecken von Deutschland gesehen, in die ich nicht gekommen wäre, wenn ich extra einen Fahrschein hätte lösen müssen. Ich habe auch viel über die Menschen in Deutschland gelernt: In den Regionalzügen fährt das bunte Deutschland. Und oft auch das nicht so wohlhabende Deutschland. Ich höre in den Öffis jedesmal, wirklich jedesmal, ganz unterschiedliche Sprachen.
Was mich ganz besonders berührt, das sind die Gespräche zwischen Menschen verschiedener Herkunft, die sich auf Deutsch verständigen. Manchmal etwas mühsam, manchmal auf einem ganz beachtlichen Niveau. Und dann fühle ich mich ein bisschen beschämt und ein zugleich beschenkt, weil da jemand, dessen Sprache ich nicht verstehe, sich so viel Mühe gegeben und meine Sprache gelernt hat.
Manche Unterhaltungen kann man ja nicht überhören, auch wenn man gern würde. Ich sitze im Zug und habe keine Kopfhörer dabei. Hinter mir erzählt einer etwas seinem Gegenüber, und jeder zweite oder dritte Satz lautet: Weißt du, was ich meine?
Seltsamerweise wartet er die Antwort seines Gesprächspartners gar nicht ab, sondern redet sofort weiter. Um prompt wieder: Weißt du, was ich meine? Aber er wartet gar nicht, ob es der andere weiß.
Ich weiß nicht, ob Ihr gerade wisst, was ich meine. Dazu müsstet Ihr mir sagen, was ihr verstanden habt. Und ich müsste dann bestätigen, dass ich das gemeint hatte. Oder nochmal von vorn anfangen und es anders erklären. Dann hätten wir eine Chance, uns zu verständigen.
Aber dieses Zuhören kostet Zeit und macht Mühe. Und oft reicht ja auch eine grobe Ahnung davon, was gemeint sein könnte. Doch es tut gut, wenn ich Menschen treffe, die das mit dem Zuhören und Nachfragen drauf haben.
Ich weiß übrigens auch nicht, was ihr gerade denkt. Hinterlasst gern einen Kommentar…
Ich bin zum ersten Mal im Guggenheim in Bilbao. Touristen schieben sich dicht gedrängt durch die Flure und Ausstellungsräume. Manche fotografieren eifrig – es gibt ja auch wirklich viel zu sehen. Ich mache auch hier und da ein Bild, dann vertiefe ich mich wieder in den Anblick und die Erklärungen.
Nach einer Weile fallen mir immer mehr Leute auf, die Selfies vor den Kunstwerken machen. Allein, zu zweit, zu dritt… Sie marschieren durch die Säle immer auf der Suche nach einem geeigneten Hintergrund. Das hat ein bisschen was von sich vordrängeln – schaut her, hier bin ich…
Ob Kunst oder Natur – ich finde gerade das Umgekehrte reizvoll: Mich mal verlieren im Anblick von etwas Schönem und Großartigen. Zu merken, Gottes weite und bunte Welt dreht sich nicht um mich, und das ist wunderbar entlastend: Ich darf klein sein, einen Schritt zurück treten und mich über diesen wunderbaren Ort freuen. Der ist, was er ist, ganz ohne mich.
Ein umstrittenes Unternehmen aus China wirbt mit dem Slogan „Shoppen wie ein Milliardär“. Natürlich schenken sie mir nicht einen Cent. Stattdessen drücken sie den Verdienst bei den Lieferanten und tricksen bei Zoll und Steuern, um ihre Ware zum Spottpreis anbieten zu können. So entsteht die Illusion, dass Geringverdiener und Normalos wenigstens hier ihren Euro nicht dreimal umdrehen müssen, sondern einen Augenblick reuelos im Überfluss schwelgen können.
Mit ihren Spott-Preisen verspotten sie freilich uns alle: Uns Käufer, weil viele Produkte mangelhaft oder gesundheitsschädlich sind. Die Hersteller, die kaum von ihrem Verdienst leben können. Die Mitbewerber, die Steuern und faire Löhne zahlen wollen. Milliardäre – das werden nur die Chefs und die Investoren.
Echten Überfluss gäbe es durchaus bei uns nebenan: In der herbstlichen Natur, unter Menschen mit einem weiten Herzen für andere und überall sonst, wo Gottes schöpferische Liebe Werbung macht für ein reiches Leben.
Erinnern Sie sich noch an die Eröffnung der Olympiade in Paris? Ich weiß noch genau, wie ich mittendrin die Übertragung einschalte und mir schon nach ein paar Minuten schwindlig wird von all den Szenen, die am Bildschirm vorbeiziehen. Gut erinnern kann ich mich an eine singende blaue, nicht so furchtbar appetitliche Gestalt, die auf einem Teller liegt, der sich wiederum auf einer Art Laufsteg befindet, an dem ein schrilles Publikum sitzt. Mir schießt durch den Kopf: Da hat sich die queere Community von Paris versammelt, um den sittenstrengen Despoten in Moskau oder Teheran eine lange Nase zu drehen! Aber das ist auch gleich wieder vergessen, weil es sofort weitergeht mit Akrobatik, Tanz, Kostümen und rätselhaften Symbolen.
Gott und seine streitbaren Verteidiger
Am nächsten Tag falle ich aus allen Wolken. Da schreibt ein frommer Freund auf Facebook, die Urheber des olympischen Spektakels hätten das christliche Abendmahl verspottet, sie hätten Jesus mit Dionysos, dem griechischen Gott der Fruchtbarkeit und Gelage, vertauscht, und die heiligen Apostel mit Transvestiten. Zwei Bildschnipsel dienen als Beweis. Der eine zeigt das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci – der lange Tisch, alle mit dem Gesicht zum Betrachter, und Jesus genau in der Mitte. Das andere ist einen Bildausschnitt aus der Eröffnung. Man kann, wenn man will, eine grobe Ähnlichkeit behaupten.
Die Kulturszene zieht das, was uns heilig ist, in den Schmutz, kommentiert mein Freund sinngemäß. Und fügt ein bisschen säuerlich hinzu: Sie haben uns ja noch nie gemocht und die widerspenstige Welt hat nie aufgehört, Gott abzulehnen.
Huiuiui – was ist denn da los?
„Hast Du das gelesen?“ sage ich und zeige den Post meiner Frau. „Wir haben das doch zusammen angeschaut. Hättest du das so aufgefasst wie unser Freund?“ „Nein, sagt sie. Komisch – ich weiß auch nicht, was er hat.“
Wenige Stunden später läuft das halbe Internet Amok wegen der vermeintlichen Gotteslästerung. Katholische Bischöfe, fromme Influencer und die Krawallpresse reden und schreiben sich in Rage. Alle trampeln auf uns Christen herum, klagen die einen. Bei den Muslimen hätten sie sich das nicht getraut, tönen andere verschnupft, aber mit uns kann man’s ja machen. Viele, denen es gerade zu bunt wird, haben die Szene aus Paris gar nicht selbst gesehen. Sie kennen nur den einen Bildschnipsel, der dem Da-Vinci-Abendmahl ähneln soll. So verbreiten sie ein bereits fertiges negatives Urteil ungeprüft weiter.
Die angegriffenen Künstler erklären glaubhaft, dass sie keineswegs gegen die Kirchen stänkern wollten. Und selbst wenn, sagen andere – eine Anspielung auf ein religiöses Kunstwerk wäre doch noch lange keine Gotteslästerung. Da Vincis Bild kursiert längst in hunderten von Abwandlungen aller Art. Kein Grund, sich aufzuregen.
„Wer mich beleidigt, entscheide immer noch ich.“ Das hat mein Freund Michael mal gesagt. Das ist wunderbar selbstbewusst – und ich frage mich: Warum nur entscheiden sich einige Christen dafür, beleidigt zu sein? Warum interpretierten sie Szenen, die man auch ganz anders deuten könnte, so bereitwillig als Angriff auf Gott und ihr Christsein?
Was tun mit all den Unterschieden?
Was ist eigentlich christliche Identität? Woran macht sie sich fest und wie verhält sie sich zu all den anderen Identitäten, in die Menschen hineingeboren werden oder die sie sich aussuchen – kulturellen, geschlechtlichen und sozialen? Selten wird das so klar beschrieben wie in diesen Worten des Paulus an die Christen in Galatien:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.
Galater 3,25-28
Nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen. Wie meint Paulus das? Tun wir jetzt einfach alle so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen Menschen mehr? Alle gleich? So einfach?
Mir fällt die Geschichte von einem Schulbusfahrer in den Südstaaten der USA ein. Als vor vielen Jahren die Rassentrennung dort endlich aufgehoben wurde und alle ihren Sitzplatz unabhängig von der Hautfarbe wählen durften, sagt sein Chef zu ihm: „Ab heute sind die Kinder für dich nicht mehr schwarz oder weiß, sondern alle sind grün.“ Am nächsten Morgen kommen die Kinder wie immer und hören an der Bushaltestelle: „Die Hellgrünen steigen vorne ein, die Dunkelgrünen hinten.“
Es ist nicht so einfach. Rassismus sitzt eben tief und verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Außerdem hat die Anweisung des Chefs ein paar Denkfehler: Sie lenkt den Blick immer noch auf Farben. Das Grün ist nur eine gedachte Gemeinsamkeit, keine sichtbare, keine echte. Und so sieht der Busfahrer durch seine grüne Brille eben doch wieder die alten Gegensätze. Dabei haben die Schulkinder so viel gemeinsam: Sie sind klein und verletzlich, sie sitzen selten still, sie sind neugierig, und sie wollen alle in die Schule fahren. Die Hautfarbe ist ein ganz und gar unwesentlicher Unterschied. Es fragt ja auch niemand beim Einsteigen, welches Kind gut singen kann oder ob es Koriander im Essen mag.
Zurück zu Paulus. Der weiß das auch: Gott liebt alle Menschen – die traditionsbewussten Juden seiner Zeit und die neugierig-erfinderischen Griechen, die sozial Privilegierten und die Prekären, die mit dem X-Chromosom und die mit dem Y. Und die Reihe ließe sich jetzt noch lange fortsetzen, weil Paulus nur mal drei bekannte Unterschiede herausgreift, an denen sich Menschen immer wieder abarbeiten. Bei Mann oder Frau können wir heute mit homo oder hetero, cis oder trans weitermachen. Statt Juden und Griechen Israelis und Palästinenser sagen oder Ukrainer und Russen, ja sogar Franken und Altbayern oder Einheimische und Zugereiste.
Jeder Mensch, unabhängig von Kultur, Status und Geschlecht, ist ein lebendiges Ebenbild Gottes und repräsentiert Gott in dieser Welt. Alle, die glauben, sind Abrahams und Saras Nachkommen – biologische Kinder (also Jüdinnen und Juden) und adoptierte (wir anderen). Dieses Ziel, diese Bestimmung ist die entscheidende Gemeinsamkeit. Paulus überpinselt nicht alle Unterschiede in einheitlichem Grün. Christen sind nicht etwas Drittes, kein Grün neben Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, keine eigene Kultur zwischen allen anderen. Es gibt sie in allen Farben und Sprachen, sehr verschieden, und doch ist da etwas, das sie fest zusammenhält und zugleich Platz schafft für diese erstaunliche Unterschiedlichkeit:
ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.
Der Jude Paulus folgt Jesus, dem Messias nach. Und begegnet dabei Griechen – Nichtjuden – die statt Messias „Christus“ sagen und ihm auch nachfolgen. Er erkennt in ihnen Schwestern und Brüder. Nun aber kann er auf Griechen nicht mehr pauschal herabschauen – als wäre das eine minderwertige Kultur oder eine problematische Herkunft. Wenn ich als christlicher Mann christliche Frauen als gleichwertig und gleichrangig anerkenne, dann gilt das selbstverständlich auch für alle anderen Frauen, weil Gott sie ja ebenso liebt; auch wenn sie es vielleicht noch nicht gemerkt und sich bewusst darauf eingelassen haben.
Uniformieren oder umkrempeln?
„Ihr alle habt Christus angezogen“.
Damit meint Paulus die Taufe. Christus anziehen – ich stelle mir das bildlich vor wie das Trikot einer Fußballmannschaft oder wie die Schuluniformen, die soziale Unterschiede überdecken sollen. Überdecken, aber eben nicht überwinden: An den Schuhen, der Uhr, der Schultasche oder dem Fahrrad können doch wieder alle ablesen, welches Kind aus einer reichen Familie kommt und welches nicht.
Hat der Glaube wie eine Schuluniform nur die Kraft, die Trennungen in Privilegierte und Benachteiligte äußerlich zu überdecken? Und ist der Preis dafür eine Uniformierung, die alles Individuelle unterdrückt? Oder geht es tatsächlich darum, diese Ungleichheit gründlich zu überwinden und aus den Köpfen und Herzen herauszubekommen?
Unterschiede relativieren – das kann ein Schritt dahin sein, sie abzuschaffen.
„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…“
In den ersten christlichen Gemeinden kamen tatsächlich Sklaven und Freie zusammen. Paulus bezeichnet sich selbst hin und wieder als „Sklave Christi“ und weiß, dass der Tod am Kreuz nicht nur Aufrührern (oder dem, was die Römer dafür halten) droht, sondern auch entlaufenen Sklaven. Daher fordert er einen geschwisterlichen Umgang. Klar weiß Paulus auch: Außerhalb der christlichen Bubble kauft und benutzt der wohlhabende Freie weiterhin mittellose Sklavinnen und Sklaven.
Ich möchte von einem Sklaven erzählen, bei dem sich etwas verändert. 400 Jahre nach Paulus wird er an Englands Westküste von irischen Piraten gekidnappt und mitgenommen übers Meer. Er heißt Patricius und ist noch nicht einmal richtig erwachsen. Seine Besitzer zwingen ihn, die Schafe für sie zu hüten. Essen gibt es wenig, Kälte und Einsamkeit setzen ihm mächtig zu. Sechs Jahre lang geht das so. Er redet immer öfter mit Gott. Und irgendwann beginnt Gott, zu antworten. Eines Tages sagt er zu Padraig (so heißt er auf Irisch): Geh ans Meer, da liegt ein Schiff, das bringt dich nach Hause.
Weglaufen ist für einen Sklaven lebensgefährlich, aber Patrick (so schreiben wir seinen Namen heute) riskiert es trotzdem. Und Gott hält Wort: Auf wundersamen Wegen gelangt er zurück nach Hause. Doch die Geschichte endet dort nicht. Im Traum erscheinen ihm immer wieder Iren und bitten ihn, zurückzukommen und ihnen von Gott zu erzählen. Patrick verabschiedet sich von seiner entsetzten Familie und wird zum Apostel Irlands. Mit seinen Begleitern zieht er durchs Land und findet Zuspruch – bei Königen und dem einfachen Volk gleichermaßen.
Der Brite Patrick wurde aus seiner Kultur einmal gewaltsam herausgerissen und dann noch einmal friedlich und freiwillig herausgerufen. Und so wie der Jude Paulus den Griechen ein Grieche sein konnte, wird Patrick den Iren ein Ire. Die Sprache kennt er ja schon. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die heidnische grüne Insel ein mehrheitlich christliches Land, und zwar auf friedlichem Weg. Der Kampf gegen den Sklavenhandel bleibt ein Lebensthema für Patrick. Und tatsächlich: Die Iren stellen diese Praxis kurz nach seinem Tod ein. Damit sind sie ihren europäischen Nachbarn um Jahrhunderte voraus.
Der Riss in Gott
Ich glaube, Patrick versteht sehr gut, was Paulus meint, wenn er schreibt:
„Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen“
Er kann nachempfinden, wie das war, in die Fremde zu gehen: Wie Gott den Abraham aus seiner Heimat Ur im Zweistromland wegschickt, ohne das Ziel der Reise zu verraten. Wie Abraham zusammen mit Sara diesem Ruf folgt und sich löst aus seiner Kultur und von seiner Verwandtschaft. Es ist kein Bruch, aber eine spürbare Distanz zu den feststehenden Identitäten, die sein Leben bisher ausgemacht haben. Wie Abraham loszieht mit nichts als dem Wort eines Gottes, der selbst keine bekannte Adresse hat: Keinen Tempel, zu dem man pilgern könnte, keine Priester, die den Kontakt zu ihm vermitteln, kein Bild oder Symbol, das ihn versinnbildlicht. Alles ist ausgerichtet auf die versprochene Zukunft: Er wird viele Nachkommen haben und der Segen wird sich über die ganze Welt verbreiten. Aber noch ist Abraham, der Prototyp aller Pilger, nicht am Ziel.
Der Theologe Miroslav Volf stammt aus Kroatien und hat den Horror des Balkankriege und der „ethnischen Säuberungen“ miterlebt. Und wie schwer es war, sich dem Hass auf die anderen zu entziehen. Er hebt auch deshalb die Bedeutung dieser Distanz der Glaubenden zur eigenen Herkunft hervor. Menschen wie Abraham oder Patrick sind für ihn
»… eine Persönlichkeit, die durch Andersartiges bereichert wird; eine Persönlichkeit, die nur deswegen ist, was sie ist, weil sich in ihr viele andere in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Die Distanz zu meiner eigenen Kultur, die daraus resultiert, dass ich aus dem Geist geboren bin, schafft in mir einen Riss, durch den andere hereinkommen können. Der Geist entriegelt die Tür meines Herzens, wenn er sagt: “Du bist nicht nur du; andere gehören auch zu dir.”«
Ich bin aus dem Geist geboren, sagt Volf. Ein neuer Anfang ist gemacht, eine neue Kraft ist am Werk, und das wirkt sich auf alle meine Beziehungen aus. Da kommen der Glaube und die Taufe noch einmal in den Blick. Die Taufe, in der sich Gott mit mir identifiziert und ich mit ihm. Denn auch Gott ist so eine „Persönlichkeit“ mit einem Riss, aus dem sein Leben und seine Liebe hervorströmt.
So richtig sichtbar wird dieser Riss in Jesus, der mit weit offenen Armen am Kreuz hängt. Der diesen irren Schmerz auf sich nimmt, um selbst den Feinden noch zu zeigen: Auch wenn ihr mich ausschließt, ich halte euch die Tür zu Gott offen. Ihr gehört zu mir und durch mich könnt auch ihr Gottes Töchter und Söhne werden.
Es bleibt eine Lebensaufgabe, in diese Identität hineinzuwachsen, die sich anderen nicht verschließt. Diese kleine Geschichte hat mich sehr berührt. Sie zeigt, wie hartnäckig und wie überflüssig Vorurteile sein können:
Parker Palmer ist über 80 und lebt in den USA. Kürzlich war er in einer fremden Stadt unterwegs und stellt sein Auto in einem Parkhaus ab. Als er bei Sturm und Wolkenbruch zurückkommt, kann er den Wagen nicht mehr finden. Ein „Engel“ (so sagt er es) in Gestalt einer schwarzen Angestellten, der er seinen Parkschein vorzeigt, stellt fest, dass er im falschen Parkhaus ist. „Ich habe gleich Feierabend und bringe Sie zu ihrem Auto – ich weiß, wo es steht“, sagt die Frau. Die beiden machen sich zu Fuß auf den Weg. Unterwegs bemerkt sie, dass ihrem betagten Gegenüber im rauen Wetter die Puste ausgeht. Sie setzt ihn in eine Kneipe und lässt sich Schlüssel und Parkschein geben. Parker Palmer wartet. Und wartet. Der Wirt fragt, ob er gerade tatsächlich seinen Schlüssel und Parkschein hergegeben hat, und geht dann kopfschüttelnd über so viel Naivität zurück hinter seinen Tresen. Eine gefühlte Ewigkeit später fährt sein Auto vor. Parker Palmer eilt hinaus in den strömenden Regen und bedankt sich überschwänglich. Die Frau sieht ihn an und sagt: „Wissen Sie, was mir am meisten bedeutet hat? Dass Sie mir vertraut haben.“ Wäre der Regen nicht gewesen, sagt er, man hätte seine Tränen sehen können.
Es muss Schluss sein
In diesem Monat wird der Bundesrat 75 Jahre alt. Beim Festakt in Berlin hat der frühere Innenminister Gerhart Baum über die Bedeutung der Menschenwürde im Grundgesetz gesprochen.
Gegen Ende seiner Rede kommt der wichtigste Satz: „Es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation“.
Es muss Schluss sein. Paulus hätte Baum zugestimmt, und Abraham und Patrick auch: Wir gehören nie ganz einer bestimmten Kultur an, Wir sind alle „Hybride“. Fremdes ist nicht einfach eine Störung oder Gefahr für die eigene Identität. Ganz ehrlich, manchmal bin ich mir selbst ja fremd. Wenn ich mich dann ängstlich oder beleidigt einigele in meinem Weißsein, meinem Deutschsein oder Mannsein, wird es ziemlich dunkel und einsam. Und egal, wie fromm ich es kaschiere – Gott selbst hätte ich dann mit ausgeschlossen. Wenn bei ihm Platz ist für jemand wie mich, dann ist auch Platz für alle möglichen anderen. Ich bin nicht nur ich.
Es gibt Dinge, die schiebe ich gern vor mir her. Sie sind einfach nicht so dringend. „Ich mach’ das schon irgendwann, wenn grad mal mehr Zeit ist,“ denke ich mir dann. „Aber nicht jetzt, ich hab schon genug Stress.“
Manchmal komme ich mit dem Aufschieben durch. Aber dann gibt es auch die Momente, wo es lichterloh zu brennen beginnt, weil zum Beispiel der Reisepass abgelaufen und es zum Urlaub nur noch eine Woche hin ist. Dann wird es anstrengend und teuer, und manchmal ist es auch einfach zu spät.
Letzte Woche haben wir entdeckt, dass nicht nur Einzelpersonen so denken und agieren, sondern auch Gremien: Ämter, Stadträte, Regierungen. An vielen Orten wurde der Hochwasserschutz vernachlässigt. Es kommt ja nur alle hundert Jahre ein großes. Und selbst dann ist fraglich, wo genau. Wird schon gutgehen.
Aber immer öfter geht es eben nicht gut. Und dann sind ja nicht nur die betroffen, die das Problem aussitzen wollten, sondern auch die vielen anderen, die sich auf sie verlassen haben. Ein faules „wird schon gutgehen“ ist da einfach zu wenig. Wenn die Sache nämlich dringend wird, ist es schon zu spät.
Was wäre die Weihnachtszeit ohne Märchenköniginnen und Märchenkönige. Im familientauglichen Fernsehprogramm vertreiben sie uns die Zeit, wenn es draußen nasskalt ist und viel zu früh dunkel wird. Man kennt die Geschichten schon auswendig, und trotzdem – oder genau deshalb? – schauen wir sie immer wieder an. Ein liebgewonnenes Ritual – ganz besonders, wenn alle zusammen auf dem Sofa sitzen.
Eine neue Variante dieses Festtagsbrauchs hat mich neulich amüsiert. Sie funktioniert so: Die Familie (oder der Freundeskreis) schaut alle drei Sissi-Filme hintereinander an. Jedesmal, wenn das Wort „Majestät“ fällt, erheben sich alle und rufen „lang lebe die Kaiserin“. Und stoßen miteinander an.
Früher war mehr Märchen
Während Sissi, Artus, oder Kleopatra eher um Weihnachten herum Konjunktur haben, ist hier in Bayern das ganze Jahr Märchensaison. Der Märchenkönig überhaupt, Ludwig II. von Bayern, Sissis Cousin, hat sich mit seinen Prachtbauten unauslöschlich in die bayerische Landschaft eingezeichnet. Millionen von Urlaubern bewundern seine Schlösser jedes Jahr.
Ludwig II. hatte ja ein kompliziertes Verhältnis zur Wirklichkeit. In einer Zeit, in der die Monarchie ihre besten Tage längst hinter sich hatte, überließ er das Tagesgeschäft seinem Personal und strickte an seiner eigenen Legende. Bis ihm das Geld ausging. Denn nicht einmal Könige verfügen über grenzenlosen Reichtum.
Das mit dem Mythos funktionierte dennoch glänzend: Bis heute ist kein bayerischer Regent, mag er noch so sehnsüchtig davon träumen und noch so viel Geld in den heimischen Sand setzen, auch nur annähernd so bekannt wie Ludwig. „Ein ewiges Rätsel bleiben will ich mir und anderen,“ hat er von sich gesagt. Das ist ihm gelungen wie kaum einem anderen. Sein Tod im Starnberger See unter mysteriösen Umständen hat diesen Mythos endgültig besiegelt.
Heute ist Epiphanias, im Volksmund auch „Dreikönigstag“. Mich erinnert das daran: Königssehnsucht und Königsfrust gibt es nach wie vor. Es gibt sie schon seit biblischen Zeiten. Auch die Bibel erzählt nämlich von einem Märchenkönig – dem König Salomo. Vielleicht lässt sich daraus etwas lernen. Vielleicht entdecke ich hier sogar einen Königsweg?
König Salomo war legendär für die Weisheit, mit der er einen verfahrenen Streit schlichtete, für Reichtum und Luxus, für Weltgewandtheit und – wer hätte das gedacht? – für seine großartigen Bauwerke. Allen voran der Tempel in Jerusalem, Tür an Tür mit dem Königspalast: Thron und Altar, Gott und Regent wie in einer großen Wohngemeinschaft.
Pomp and Circumstance
Hätte es das Goldene Blatt schon vor dreitausend Jahren gegeben, er wäre Dauergast auf der Titelseite gewesen. Aber auch die Schreiber am Königshof von Jerusalem sind großartige Geschichtenerzähler. Um ihren Monarchen ins rechte Licht zu rücken, lassen sie die Königin von Saba auftreten. Denn wer kann einen wahren Märchenkönig besser von einem Möchtegern unterscheiden als eine waschechte Märchenkönigin?
Salomos Ruhm machte den Namen des Herrn bekannt. Die Königin von Saba hörte davon und kam, um Salomo mit Rätseln zu prüfen. Sie kam mit einem gewaltigen Gefolge nach Jerusalem: Kamele trugen Balsam, Gold und Edelstein in unvorstellbar großen Mengen. So kam sie zu Salomo und redete mit ihm über alles, was sie sich vorgenommen hatte. Und Salomo beantwortete alle ihre Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war. Auf alles fand er eine Antwort. So erkannte die Königin von Saba seine ganze Weisheit. Auch der Palast, den Salomo gebaut hatte, beeindruckte die Königin von Saba. Dazu kamen noch die Speisen an seiner Tafel, die Rangordnung seiner Beamten, das vornehme Auftreten seiner Diener und ihre Kleidung, seine Trinkgefäße und seine Opfergaben, die er im Haus des Herrn darbrachte. Das alles sah sie, und es verschlug ihr den Atem. Da sagte sie zum König: »Es ist wirklich alles wahr, was ich in meinem Land über dich gehört habe. Man spricht von deinen Taten und deiner Weisheit. Ich wollte es nicht glauben, bis ich hierher kam und es mit eigenen Augen sah: Nicht einmal die Hälfte hatte man mir berichtet! Deine Weisheit und dein Wohlstand übertreffen alles, was ich von dir gehört habe.
Die Märchenkönigin zieht in Jerusalem ein mit einer Karawane kostbarster Geschenke. Und sie ist hingerissen von ihrem geistreichen Gesprächspartner, den ihre sorgfältig ersonnenen Rätselfragen nie in Verlegenheit bringen. Salomos Berater werden ihn gut gebrieft haben. Palast und Tempel genügen augenscheinlich allerhöchsten Standards. Und das Personal in dem Land, das zwei Generationen zuvor weder eine Hauptstadt noch einen Königshof hatte, ist makellos gekleidet und zeigt beste Manieren. Salomo besteht die Prüfung mit Bravour: Fünf Sterne für seinen Auftritt, und wenn es zehn gäbe, bekäme er die auch. Er spielt von jetzt an in der Liga der ganz Großen. Und er lässt sich auch bei den Geschenken nicht lumpen: Die Königin von Saba kehrt beladen mit allem, was ihr Herz begehrt, in ihre Heimat zurück. Und mit ihr zieht Salomos Ruhm hinaus in die weite Welt. Pomp and Circumstance, so weit das Auge reicht – eine Supernova am Königshimmel des alten Orients. Und die Erzähler beeilen sich zu erwähnen, dass natürlich auch Gottes Ansehen richtig Auftrieb bekommt durch den Erfolg seines royalen Senkrechtstarters.
Vielsagendes Schweigen
Über eine Sache bin ich beim Lesen der Geschichte gestolpert: Gott, der sich in der Bibel gern selbst zu Wort meldet, bleibt in der Geschichte vom Besuch der Königin eigenartig stumm. Aber warum? Verweist Gottes Schweigen auf das, was bisher nicht erzählt wurde? Auf den Preis, den Salomos Untertanen – denn das sind sie jetzt: Untertanen, keine Landsleute – für seinen Luxus bezahlen?
Auch davon berichtet die Bibel nämlich: Dass Salomo seine Leute schwer mit Frondiensten belastet. Wochenlang sind die erwachsenen Männer auf seinen Landgütern und Baustellen am Schuften und fehlen schmerzlich zuhause, wo sie eine Familie zu ernähren haben. Das Ganze fliegt erst nach Salomos Tod so richtig auf, und prompt wählen zehn von zwölf Stämmen einen neuen Anführer. Salomo ist, als er stirbt, zwar nicht bankrott wie König Ludwig, aber sein Königtum ist moralisch und politisch am Ende.
Die Königin von Saba interessiert sich für diese Schattenseiten nicht. Ihr reicht die fesche Fassade, sie ist wie der Stargast im Luxusresort, der sich nicht darum schert, ob dem Hauspersonal der Mindestlohn bezahlt wird oder welche Umweltstandards hier eingehalten werden. „Wenn die Leute kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“ – der böse Ausspruch wurde verschiedenen europäischen Prinzessinnen nachgesagt, aber die Überheblichkeit, die aus ihm spricht, könnte auch schon viel älter sein. Rückblickend wird klar: Salomos Reichtum beruht auf knallharter und gar nicht märchenhafter Ausbeutung der eigenen Leute. Und er trägt schon den Keim des Zerfalls in sich.
Panik im Palast
Und was hat das Ganze nun mit Weihnachten und dem Kommen Gottes zu tun? Nun, fast tausend Jahre nach Salomo schickt sich wieder einer an, in Salomos Fußstapfen zu treten. Er baut Gott einen neuen, noch viel prächtigeren Tempel in Jerusalem, seine Burgen und Paläste ziehen heute noch ähnlich viele Menschen an wie Bayerns Märchenschlösser. Der Kaiser in Rom schätzt ihn als treuen und spendablen Gefolgsmann. Zugleich ist der Mann, der als „Herodes der Große“ in die Geschichtsbücher eingeht, mehr als nur ein bisschen paranoid. Wer auch nur den Anschein erweckt, an seinem Stuhl zu sägen, den räumt er unbarmherzig aus dem Weg. Da das auch für enge Verwandte gilt, soll Augustus über ihn gesagt haben: „Es ist besser, das Schwein des Herodes als sein Sohn zu sein.“ Weil er seine Entmachtung so sehr fürchtet, macht Herodes zu Lebzeiten kein richtiges Testament. Er lässt alles im Unklaren, und deshalb zerfällt auch sein Reich, als er stirbt.
Maria, die Mutter Jesu, hat all das schon vor Augen, als sie hört, dass sie ein Kind bekommen soll. „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron“, singt sie in ihrem berühmt gewordenen Magnificat.
Noch aber lebt Herodes, und er bekommt überraschend Besuch. Kultivierte Menschen aus einem fernen Land im Orient, und wie die Königin von Saba haben sie Gold und “Spezereien“ – genauer: Weihrauch und Myrrhe – als fürstliche Geschenke im Gepäck. Sie werden bei Hofe empfangen, aber anders als sein Vorgänger Salomo kann Herodes die Frage nicht beantworten, die ihm gestellt wird. Man muss fairerweise dazu sagen, dass es keine der üblichen Rätselfragen war. Sie erwischt ihn eiskalt:
Sie fragten: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten.« Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm alle in Jerusalem.
Panik im Palast, anders kann man es nicht sagen. Herodes setzt sein Pokerface auf und murmelt etwas wie „Ich lass das mal überprüfen und gebe Ihnen Bescheid“. Als die Sterndeuter die Audienz verlassen, holt er alle verfügbaren Berater zusammen. Die Antwort der Schriftgelehrten ist eindeutig: Jemand, der Anspruch auf den Thron Davids erheben könnte, kommt sehr wahrscheinlich aus Bethlehem. Da leben noch Nachkommen und Verwandte. So steht es geschrieben bei den Propheten.
Für Herodes, der zeitlebens damit zu kämpfen hatte, dass er für einen König der Juden keinen standesgemäßen Stammbaum vorweisen konnte, besteht nun Alarmstufe rot. Aber ausländische Zeugen eines politischen Attentats wären schlecht für den angekratzten Ruf. Für den Augenblick bleibt nur List und Lüge. Der Wolf frisst Kreide. Er zeigt sich betont erfreut und kooperativ:
Später rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich. Er erkundigte sich bei ihnen genau nach der Zeit, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: »Geht und sucht überall nach dem Kind! Wenn ihr es findet, gebt mir Bescheid! Dann will auch ich kommen und es anbeten.«
Und so ziehen die Sterndeuter los. Nirgendwo steht in der Bibel übrigens, dass es drei sind. Es können zwei oder zwölf oder zwanzig gewesen sein. Unmissverständlich schreibt der Evangelist Matthäus freilich auch: Sie sind keine Könige, sondern Gelehrte. In einer Zeit, in der Politiker sich gern über Forscherinnen hinwegsetzen, wenn ihnen die Fragen und Ergebnisse nicht in den Kram passen, ist das auch eine Erwähnung wert: Manchmal schickt Gott Wissenschaftler – Leute, die genau hinschauen und sagen, was wirklich ist, und die dafür Strapazen auf sich nehmen und weite Wege zurücklegen.
Bethlehem – wo sonst?
Bis Bethlehem sind es nur noch ein paar Kilometer. Als sie ankommen, steht der Stern schon über einem der Häuser. Ich bin gestern Abend mal rausgegangen und habe versucht zu sehen, welcher Stern über welchem Haus steht. Es wird Sie nicht überraschen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass ich gescheitert bin. Und als ich es zwei Stunden später noch einmal versuchen wollte, standen die Sterne schon wieder wo anders.
Aber ich bin ja auch kein Sterndeuter aus dem alten Persien. Die führt der Stern sicher ans Ziel. Gut, vielleicht hat auch der Rat der schriftkundigen Kollegen aus Jerusalem geholfen; und natürlich war es damals in Bethlehem viel leichter, jemanden zu finden, als in unseren Großstädten heute. Sie kommen an, und jetzt müssen wir schon wieder unsere folkloristisch übermalten Bilder von Weihnachten korrigieren: Es gibt hier keinen Stall, keinen Engeleinchor und keine Tiere; die Weisen stehen vor einem richtigen Haus. Das bescheidene Ambiente mag unerwartet gewesen sein, aber jetzt zögern sie keine Sekunde:
Als sie den Stern sahen, waren sie außer sich vor Freude. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Sie warfen sich vor ihm nieder und beteten es an. Dann holten sie ihre Schätze hervor und gaben ihm Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Und dann kommt der Moment, in dem Gott spricht. Keine donnernde Stimme vom Himmel, sondern ganz leise durch einen Traum. Da sind die üblichen Filter meines Alltagsbewusstseins ausgeschaltet. Ahnungen, Wünsche und Sehnsüchte werden im Traum zum Leben erweckt. Und ich habe die Freiheit, mir am Morgen die Augen zu reiben und den Kopf zu schütteln und alles wieder zu vergessen. Aber die weisen Frauen und Männer in der Bibel haben ein Gespür dafür, wenn Gott ihnen einen Traum schickt. Wie das wohl war: Haben alle Sterndeuter dasselbe geträumt? Oder hat einer die anderen überzeugt? Jedenfalls verabschieden sie sich leise aus Bethlehem und machen auf ihrem Rückweg einen weiten Bogen um Jerusalem. Der Königsweg führt nicht wieder zu Herodes.
Jetzt wird auch klar, warum es Bethlehem sein musste: In Jerusalem scheitert das Königtum gerade zum wiederholten Mal – an seinem Größenwahn, an seinem Hang zur Gewalt, an seiner Paranoia. In Bethlehem, so erzählt es die Bibel, hat Gott schon einmal einen Jungen, dem niemand etwas zutraute, zum Antikönig gemacht: Nämlich David, von dem – Ironie der Geschichte! – Salomo sein großes Reich geerbt hatte Und jetzt wird hier in Bethlehem das Ende der Mörder- und Märchenkönige besiegelt. Pomp und Überheblichkeit müssen draußen bleiben.
„Er kam nicht, um uns einzuschüchtern, zu verurteilen oder von oben herab zu behandeln. Nicht um uns seine Knechte zu nennen, sondern um uns als Freunde an seiner Seite zu haben. Ein für allemal, als Gott Mensch wurde“.
So heißt es im Christmas Song von Don Francisco…
Diese, die ursprüngliche Weihnachtsgeschichte schärft meinen Blick für das, was Märchenköniginnen und -könige gern ausblenden und verschleiern: Ungleiche und ungerechte Machtverhältnisse, von denen die Welt erlöst werden muss, wenn sie nicht mit ihren Despoten untergehen soll. Der neugeborene Messias wird später alle Hoheitstitel zurückweisen, außer dem einen, der ihn mit uns allen verbindet: „Menschensohn“.
Ich staune zugleich, wie stark die Königssehnsucht trotzdem noch ist. Schon nach wenigen Jahrhunderten wurden aus den biblischen Weisen die „Heiligen Drei Könige“. Als nächstes nahm man dem Heiligen Nikolaus den Sack mit Süßigkeiten und Spielsachen für die Kinder weg und drückte ihn dem Christkind in die Hand. Und noch etwas später kamen immer mehr dekorative Elemente dazu wie Schnee, Rentiere mit roten Nasen, Tannenbäume und goldene Lichtlein.
Bei Kindern ist das ja sehr charmant und liebenswert, wenn sie sämtliche Lieblingsfiguren um die Krippe herum aufstellen, bis man Mutter und Kind kaum noch sieht im Gedränge. Wären da halt nicht jene verbissenen Erwachsenen, die jedem, der etwas von dem üppigen Beiwerk weglässt, einen „Krieg gegen Weihnachten“ andichten. Dieses Jahr traf es eine Kita in Hamburg – die nicht etwa Weihnachten abschaffte, sondern lediglich auf den Baum verzichtete. Ohne Skrupel treten diese Platzhirsche in Medien und Politik eine Lawine von Hassbotschaften und Drohungen über die arglosen Eltern und Erzieher:innen los – alles im Namen der Märchenweihnacht. Was würden die Weisen, was würde Maria dazu sagen, dass unser „Weihnachten“ Kulturgrenzen nicht mehr durchlässig macht, sondern oft noch vermint?
Im Evangelium von den Weisen blitzt nämlich eine andere Welt auf. Eine Welt, die wir mehr denn je brauchen: In der junge Mütter voller Hoffnung in die Zukunft ihrer Kinder schauen, in der Soldaten ins Leere laufen, in der die Rechte der Wehrlosen gewahrt und in der die Fragen von Fremden und die kritischen Stimmen ein offenes Ohr finden.
Und in der Gott zu seinen Leuten redet und sie auf überraschende Wege schickt. Königswege. Ohne allen Pomp, auf den ersten Blick gänzlich unscheinbar, aber voll großer Freude mitten in der herben Wirklichkeit. Auch heute noch zum Niederknien schön.
„Gemüse vom Grill? Und ich dachte, wir sind Freunde!“ So steht es auf einem Plakat, das nicht etwa für eine Metzgerei, sondern für Zigaretten wirbt. Und ich wundere mich: Liebe Raucher, wo ist denn Eure Lässigkeit geblieben? Früher wart Ihr mal entspannt (oder habt so getan); und jetzt geht’s anscheinend immer und überall gleich um die Wurst?
Was ist bloß mit uns passiert, wenn Freundschaften nur noch fleischbasiert funktionieren oder – das wäre der Umkehrschluss, den mir das Plakat unterjubeln möchte – auf der Grundlage gemeinsam genossenen Gemüses? Das antiquierte „Bratkartoffelverhältnis“ wäre auf dem Weg zu ganz neuer Relevanz!
Wie viele Gemeinsamkeiten braucht eine Freundschaft? Wie viele Unterschiede halte ich selber aus, bis ich jemanden „entfreunde“, ihr oder ihm aus dem Weg gehe, mich nicht mehr melde? Können wir Differenzen nicht mehr so gut aushalten wie früher oder wollen wir uns die Mühe einfach nicht mehr machen? Freundschaft unter Vorbehalt braucht kein Mensch.
„Liebe Deinen Nächsten“, so lautet die Zumutung Gottes an mich. Nächste, nicht Gleichgesinnte: Diese eine Person, mit der ich es hier und jetzt zu tun habe. Auch wenn uns kulturelle und kulinarische Welten trennen. Dabei auf die Liebe zu setzen – freundlich, zuvorkommend, großzügig und verletzlich zu bleiben – birgt eine Gewinnchance: Sie könnte erwidert werden.
Und dann wäre es ganz egal, dass heute Gemüse auf den Tisch kommt, an dem ich geliebter Gast bin.
Im Radio höre ich ein Interview mit dem Fußballer Toni Kroos. Das Gespräch kommt irgendwann auf die vielen Tätowierungen an seinem Körper. Kroos erklärt, dass er sich für jedes seiner Kinder ein Tattoo stechen ließ. Für das nächste sei auch schon ein Platz vorgesehen.
Ich bin jetzt nicht so der Tattoo-Typ, aber die Geschichte geht mir aus einem anderen Grund nach: Manchmal fühlen sich Menschen von Gott vergessen, wenn sie schwere Zeiten durchmachen. In eine solche Situation hinein spricht Gott in der Bibel einmal folgenden Satz:
Kann Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.
Jesaja 49,15
Anders gesagt: Auch Gott trägt Tattoos mit den Namen/Gesichtern der Seinen. Er kann das nicht einfach abstreifen oder ausradieren. Wir stellen uns Gott ja eher körperlos vor, aber in der Bibel ist immer wieder von seinen Händen, seinem Arm oder seinem Gesicht die Rede. Ein Gott also, der zupackt. Der hinschaut. Und der nicht schweigt.
Was für eine gewagte Vorstellung: Wie eine Mutter nicht aufhört, ihre Kinder mit sich herumzutragen, bloß weil die inzwischen selber laufen können oder ausgezogen sind, so trägt Gott uns mit sich herum – eintätowiert in seine Schöpferhände.
Feierabend. Ich radle flott durch die Innenstadt nach Hause. Ein weißer BMW parkt mitten auf dem Radweg und zwingt mich zu einer Vollbremsung. Ich weiche lieber nicht auf die Fahrbahn aus, sondern zwänge mich vorsichtig auf dem Fußweg vorbei. Der Fahrer sitzt im Wagen, das Fenster ist offen. Ich spreche ihn an und bitte ihn freundlich, sich einen anderen Parkplatz zu suchen.
Statt sich zu entschuldigen, wird der Mann am Steuer wütend. „Das ist doch nicht normal!“ schreit er mir von seinem Sportsitz entgegen, und dass er ja sowieso nur kurz… Ich habe keine Lust, mit ihm zu streiten. Offenbar ist es für ihn normal, Radwege als Parkstreifen zu nutzen. Für andere ist es normal, den Hund sein Häufchen in den Park setzen zu lassen, Zigarettenkippen am Bahnhof ins Gleisbett zu schnippen oder sexistische Sprüche zu klopfen.
Unsere Normalität kann ziemlich problematisch sein. Deshalb ändern sich manchmal die Regeln. Privilegien fallen weg. „Normal“ ist plötzlich nicht mehr normal.
Was gilt noch, wenn sich alles ändert? Die „goldene Regel“ aus der Bibel hilft mir: Gehe mit anderen so um, wie du es dir selber auch wünschst. Wenn ich mich in andere, vor allem Schwächere, hineinversetze – Fußgänger, Kinder, Fremde, alte Menschen – dann werde ich Rücksichtslosigkeit auch da nicht „normal“ finden, wo die Gesellschaft noch ein Auge zudrückt.
Meine Frau ist mit dem Fahrrad unterwegs zu einer Freundin. Auf halber Strecke sieht sie, dass sich am Himmel rabenschwarze Wolken auftürmen. „Oh, da braut sich ein Unwetter zusammen, und ich fahre genau darauf zu“, denkt sie. Weil sie keine Regensachen dabei hat, dreht sie vorsichtshalber um und sagt der Freundin für heute ab.
Zuhause angekommen stellt sie fest, dass sie die ganze Zeit ihre Sonnenbrille auf hatte, und nimmt sie ab. Ohne dunkle Gläser sehen die finsteren Wolken plötzlich ganz harmlos aus. Aber es ist inzwischen zu spät, um noch einmal loszuziehen. Wir lachen gemeinsam über ihren gescheiterten Ausflug.
Manchmal begegnen mir Menschen, die in harmlosen Situationen schon schwarz sehen. Ich frage mich dann, was es wohl braucht, damit sie ihre mentale Gewitterbrille abnehmen. Sie müssen sie ja nicht gleich gegen eine rosafarbene eintauschen. Den größten Gewinn hätten sie dabei selber: Weniger Sorgen, keine unnötigen Rückzieher. Mehr Zeit mit Freunden, mehr gute Momente auf Gottes Erde.
Ein Weg dahin, die getrübte innere Optik zu korrigieren, ist die Dankbarkeit. Sonntags lasse ich die Lichtblicke der letzten Woche Revue passieren: War war gut? Was ist mir (oder uns!) gelungen? Was habe ich neu gelernt? Worüber habe ich mich gefreut?
So eine Dankbarkeitsbrille ist übrigens völlig ungefährlich, sagt meine Frau…
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