Soundtrack zum nächsten Bahnstreik

Nun ist der Bahnstreik (erst einmal?) wieder vorbei. Für alle, die sich schon drauf eingestellt hatten (und erst mühsam wieder umschalten im Kopf) oder noch am Zweifeln sind, ob es auch wirklich der letzte war, hier schon mal ein möglicher Soundtrack für die nächste Runde:

Slow Train Coming – Bob Dylan fährt im Regionalzug weiter

Homeward Bound – Simon und Garfunkel studieren den Notfahrplan

Downtown Train – Rod Stewart wartet vergeblich auf seine Mitreisende

Railway Hotel – Mike Batt hat den Anschlusszug verpasst

High Speed Train – REM fahren in einem ICE, der nicht in Wolfsburg hält

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Don’t Answer Me – Alan Parsons in der Warteschleife der Bahn-Hotline

If I Could Turn Back Time – Cher wäre lieber mit dem Auto gefahren

Don’t Leave Home – Dido sagt die Reise gleich ganz ab

On the Evening Train – Johnny Cash ist streikmüde

Nine Million Bicycles – wo hatte Katie Melua nochmal ihr Fahrrad abgestellt?

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Wer verändert die Welt?

Es war das Frühjahr 1978. Ich lag mit einer Grippe im Bett und hatte alles Lesbare in meinem Zimmer verschlungen. Gähnende Langeweile machte sich breit. Irgendwann war sie dann so unerträglich, dass ich dieses Buch zu lesen begann, das meine Mutter auf meinem Nachtkästchen deponiert hatte. Wenn man Dreizehn ist, sind Bücher, die die eigenen Eltern gut finden, per definitionem langweilig. In diesem Fall beschrieb ein amerikanischer Prediger, wie Gott – ein erstaunlich unmittelbar redender, mir bis dahin unvorstellbarer Gott – ihn nach New York schickte, um dort Drogenabhängigen aus ihrem Elend zu helfen. Ich war fasziniert.

Meine Frage damals war, wie man die Welt verändern kann. Dass es dringend nötig war, die Welt zu verändern, war für mich keine Frage. An allen Ecken und Enden konnte man als denkender Mensch Krisen am Horizont erkennen: Hunger, Überbevölkerung, Ölkrisen, Umweltzerstörung oder ein möglicher Atomkrieg, das waren nur die wichtigsten Sorgen. Wissenschaftler und Politiker mussten nach Lösungen suchen. Aber würde es ihnen gelingen, die Welt zu retten? Mitten in diese Zweifel hinein traf nun also die Erkenntnis, dass Christentum mehr sein konnte als Traditionspflege und ein etwas höherer moralischer Anspruch; dass Menschen und Verhältnisse sich ändern könnten. Denn wenn das bei Drogenabhängigen wirkt (für einen 13-Jährigen so ziemlich das Schlimmste, was man sich ausmalen konnte – die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ hatten gerade mächtig für Schlagzeilen gesorgt, ohne Lösungen anzubieten), dann ist auf einmal vieles denkbar. Ich machte mich auf die Suche und landete bei katholischen Charismatikern.

Was mir erst einmal gar nicht so auffiel, war die Tatsache, dass dort viel weniger vom Verändern der Welt die Rede war, ebenso wie beim evangelischen Pendant, dagegen viel mehr vom Verändern der Kirche. Erst die Kirche, dann kommt die Welt schon von selbst, schien die Devise zu sein. Wie alle Erneuerer waren sie vom eigenen Anliegen begeistert und überzeugt; die Schattenseite davon war, dass man dazu neigte, alle anderen als defizitär einzustufen. In dem Maß, wo der (teils unverdiente, teils auch verdiente) Widerstand zunahm, verhärteten sich die Fronten dann oft. Das Muster ließ sich damals in schöner Regelmäßigkeit landauf, landab beobachten, anhängig von den Protagonisten verliefen die Lagerbildungen mal friedlicher, mal heftiger.

Unglücklicherweise schien die größte Inkompatibilität, die unerbittlichste Konkurrenz und das heftigste Misstrauen gegenüber den Aktivisten zu bestehen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzten. Der eigentlich doch eher anarchische charismatische Impuls begann, sich mit konservativen bis reaktionären Bildern von Kirche und Gesellschaft zu verbinden.

Heute sehe ich das sehr deutlich, als Teenager war ich dazu gar nicht in der Lage. Ein paar Jahre lang dominierten fromme Erweckungsphantasien, die bevorzugt aus „überkonfessionellen“ Bewegungen importiert wurden, die geistliche Tagesordnung. Richard Rohr hat mir vor ein paar Jahren erzählt, wie er sich in dieser Phase aus dem charismatischen Spektrum löste, weil er solche Engführungen und Dualismen ablehnte. Auf der Haben-Seite standen jedoch authentische Gotteserfahrungen. Vielleicht lag es daran, dass ich die Schattenseiten erst später richtig bemerkte.

Heute sehe ich Vieles in einem anderen Kontext als damals. Konkret wurde ich an meine eigenen Erfahrungen erinnert, als ich in Walter Winks Autobiographie „Just Jesus“ las, wie er 1954 als junger Student in einer ausgewachsenen Glaubens- und Sinnkrise bei Pfingstlern in Salem/Oregon die „Geisttaufe“ erlebte. In einem Gottesdienst spürte er während des Singens ein Kribbeln am ganzen Körper, als stünde er unter Strom: „Ich wusste, dass etwas Reales, etwas, das stärker war als Dynamit, mit mir spielte.“ Als die Pastoren mitbekamen, dass da gerade etwas mit dem jungen Walter geschah, beteten sie nach dem Gottesdienst weiter mit ihm:

Die drei Pfarrer standen um mich herum, während ich mich hinkniete, priesen Gott und sprachen in Zungen, und machten das herrlichste Getöse, das ich je gehört hatte. Plötzlich schwanden meine Ängste, Stolz, Zweifel, und all meine Vorbehalte. Da waren nur noch Gott und ich, und der Lobpreis war wie eine Barriere, die alles andere draußen hielt. Nun nahm die Kraft zu, die durch mein Blut, meine Nerven pulsierte. Meine Füße brannten, die Hände ebenso. Plötzlich berührte eine Hitze meine Beine. Sie breitete sich aus. […] Ich erinnere mich an die herrliche Befreiung, als ich im Knien meine Hände zu Gott ausstreckte.

Wink beschreibt, wie er aufstand, umfiel und aufgefangen wurde, lachte, sang und sich in dem allen vollkommen geborgen wusste. In den folgenden Monaten musste er diese umwälzende Erfahrung in sein Leben integrieren. Auf der einen Seite fühlte er sich ganz und heil wie nie zuvor. Auf der anderen Seite fühlte er sich gespalten – Verstand und Erfahrung, Geist und Kreatürlichkeit schienen nicht zusammen zu passen. Im Blick auf die fundamentalistische Theologie, die ihm dort begegnet war, kam er zu dem Schluss, dass Gott ihm die Vernunft, die er ihm anvertraut hatte, neu zurückgab — mit der Aufforderung, doch kräftig Gebrauch davon zu machen. Etwa dadurch, dass er den Dualismus von Geist und Materie, der damals die Theologie bestimmte, nachdrücklich in Frage stellte und sich auf den Weg zu einer integralen Spiritualität machte. Mit gravierenden Folgen für die Frage, ob das Gebet etwas in dieser Welt ausrichten kann.

Hier schließt sich für mich der Kreis. Ich habe das Gefühl, dass ich über die letzten vielleicht zehn Jahre Ähnliches erlebt habe wie das, was Wink beschreibt. Ich habe nie aufgehört zu fragen, wie man die Welt verändert. Das Evangelium spielt für mich dabei eine wichtige Rolle, nicht der Glaube an einen Fortschritt, der alles von selbst löst. Ich glaube zudem schon lange nicht mehr, dass sie heil wird, indem wir sie verkirchlichen. Vor allem, wenn damit eine Frömmigkeit einhergeht, die sich ängstlich, überheblich oder feindselig abgrenzen muss, und die mit den reaktionären Kräften (Tea-Party/PI-News…) in unserer Gesellschaft gemeinsame Sache macht. Ich glaube, dass der Sinn charismatischer Erfahrung das exakte Gegenteil dieser Dinge ist: Sie macht frei von Angst, schüttelt Ordnungen und Hierarchien durcheinander, sie hebt soziale Schranken auf. So ähnlich sieht das auch Gilles Kepel. Er erkennt revolutionäres Potenzial sogar bei klassisch pfingstlich-evangelikalen Erweckungspredigern:

Dadurch, dass die Erweckungsprediger den einzelnen in unmittelbaren Kontakt mit dem Jenseits bringen wollen, ermöglichen sie es ihm, sich ohen Rücksicht auf Macht-, Wissens- und Besitzungleichheiten über sein gesellschaftliches Umfeld oder seine berufliche Lage einfach hinwegzusetzen. Jeder kann gerettet werden – ob arm oder reich, ob schwarz oder weiß, ob Landwirt oder Geschäftsmann. Der Geist weht, wo er will – oder doch wenigstens dort, wo der Prediger ihn hinlenkt. Ethnische oder familiäre Abstammung haben keine Bedeutung mehr. (S. 168) … Wunderheilungen, die man gemeinhin als ein Zeichen für die Scharlatanerie des Arztes und die geistige Zurückgebliebenheit des Patienten betrachtet, implizieren eine vergleichbare, ja radikalere Infragestellung der gesellschaftliche Hierarchie des Wissens und der Kompetenzen. (169)

Kepel unterscheidet in seinem 1991 erschienenen Buch übrigens Evangelikale, denen es um die „Resozialisierung“ einzelner durch eine neue Beziehung zu Gott und die Einbindung in christliche Gemeinschaft ging, die aber eher apolitisch blieben, von Fundamentalisten wie Jerry Falwell, deren politische Kampagnen und Mobilisierungen am rechten Rand des politischen Spektrums gegen den „säkularen Humanismus“ stattfanden. Die Tea-Party ist eine aktuelle Auswirkung dieser Richtung, beziehungsweise eine Folge davon, dass der Fundamentalismus seit den Achtzigern stark. Die Fixierung weiter Teile der konservativen Christenheit, nicht nur in den USA, auf die Themen Abtreibung, Homosexualität, Pornographie, den schon erwähnten „Humanismus“ und „Zerstörung der Familie“ hat hier ihren Ursprung. Die Fundamentalisten bekamen regen Zulauf aus dem Lager der Evangelikalen, das hat Scot McKnight vor ein paar Jahren erst erneut beklagt.

Mit dem Ansatz der Resozialisierung von unten (frei nach Franckes „Weltveränderung durch Menschenveränderung“) kam ich eine Weile ganz gut zurecht. Mit den fundamentalistischen Einflüssen – dem strikten Verbot von Bibelkritik und erst recht der reaktionären politischen Agenda – kam ich dagegen nie klar. Da hielt ich mich lieber an Ron Sider und Tony Campolo. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre fragte ich mich: Wo sollten neue Impulse herkommen? Die einen machten kräftig Anleihen in der Psychologie und übersetzten deren Erkenntnisse oder Theorien in christlichen Jargon, die anderen orientierten sich am Managament und entwickelten ein marktkonformes Christentum. Beides oft erstaunlich unkritisch. Das war der institutionellen und traditionellen Kirchlichkeit zwar in mancher Hinsicht überlegen, doch es hatte auch seine Schattenseiten. Der Neoliberalismus kam ihm nämlich zu jedem Knopfloch heraus. Um Kepel noch einmal zu zitieren:

… anders als in Ländern katholischer Tradition, in denen die Kirche über eine starke institutionelle Position verfügt, tummeln sich auf dem amerikanischen Markt zahllose kleine, unabhängige Unternehmer, die getreu den Gesetzen des Kapitalismus in scharfer Konkurrenz zueinander stehen. […] Nirgendwo im zeitgenössischen Katholizismus, Islam und Judentum findet sich jene Wahlverwandtschaft zwischen einer religiösen Bewegung und dem – mitunter bis zum äußersten getriebenen – Geist des Kapitalismus. (196)

Auch hier hatte ich Dinge gefunden, die ich sympathisch und ansprechend fand, ich lernte ernsthafte und engagierte Leute kennen – und spürte nach einer Weile trotz allem eine Kluft, die ich nicht recht überbrücken konnte, weil sie nicht so sehr mit Äußerlichkeiten zu tun hatte, es ging vielmehr um das Wesen des Evangeliums.  Es dauerte eine Weile, bis ich das für mich so klar formulieren konnte. Aber was ist das Evangelium und inwiefern geht eine verändernde Kraft von ihm aus? Das war die Frage, die sich rund um das 40. Lebensjahr stellte und neu beantwortet werden musste. Dieser Blog enthält die Spuren dieses Fragens. In aller Dekonstruktion, die das auch auslöste, war es eher ein zähes Ringen als ein plötzlicher Bruch. Die Antworten mussten nicht nur vom Verstand her stimmig sein, so viel war klar. Dass darin meine Lebensfrage aus der achten Klasse wieder mit neuem Nachdruck auftauchte, fiel mir zunächst gar nicht so auf.

Im Verlauf dieser Zeit habe ich immer wieder Menschen kennengelernt, die ähnliche Fragen stellen und benachbarte Wege gehen – seltene und sehr kostbare Momente waren das. Trotzdem waren sie zahlreich genug, um Kurs zu halten und nicht den Mut zu verlieren, wenn Gewohntes nicht mehr greift oder wenn ich merke, wie groß die innere Distanz zu manchem geworden ist, was in früheren Zeiten noch Heimatgefühle bewirkt hat. Wink erzählt in seiner Biografie, dass er später als Professor in New York einem geistlichen Begleiter von seiner Gottesbegegnung bei den Pfingstlern in Oregon berichtete. Damals glaubte er, die Erfahrung sei verschüttet und verloren. Sein Gegenüber antwortete:

Glaube bedeutet, die Erfahrung zu leben, wenn man sie nicht sehen kann. Deine Erfahrung hat Dir ein unerschütterliches Gespür für das Leben gegeben. Hat Gott seine Meinung geändert? Denkst du, Gott hat keine Verwendung mehr für dich? Glaubst du nicht, dass Gott möchte, dass du heil wirst? Du kennst die Wahrheit. Du kannst nicht mehr zur Unwissenheit zurückkehren.

Wink lernte damals, zu seiner Erfahrung zu stehen, ohne bei ihr stehen zu bleiben. Auch damit hat er dazu beigetragen, meine Welt – und die vieler anderer – kräftig zu verändern.

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Schließlich

„Ich gehe jetzt zur Tür hinaus
und komme wieder rein,“ sagte sie
„und dann fangen wir nochmal an,
als wäre nichts  gewesen.“

Das Leben ist eine lange Reihe von Türen
du drückst die Klinke und gehst durch
sie fallen von selbst ins Schloss
noch bevor du dich im Raum gründlich umgesehen hast.

Ein Zurück ist nicht vorgesehen.
Du kannst weiter gehen.
Jemand kann dir öffnen:
Neue Türen, andere Räume.

Es befiehlt sich kategorisch, sagen sie,
stets so zu handeln,
dass man die Optionen vermehrt.
Maximiere die Möglichkeiten!

Wenn ich aber nur eine Wahl habe
und nicht hinter die nächste Tür blicke,
was nützen die vielen Optionen
– ich grüble nur länger.

Wie anschlussfähig ist das Schicksal?
Unsichtbar zieht es die Tür zu,
schließt aus, was eben noch möglich war,
mich selbst eingeschlossen.

Es war ja meine Wahl.
Erschöpft sinke ich zu Boden
Lehne mich an das unverrückbar Vergangene
Die Rest-Zukunft im prüfenden Blick.

Es ging schon mal einer
frei durch Türen und Wände
auch durch die letzte.
Ich staune ent:schlossen.

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Frauwillige Selbstkontrolle, oder: mit St. Patrick dem Zwang zur Perfektion trotzen

Ich kam letzte Woche nicht mehr dazu, auf dieses Interview des SZ-Magazins mit der britischen (schottischen!) Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie hinzuweisen. Sie spricht davon, dass Frauen in der neoliberalen Gesellschaft anders unter Druck stehen als in traditionellen Umgebungen, und dass diese neuen Anforderungen und Erwartungen ebenso verinnerlicht werden wie frühere Klischees und Rollenbilder, und wie das alles unter einer Schicht Ironie halbherzig relativiert wird, im Grunde aber doch ungebrochen gilt. Den folgenden Satz fand ich sehr erhellend (und so schrecklich weit sind Männer von diesen Dingen auch nicht entfernt, wie mir scheint), weil sie zeigt, wie verdeckt und zugleich  hier Macht und Ansprüche wirken

Im Gegensatz zu Männern müssen Frauen darüber hinaus noch sich selbst und allen anderen ständig beweisen, wie perfekt sie sind. Sie haben es verinnerlicht, sich den ganzen Tag zu fragen: Bin ich schön genug, dünn genug? Ihre Selbstkontrolle ist strenger als jede Kontrolle von außen. Damit sind sie die perfekten Mitglieder einer neoliberalen Gesellschaft.

[…] Einer der Wege, wie Macht heutzutage wirkt, wie sie die Menschen durchdringt und kontrolliert, ist die Selbstbeurteilung: Frauen beobachten und beurteilen sich ständig selbst – aber auch die Frauen um sie herum. Sie stehen in Konkurrenz. Diese Kontrolle stärkt gleichzeitig das Stereotyp, dass Frauen eben nicht solidarisch untereinander sind, sondern boshaft und zickig. Ich glaube, nur durch eine gemeinsame Politik, durch ein gemeinsames Wir-Gefühl, kann diese Selbstbeurteilungskultur durchbrochen werden.

Und so funktioniert diese freiwillige Selbstkontrolle unter den Leistungsbereiten und Aufstiegswilligen, während all jene mit Missbilligung und Argwohn betrachtet werden, die sie verweigern – die „gefallenen Frauen“ von heute sind die, die nichts (oder nicht genug) aus sich machen:

Die neoliberale Gesellschaft bestraft Frauen, denen das Management ihres Lebens nicht gelingt: die alleinerziehende Mutter; die Frau, die Kinder von verschiedenen Männern hat; die Frau, die nicht arbeitet und auf Kosten anderer lebt. Und natürlich die Frau, die nicht auf sich achtet oder nicht das Beste aus sich macht.

Bei Männern würde man von Losertypen reden, allerdings müssen die sich schon viele Unvollkommenheiten leisten, um in dieser Schublade zu landen. Sieben Wochen ohne Runtermachen, so heißt die aktuelle Fastenaktion passenderweise, sind bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch da liegt erst einmal die Verantwortung bei jeder und jedem einzelnen. Das „Wir-Gefühl“ und die „gemeinsame Politik“ zur Überwindung der Selbstbeurteilungskultur kommt nicht von selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, Christen versuchen sich durch noch rigorosere Selbstbeurteilungen abzuheben anstatt das zu tun, was die Lehre von der Rechtfertigung uns eigentlich anbietet: dankbar und fröhlich auf alle Perfektion zu pfeifen.

Weil heute St. Patrick’s Day ist, schließe ich mit einem Zitat aus seinem Bekenntnis. Der Mann war sich seiner offensichtlichen Defizite schmerzhaft bewusst, aber er ließ sich von ihnen nicht abhalten, Großes zu vollbringen. Seine irisch-rustikale Art hat tausendfach Nachahmer gefunden. Wer ein grünes Getränk zur Hand hat, darf dem Heiligen heute dankbar zuprosten.

Ich war noch jung, ja fast noch ein unmündiges Kind, als ich in Gefangenschaft geriet, und noch wusste ich nicht, was ich suchen und was ich meiden sollte. Dafür schäme ich mich bis heute und ich habe größte Hemmungen, meinen Mangel an Bildung offenzulegen, denn ich vermag mich nicht sprachgewandt in der geforderten Kürze auszudrücken, so wie ich es vom Verstand und vom Herzen her gerne würde, und so, dass der Sinn meiner Worte dem entspräche, was ich sagen möchte.

Aber selbst wenn mir gegeben wäre, wie es anderen gegeben ist, ich könnte nicht schweigen, weil ich Dank sagen will. Mag ich manchen auch angesichts meiner Unwissenheit und lahmen Zunge überheblich erscheinen, so steht es doch geschrieben, dass die Zungen der Stammelnden schnell lernen werden, von Frieden zu sprechen. Um so mehr müssen wir es versuchen, als dass wir, wie es heißt, ein Brief von Christus sind, um das Heil bis an die Enden der Welt zu tragen. Und wenn dieser Brief auch nicht wohlfeil verfasst worden ist, so ist er doch aufrichtig und mit fester Überzeugung in eure Herzen eingeschrieben, nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes. Und der Geist selbst bezeugt es ja auch, dass die Schlichtheit des Ackers vom Allerhöchsten geschaffen worden ist.

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Galaktisch gesegnet

Vor gut neun Jahren war ich für eine Predigt auf der Suche nach einem griffigen Synonym zu dem Satz: „Das Reich Gottes ist nahe“. Wie haben sich die jüdischen Zeitgenossen Jesu das praktisch vorgestellt, wenn Gottes Reich anbricht? Damals fiel mir folgende Analogie ein (vgl. Jesaja 35):

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Jahre später stelle ich anlässlich des Todes von Spock-Darsteller Leonard Nimoy also nun fest, dass in der Tat ein enger inhaltlicher Zusammenhang besteht: Der vermeintlich vulkanische Gruß (die meisten traditionellen Grußformeln sind ja Segensworte) zeigt den hebräischen Buchstaben „Schin“, mit dem so gewichtige Worte wie Schaddai, Schalom und Schechinah beginnen. Nimoy hat die Segensgeste mit der gespreizten Hand als Kind im Synagogengottesdienst kennengelernt, wie er in dem folgenden Video verrät, das Michael Blume diese Woche postete:

Nun, da ich den Hintergrund kenne, werde ich das Beispiel sicher wieder öfter verwenden. Und dabei immer an diesen besonderen Menschen denken, der (verständlicherweise) so lange brauchte, mit seinen deutschen Fans und deren Land Frieden zu schließen. Es ist ihm aber doch gelungen, und der Segen wird ihn überdauern. 

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Ein rauflustiger Jesus

Wir haben uns bei ELIA für die Passionszeit vorgenommen (und schon etwas eher damit begonnen), einigen Streitereien nachzugehen, in die Jesus im Laufe seines Wirkens verwickelt wurde. Es sind erstaunlich viele, man könnte fast ein ganzes Jahr darüber predigen; aber so viel Streit hält ja keine Gemeinde aus.

In meinem Bekanntenkreis kursieren zwei unterschiedliche Klischees über Jesus. Das eine könnte man als „Empathie um fast jeden Preis“ bezeichnen, weil es einseitig den Versöhner herausstellt, was im Grunde sehr sympathisch ist, hin und wieder aber dazu führen kann, dass man selbst etwas konfliktscheu wird und sich lieber einmal zu oft selbst in Frage stellt, als anderen direkt zu widersprechen.

Das andere ist das Klischee des für seine „klare“ und „aufrechte“ Gerichtsbotschaft verfolgten Propheten, das nicht zur Flucht vor Konflikten Anlass gibt, aber meist zu kleinkariertem Dogmatismus und häufig zu Selbstgerechtigkeit. Motto: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.“ Dann spaltet man lieber, als zu versöhnen. Zum Beispiel durch grobe und unfaire Attacken auf interreligiösen Dialog in jeglicher Form, weil die Anerkennung der Wahrheiten des anderen als Verrat an der eigenen Wahrheit interpretiert wird.

In Wirklichkeit müssen gerade die Versöhner ein dickes Fell haben und viel einstecken können, während alle, die sich mit ihren Getreuen gegenüber „feindlichem Beschuss“ verbarrikadiert haben, dort relativ sicher sitzen können, so lange der Druck von außen alle Konflikte im Inneren erstickt. Sie können aus jeder Opposition öffentlichkeitswirksam Kapital schlagen und sich als Opfer „der anderen“ inszenieren. Der Versöhner hingegen kann es sich gar nicht leisten, jene anderen zu diffamieren und zu verurteilen, die er gewinnen möchte, während er zugleich befürchten muss, dass ihm die Eiferer im eigenen Lager (oft noch radikalisiert durch die „Spalter“) in den Rücken fallen.

Lukas 11 ist ein wunderbares Kapitel, wenn man den streitbaren Jesus kennenlernen will. Der Ärger beginnt, als Jesus von seinen Gegnern verdächtigt wird, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und antwortet „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Hier also ist das Motto der heutigen Spalter im Munde dessen, der damals „sammelt“ zu finden.

Wenig später bombardiert Jesus die Pharisäer mit Vorwürfen wegen ihrer Habgier und Härte gegenüber den Armen, die sich hinter penibler Abgabenpraxis an den Tempel versteckt und von Riten verdeckt wird, die soziale Distanzierung forcieren. Als würde das Geben des Zehnten die Frage überflüssig machen, ob man seinen Reichtum auf Kosten anderer erzielt hat.

Daraufhin gibt ein Schriftgelehrter Jesus zu bedenken, „Meister, damit beleidigst du auch uns“. Jesus hält einen Augenblick inne, denkt nach und entschuldigt sich dann zerknirscht für seinen harschen Tonfall…

Quatsch! – Jesus dreht erst richtig auf und stimmt eine Serie von Weherufen gegen die Schriftgelehrten an, die sich genauso gewaschen hat wie die, mit denen er die Pharisäer auf die Hörner genommen hatte. Tenor: Sie erfinden immer neue, komplizierte Lasten für die einfachen Leute, von denen nur sie selbst als „Fachleute“ profitieren. Sie werden unentbehrlich, weil keiner mehr durchblickt bei den vielen Paragraphen und ihren Ausnahmen.

Jesus attackiert die Nutznießer von dogmatischem Stacheldraht und ideologischem Mauerbau, deren materielles und ideelles Interesse an harten Grenzziehungen offensichtlich ist, und die über all ihrem Eigennutz nicht mehr erkennen, dass Gott selbst ihnen gerade durch Jesu Handeln in die Quere gekommen ist. Jene, die zerstreuen, um herrschen zu können, und die darin nicht anders handeln als es die römische Staatsmacht auch tut.

Das Unrecht und die Ungleichheit darf nicht übertüncht, sondern es muss angesprochen und sichtbar gemacht werden, damit sich etwas ändern kann. Das stellt die Privilegierten in kein gutes Licht, ähnlich wie 2012 die Aktion des Zentrum für politische Schönheit gegen die Eigentümer der Rüstungsfirma Krauss, Maffei, Wegmann. Aber ohne diese Art von Konfrontation, wird sich wenig ändern.

„Don’t tiptoe through life just so you can arrive at death safely“ (gestern bei Tony Campolo gelesen) – das war definitiv nicht die Maxime für Jesus.

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Zur Klarheit finden

Um Missverständnissen dessen, was ich gleich schreibe, wenigstens halbwegs vorzubeugen: Ich habe in den letzten Jahren viel von anderen gelernt, viele gute Impulse und Ideen bekommen, viele gute Fragen, die mich zum Denken brachten und immer wieder guten Rat. Ich schätze das und bin dankbar dafür. Ohne das alles wäre ich heute nicht der, der ich bin.

Die Frage, die ich stelle, liegt auf einer etwas anderen Ebene, sie hat aber auch mit dem zu tun, der ich bin: Wenn ich zurückdenke über die letzten drei, fünf oder zehn Jahre, fallen mir dann mehr Situationen ein, in denen ich es bedauert habe, nicht auf eine der Stimmen von außen gehört zu haben, oder überwiegen die Momente, in denen ich nach heutigem Stand meiner Einschätzung besser auf die innere Stimme hätte hören sollen?

Ist das vielleicht eine Typfrage (der Unabhängige muss lernen auf andere zu hören, der Schüchterne sich selbst) oder eine Lernaufgabe, die man im Lauf seines Lebens zu bewältigen hat (vom Außen- zum Innengesteuerten)? Und vor allem: wie verhalte ich mich im Konfliktfall?

Die Quäker haben ein schönes Ritual gefunden, das beides zusammenbringt: Die tiefe Achtung vor dem „Inneren Licht“ in jedem einzelnen und die Einsicht, dass in unterschiedlichen Perspektiven große Weisheit steckt. Parker Palmer erzählt von einem Clearness Committee, das drei Stunden zusammensitzt und jemandem in einer Entscheidungssituation hilft, seine innere Wahrheit zu finden. Die Runde darf dabei nur Fragen stellen, die Betroffenen antworten darauf und es werden neue Fragen gestellt, aber es werden keine Ratschläge und Empfehlungen erteilt. So helfen die äußeren Stimmen unter den vielen inneren Stimmen die Wahrheit zu entdecken.

Safe Space from Center for Courage & Renewal on Vimeo.

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Hilfreiche Aufklärung

In der aktuellen Debatte um den Islam gibt es viele Verkürzungen, Verzerrungen und Fehlschlüsse. Der Religionswissenschaftler Michael Blume (hier sein äußerst lesenswerter Blog) hat kürzlich einige davon in einem Vortrag sehr sachlich aufgegriffen und dabei mit manchen Mythen und Missverständnissen aufgeräumt. Nebenbei lernt man auch noch so interessante Dinge wie die Herkunft der Zauberworte Abrakadabra, Hokuspokus und Simsalabim und den neurologischen Zusammenhang zwischen Bilderverbot, rechtsläufiger Vokal- und linksläufiger Konsonantenschrift.

Viel wichtiger aber sind seine Hinweise am Ende über das Verhältnis von Islam und Demokratie, die Misere vieler arabischer Staaten, den Einfluss des Internets auf religiösen Fundamentalismus und die Furcht vor dem Islam in Deutschland bzw. deren Bewältigung. Die knapp 80 Minuten sind gut investiert.

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2015: Themen, Treffen, Trampelpfade

Das neue Jahr ist erst ein paar Tage alt. Schwer zu sagen, was es alles bringen wird, ein paar Dinge aber zeichnen sich schon ab, auf die ich mich freue. So etwas wie Trampelpfade in einem noch unberührten Gelände also. Ich zähle manche hier auf, weil es erstens um Themen geht, die mir besonders wichtig sind, und weil zweitens die eine oder der andere vielleicht interessiert ist oder auch einfach nur gerade in der Nähe der unterschiedlichen Treffen, die ich gleich aufzähle. Zu den motivierenden Seiten des Bloggens gehören für mich die persönlichen Begegnungen, die aus dem Lesen und Schreiben heraus entstanden sind. Vielleicht laufen wir uns ja – ob beabsichtigt oder nicht – über den Weg.

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Zweimal bin ich in diesem Jahr zum Thema Schöpfungsspiritualität unterwegs – im Frühjahr und im Spätsommer: Am 16. Mai für einen Tag bei Andreas Ebert in München St. Martin, wo es im Rahmen seines Credo-Projekts theologisch und praktisch thematisiert wird, und am 19. September bei Martin Horstmann in der Melanchthon-Akademie in Köln. Wer diesen Blog regelmäßig liest, hat vielleicht gemerkt, wie wichtig mir diese Fragen sind – nicht nur im Sinne eines Engagements für die Natur und Mitgeschöpfe, sondern auch, weil das für mich eine große Quelle von Kraft ist. In den letzten Wochen habe ich mit großem Interesse den aktuellen Forschungsstand zur Entstehung des Lebens wenigstens überflogen und dabei viel Neues gelernt.

Im Herbst freue ich mich auf zwei Besucher: Andreas Ebert „dreht den Spieß um“ und kommt uns bei ELIA im November besuchen, um mit uns über Familienverstrickungen nachzudenken. Im Oktober planen wir ein Wochenende mit Martin Pepper, wo wir uns mit Entwicklungsperspektiven für den Bereich „Lobpreis“ (ein besserer – deutscher! – Begriff allein wäre schon ein Gewinn…) beschäftigen wollen. Mal sehen, was da an neuen Inhalten und Gestaltungsideen zusammenkommt. Dazu habe ich im vergangenen Jahr ja ein paar Posts verfasst.

Jetzt gleich im Januar und dann verdichtet im Juli beschäftigt mich der Zusammenhang von Spiritualität, Theologie und Aktivismus, wie ich ihn bei Walter Wink kennengelernt habe. Wir werden hier in einer 14-tägigien Lektüregruppe Winks Buch „Verwandlung der Mächte“ bearbeiten und vom 3. bis 5. Juli werde ich mit dem Geistlichen Zentrum Schwanberg ein Wochenende zum Thema „Die Macht der Ohnmächtigen: Die biblische Rede von Mächten und Gewalten und eine Spiritualität der Ermächtigung“ anbieten (Infos gibt’s hier). Herzliche Einladung dazu!

Überhaupt möchte ich in diesem Jahr noch intensiver darüber nachdenken (und das auch zu Papier bringen), wie Winks Ansatz zu einer Art „praktischen Befreiungstheologie für das Konsumzeitalter“ (manche reden ja schon von „Postdemokratie“) entwickelt werden kann. Seit den Achtzigern haben sich die globalen Machtkonstellationen deutlich verändert. Ohnmachtsgefühle sind dabei eher größer geworden, und der (keineswegs nur unberechtigte) Frust dient allen möglichen geistigen Brandstiftern dann als Zündstoff für ihre Kampagnen gegen noch Schwächere. Lässt sich darauf eine konstruktivere Antwort finden als rechte Ressentiments?

Auf ein paar Einladungen freue ich mich auch: Zum Abschluss der Allianz-Gebetswoche werde ich am 18. Januar im ehrwürdigen Bremer Dom predigen und Ende Juni bin ich ein Wochenende in Berlin bei Kirche 21, etwas weniger ehrwürdig vielleicht, aber ganz bestimmt nicht weniger spannend.

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Come back, Mark Driscoll

Eigentlich hatte ich keine Lust, etwas über Mark Driscoll zu schreiben, selbst als sich in den letzten Wochen die Aufregung um seine Person erheblich zuspitzte. Mir wäre nichts Neues eingefallen, und dass ich seine theologische Position, seine Ausdrucksweise und seine eigentümliche Interpretation von „Männlichkeit“ für indiskutabel halte, habe ich hier mehrfach zu Protokoll gegeben. Driscoll war für mich in den letzten Jahren der Luis Suarez der Rechtsevangelikalen und Neoreformierten.

Heute kam nun die Nachricht von seinem Rücktritt. Auch die war nach dem ganzen Vorlauf keine große Überraschung. Aufschlussreich und äußerst nachdenkenswert fand ich die letzten Sätze in dem Bericht von Sarah Pulliam Bailey auf RNS, alles O-Töne des langjährigen Aushängeschilds von Mars Hill und Acts 29. Da geht es nicht um die Dinge, die ich schon immer kritikwürdig fand. Es wird das Selbstverständnis eines Menschen und seines Umfeldes deutlich: Der absurde Kult um Größe, Wachstum, Konkurrenz, Gewinnen und Erfolg, der so wunderbar in den Mainstream der US-Kultur passt und doch so völlig unvereinbar mit dem Evangelium ist. In Driscolls Worten:

“I’m a guy who is highly competitive. Every year, I want the church to grow. I want my knowledge to grow. I want my influence to grow. I want our staff to grow. I want our church plants to grow. I want everything — because I want to win.”

Driscoll conceded that he wouldn’t be content with remaining the same. “That’s my own little idol and it works well in a church because no one would ever yell at you for being a Christian who produces results. So I found the perfect place to hide,” he said.

“And I was thinking about it this week. What if the church stopped growing? What if we shrunk? What if everything fell apart? What if half the staff left? Would I still worship Jesus or would I be a total despairing mess? I don’t know. By God’s grace, I won’t have to find out, but you never know.”

Über Kampf und Konkurrenz als tödliche Krankheit unserer Gesellschaften schrieb diese Woche George Monbiot im Guardian: „The war of every man against every man – competition and individualism, in other words – is the religion of our time, justified by a mythology of lone rangers, sole traders, self-starters, self-made men and women, going it alone.“ Und dieser (Driscoll sagt es ja selbst!) Götze, dem eine ganze Bewegung huldigte, hat ihn nun im Stich gelassen. Früh genug, um sich umorientieren zu können und einen anderen Weg einzuschlagen, auf dem man die Ellenbogen angelegt und das Beißen bleiben lassen kann. Nun, wo er dieses Biotop, in dem er der geworden ist, der er ist, verloren hat, könnte er durch Gottes Gnade entdecken, wovon er durch diese schmerzhafte Trennung erlöst wurde und wozu ihn das befreit.

Und in all dem könnte er den Jesus, um den es ihm immer ging und den er doch nur so verzerrt kennen gelernt hatte, vielleicht noch einmal neu sehen lernen. Die wirkliche Gnade ist nicht, dass er es nicht herausfinden muss, sondern dass er es nun endlich herausfinden darf.

Ich wünsche es aber auch allen anderen, die Mark Driscoll gewähren ließen – weil er Erfolg und „Ergebnisse“ brachte, weil er Machtphantasien bediente, weil er die Illusion ermöglichte, christliche Gegenkultur könne sich mit dem kruden Weltbild und der mehr als nur unterschwelligen Aggression der Rednecks und Teaparty-Konservativen erfolgreich verbünden zu einem coolen Mix – dass sie ihn nicht zum Problembär und Einzelfall mit (fraglos) schwierigem Charakter abstempeln und sich die Hände in Unschuld waschen, sonst wiederholt sich dieses Drama womöglich nur mit neuer Besetzung. Driscolls Schreiben, mit dem er seinen Rückzug ankündigt, lässt ahnen, dass er lieber früher als später zurückkommen möchte. Aber das wäre unklug.

Um es in bewusster Abwandlung des berüchtigten John-Piper-Tweets („Farewell, Rob Bell“) zu sagen: Come back, Mark Driscoll, aber bitte lass dir und der Gnade auch genug Zeit dabei.

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Kein Geld für Zahnpasta?

Diese Woche sollen bis zu 300 Flüchtlinge aus dem überfüllten Zirndorf nach Erlangen verlegt werden, etwa 130 sind schon da. Die Stadt Erlangen hat auf dem Parkplatz des Freibad West große Zelte aufgestellt, derweil der Freistaat sich um wintertaugliche Unterkünfte bemüht. Trotzdem sind viele einfach nur froh, aus Zirndorf weg zu sein.

An dieser Stelle muss man der bayerischen Staatsregierung und unserem Herrn Ministerpräsidenten zugute halten: Mit solche einem Andrang von Flüchtlingen hat ja auch wirklich niemand rechnen können, der sich in den letzten 12 Monaten auf den bevorzugten Politikfeldern der CSU (epochale Projekte wie die PKW-Maut, Spielzeugautos, Windradverhinderung, Streichung von Lehrerstellen) bis zur völligen Erschöpfung abgerackert hat.

Die Bürger hingegen sind erfreulich hilfsbereit, schrieb die Tageszeitung gestern. Dennoch hat es nicht nur mich erstaunt, dass in einem Spendenaufruf ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer neben warmer Kleidung auch solche Dinge wie Zahnpasta, Zahnbürsten, und Duschgel vorkamen. Jetzt wissen wir also auch, wofür wir die Einnahmen aus der Maut unbedingt brauchen: Unser Staat ist offenbar nicht einmal mehr in der Lage, lausige 300 Tuben Zahnpasta selber zu besorgen.

Auf die Stadt kann man in aller Bescheidenheit ein bisschen stolz sein, für den Freistaat kann man sich eigentlich nur in Grund und Boden schämen.

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Reichlich Rechtsgläubig

Bild am Sonntag hat vor ein paar Wochen schon mit islamophoben Thesen auflagenträchtig Staub aufgewirbelt und sie dann ebenso auflagenträchtig selbst kritisiert. Das Schwesterblatt „Die Welt“ versuchte schon vor geraumer Zeit, nicht nur Christian Wulff, sondern vor allem auch die Grünen als Islamfreunde an den Pranger zu stellen.

Eine Mitchristin, die anscheinend selten eine Gelegenheit auslässt, den Islam in das düsterste Licht zu rücken, postete nun neulich diesen schon angestaubten Welt-Artikel in einem sozialen Netzwerk und ihre christlichen Freunde kommentieren mit Sätzen, die recht robuste und rustikale Feindbilder transportieren. Da mischt sich eine bestimmte Gläubigkeit mit Islamfeindlichkeit und rechtem Gedankengut auf mehr als bedenkliche Weise. Ein paar kurze, anonymisierte Zitate:

  • Die grünen würden ja Deutschland abschaffen wenn sie könnten. Was hat Trittin mal gesagt? er schäme sich, Deutscher zu sein?
  • Grüne sind einfache Antichristen
  • na Pädophil sind sie ja schon passtja zu der Religion..und für Inzucht sind sie ja auch die grünen….nur gibts dann schwirigkeiten mit den Homosexuellen !!
  • Sie folgen halt Mohamed seime aisha war ja 9 jahre alt als er sie zur frau nahm
  • In islamischen Ländern brennen sie alles Christliche nieder, und hier wird noch von Steuergeldern ihre satanische Synagogen gebaut
  • Die spinnen, die Gruenen. Gleichstellung der Christen mit den Moslems? Wie stellen sie sich das nur vor?

Ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, wenn Leute – Christen! – so reden und schreiben. Als ich in dem Thread anmerkte, dass ich mich wie auf einer NPD-Versammlung fühlte, wurde ich sogleich als „Grüner“ betitelt und bekam mitgeteilt, die NPD sei ja antisemitisch, mit der habe man nichts zu tun. Die NPD würde sich bei so viel inhaltlicher Zustimmung zum übrigen Parteiprogramm freilich trotzdem die Hände reiben. Vielleicht hätte ich alles auch längst vergessen, wenn nicht „Charismanews“ in den USA jüngst ganz offiziell solch militant islamfeindliche Thesen veröffentlicht hätte. Das hat zwar viele Proteste ausgelöst, aber so lange an der Basis vieler Gemeinden unwidersprochen so geredet werden kann, ist das Problem nicht vom Tisch.

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Verkehr(te)s Gleichnis

Es fuhr ein Mann im silbernen Kompaktklasse-Kombi auf der Autobahn, der fürchtete sich nicht  im dichten Verkehr und wagte sich auf die linke Fahrspur. Es war aber ein dunkler Oberklasse-PKW hinter ihm auf derselben Autobahn, der war sehr ungehalten über die Existenz so vieler langsamerer Fahrzeuge und fuhr bis auf 5 Meter auf.

Der Kombifahrer wollte im ersten Moment nicht einsehen, warum er unbedingt Platz machen muss – schließlich waren da noch viele gleich schnelle Fahrzeuge vor ihm. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich auch keinen vernünftigen Grund sehe, Platz zu machen, will ich doch dem Drängen dieses Gehetzten, weil er mir so viel Mühe macht, nachgeben, damit er sich und uns alle nicht weiter gefährdet.

Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der Kombifahrer sagt. Sollte Gott zögern, denen den Weg frei zu machen, die ihn so pentetrant drängeln?

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Zeit und Ehe bei Paulus

Ich lese immer noch in Lehnerts „Korinthischen Brocken“. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zu der Frage, wie Paulus zu lesen und auszulegen ist, weil es sich jenseits gängiger dogmatischer Alternativen bewegt. Recht konkret wird das in der Betrachtung von 1.Korinther 7, wo es um Heirat und Ehelosigkeit geht. Man kann Lehnert sicher nicht vorwerfen, er setze sich leichtfertig über den Wortlaut hinweg oder erkläre irgendwelche Aussagen für heute nicht mehr zeitgemäß. Relativiert wird lediglich eine bestimmte, weit verbreitete und Jahrhunderte lang dominierende Auslegungstradition.

Paulus ist durch seine Christusbegegnung wie aus der Zeit gefallen. Weniger die Kontinuität die vom Vergangenen kommt und auf das Zukünftige hin läuft, bestimmt ihn, sondern deren Unterbrechung.

Paulus – ziellose Schritte, kein »Weiter«, kein »Zurück«, er läuft und läuft. Fort von Damaskus – und auf Damaskus zu, auf den Moment seiner Verwandlung. Paulus agiert nicht mehr auf einem Zeitstrahl. Deshalb kann er auch so schlecht erzählen, er verliert schon innerhalb von zwei, drei Sätzen den Faden, steigt aus und reflektiert, fällt ins Suchen nach Begriffen oder abrupt ins Poetische, in den dichten Ausdruck des Augenblicks. Er schaut auf: Wo bin ich? Was ist das?

Und so ergibt sich auch im Blick auf die Ehe eine andere Perspektive als die vieler rabbinischer Zeitgenossen, die Sexualität und Fruchtbarkeit als göttliches Geschenk feierten, wie auch der entstehenden Gnosis, die Leiblichkeit immer nur negativ in den Blick nahm:

In der Ehe eine »heilige Schöpfungsordnung« zu vermuten, ist für Paulus genauso abenteuerlich wie in der Askese einen Ausweg aus der eigenen Natur. Bleibt! Verharrt! Wenn eine Ehe zerbricht, dann möge sie zerbrechen. Und wenn eine Ehe geschlossen wird, so habe sie Bestand. Bleibt! Was die Gegebenheiten dieser Welt bedeuten, wird der Christus erweisen. Und in diesem Verharren pulst doch eine anarchische Unruhe, sie bestimmt die Lebensform des Glaubens, wie das Verlangen nach Luft die Lunge bewegt. (S. 162)

Lehnert betont auch den Kontrast zum romantischen Ideal der Moderne, die das Heil in der geschlechtlichen Liebe sucht. Auch sie kann sich nicht auf Paulus berufen. Vielleicht wäre das ja auch ein Ausweg aus den Kulturkämpfen rund um Ehe und Familie, das Thema wieder etwas zurückzunehmen. Da scheint mir auch ein Teil der Diskutanten (darunter die offizielle Linie der katholischen Kirche) an der Vorstellung von heiliger Schöpfungsordnung zu kleben und manche Kritik daran dürfte sich ihrerseits vor allem dem säkularen Motiv verdanken, in der geschlechtlichen Liebe etwas Unbedingtes zu sehen, dem ein Mensch um jeden Preis zu folgen hat, wenn er sein Glück nicht verspielen will. Ähnlich sind die Folgen für das Verhältnis der Christen zur antiken Gedächtniskultur, die so großen Wert legt auf Ahnen und Abstammung:

Die Ehe ist ja nichts als eine Interimslösung mit sehr begrenzter Gültigkeit. Ihr kommt keinerlei Heiligkeit zu, keine Metaphysik des Blutes. Es ist, folgt man Paulus, letztlich sinnlos, auf den Stammbaum der Generationen zu schauen, sich ein Weiterleben in einer Familie oder im Gedächtnis von Nachkommen zu erhoffen. Ja, es ist schon fahrlässig, eine Familie außerhalb der direkten Anwesenheit von Personen, der Liebe von Menschen zu denken […]

Die Familie löst sich bei Paulus auf bis auf die Personen, die man kennt und liebt. Genealogien, nichts haben sie mehr zu sagen auf die Frage, wer wir sind. (S. 163f.)

Der Schlüssel zu einer Entkrampfung der Debatten läge aber wohl darin, dieses Zeitempfinden nachzuvollziehen, die „anarchische Unruhe“ zurückzugewinnen. Christentum in unseren Breiten hat sich vielfach in der Zeit leidlich eingerichtet, lebt mehr im Verlauf als der Unterbrechung, hütet das Erbe der Väter oder fügt sich in den Lauf der Dinge. Dass Paulus hier, wie Lehnert schreibt, Lebenssituationen zu sich selbst in Spannung setzen kann, hat mit seinem Bild der Welt zu tun:

Paulus erlebt den Kosmos als flüchtige Erscheinung in stetem Selbstwiderspruch. Die alte Welt ist verwandelt in ihren Schatten, im Licht des messianischen kairos, und doch ist sie Ort der Bewährung, des Ausharrens bis zum Ende, und das heißt: Harren in der Verantwortung für die Welt als Hauch. (S. 169)

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