Ich habe die letzten paar Jahre hier deutlich weniger geschrieben als vorher. Das hatte auch damit zu tun, dass ich an der Frage dran war, wie eine theologische und sprituelle Antwort auf die Klimakatastrophe und das Anthropozän aussehen könnte: Eine Theologie der Ermächtigung und eine Spiritualität des Engagements.
Ich habe dafür unter dem Motto „Wild und unaufhaltsam. Mutig leben auf einem erschöpften Planeten“ eine neue Website gebastelt, auf der die Texte dann sukzessive und aufeinander aufbauend erscheinen. Wenn Ihr einsteigen mögt: Hier sind die ersten paar Kapitel, es werden noch einige:
Mitten im Herbst 2023 blühte eine Erdbeere bei uns im Garten. Allmählich wundern mich diese Dinge, die zur Unzeit geschehen, schon gar nicht mehr.
Trotzdem war ich mächtig erstaunt, als ich an einem lauen Oktoberabend an einem Nadelbaum vorbeikam, der über und über mit kleinen Würstchen übersät war, aus denen dicker Blütenstaub quoll. Ich sah genauer hin: Das müsste eine Zeder sein. Kommen jetzt schon ausgewachsene Bäume völlig aus dem Rhythmus?
Weil es mir keine Ruhe ließ, las ich nach: Zedern blühen tatsächlich im Oktober. Es war mir nur noch nie aufgefallen. Die Zeder kannte also noch ihre Zeit. Auch wenn dieser Herbst fast drei Grad wärmer war als normal.
Wie schön, dass es noch Abläufe gibt, die stimmen! Im Buch Hiob in der Bibel ist an einer Stelle von den Lebensrhythmen der Tiere die Rede, wie sie Junge bekommen und großziehen und gehen lassen.
Die Beständigkeit der wilden Geschöpfe, die ihrer inneren Uhr folgen, ist für den trauernden, mit seinem Schicksal hadernden Hiob ein göttlicher Trost. Und eine Herausforderung, sich dem Leben mit all der Energie, die darin steckt, wieder zu öffnen.
Für mich war die blühende Zeder von da an etwas Ähnliches: Ein Augenzwinkern des Schöpfers, das meinen Blick für das Gute in der Welt öffnet.
Ich war diese Woche bei einer Gesprächsrunde über Naturspiritualität. Viele motivierte Menschen, tolle Ideen und interessante Konzepte. Viel positive Energie schwappte hin und her durch den Raum.
Wenn man in dem Bereich unterwegs ist, muss man sich oft rechtfertigen. Oder besser: Hat man es mit vielen kritischen Anfragen zu tun. Eine davon ist, ob die Natur nicht naiv verklärt wird, wenn wir sie als Weg zu Gott oder „Spiegel der Seele“ betrachten. Ob wir sie, anders gesagt, also nicht einfach nur so sehen, wie wir sie gerne hätten.
Gestern begegnete mir das – die Abwehr dieses vermuteten Einwands – anhand zweier Beispiele: Dass es jetzt gerade so viele Nacktschnecken gibt und dass es Viren und Pandemien gibt – das ist zum Beispiel nicht gut.
Das hat mich auf dem Heimweg noch länger beschäftigt, weil beide Beispiele das meines Erachtens nicht hergeben. Die Nacktschnecken sind erstens hauptsächlich ein Problem für unsere Gärten und Parks, also die domestizierte Natur (auch unsere Wälder sind überwiegend Nutzwälder, also Holzplantagen. Nur etwa ein Drittel gelten noch als naturnah, echte Naturwälder machen weniger als 5% aus!).
Sie sind zweitens eine Klimafolge, weil die wärmere Atmosphäre zu ergiebigeren (und in diesem Sommer auch viel häufigeren) Niederschlägen führt.
In beiden Fällen bekommen wir also eine verwundete, beschädigte Natur zu spüren, die Folgen unserer Verwüstung. Vorletztes Jahr kam ich von einer Wild Church mit einer dicken Auwaldzecke zurück. Eine Borreliose musste anschließend mit Antibiotika niedergeknüppelt werden. Wäre das vielleicht ein besseres Beispiel? Nur bedingt, denn die Verbreitung von Zecken hat eben auch damit zu tun, dass das Rotwild in unseren Wäldern bei weitem nicht ausreichend bejagt wird. Auch da ist das Gleichgewicht längst gestört.
Die Aussage „in der Natur ist auch nicht alles gut“ ist oft eben nur Ausdruck unseres verqueren Blicks auf die Natur, in dem sich immer noch alles um unsere Bedürfnisse und unser Wohlbefinden dreht und alles übrige Leben daran bemessen wird.
Eine Lektion in der Begegnung mit der Natur könnte sein, dass wir aufhören, alles auf unmittelbare Nützlichkeit hin zu bewerten und in ein Gut/Schlecht-Schema einzuordnen. Sie hat nicht erst dann ihren Wert, wenn sie erkennbar „zu etwas gut“ ist. Das wäre ja auch eine wichtige spirituelle Grundhaltung, das Urteil auszusetzen, um einen klareren Blick auf die Dinge und uns selbst zu bekommen. Sehen, was da ist.
Auf diesem Weg gibt es noch eine Menge zu entdecken. Je weniger blinde Flecken im Spiel sind, desto interessanter könnte es werden.
Es gibt Dinge, die schiebe ich gern vor mir her. Sie sind einfach nicht so dringend. „Ich mach’ das schon irgendwann, wenn grad mal mehr Zeit ist,“ denke ich mir dann. „Aber nicht jetzt, ich hab schon genug Stress.“
Manchmal komme ich mit dem Aufschieben durch. Aber dann gibt es auch die Momente, wo es lichterloh zu brennen beginnt, weil zum Beispiel der Reisepass abgelaufen und es zum Urlaub nur noch eine Woche hin ist. Dann wird es anstrengend und teuer, und manchmal ist es auch einfach zu spät.
Letzte Woche haben wir entdeckt, dass nicht nur Einzelpersonen so denken und agieren, sondern auch Gremien: Ämter, Stadträte, Regierungen. An vielen Orten wurde der Hochwasserschutz vernachlässigt. Es kommt ja nur alle hundert Jahre ein großes. Und selbst dann ist fraglich, wo genau. Wird schon gutgehen.
Aber immer öfter geht es eben nicht gut. Und dann sind ja nicht nur die betroffen, die das Problem aussitzen wollten, sondern auch die vielen anderen, die sich auf sie verlassen haben. Ein faules „wird schon gutgehen“ ist da einfach zu wenig. Wenn die Sache nämlich dringend wird, ist es schon zu spät.
Die Nacht nach dem Palmsonntag war klar und kalt, und als ich vom Frühstückstisch in den Garten schaue, sehe ich ein seltsames Objekt etwa einen Meter über dem Boden schweben.
Das UFO entpuppt sich als die Krone unseres Zwetschgenbäumchens. Meine Frau hat es am Vorabend noch verpackt gegen die Kälte. Die Obstbaumblüte hat dieses Jahr wieder recht früh begonnen. Die Zwetschge strahlt seither weiß im Sonnenlicht und wird von Bienen eifrig umsummt. Wir freuen uns an dem Anblick, aber wir machen uns auch ein bisschen Sorgen: Eine einzige klare, kalte Nacht könnte der Blütenpracht ein jähes Ende bereiten.
Obstbauern zünden in solchen Nächten kleine Feuer unter ihren Kirsch- oder Apfelbäumen an, habe ich beim Fernsehen erfahren. Das ist verständlich, aber irgendwie auch absurd. Denn die Tatsache, dass alles eher blüht und deshalb öfter Nachtfrost abkriegt, ist ja die Folge davon, dass wir so viel verheizen: Öl, Gas, Benzin, Kohle oder auch Holz.
Schon komisch, was wir alles machen, und was gar nicht (oder viel seltener) nötig wäre, wenn wir es alle zusammen gleich richtig gemacht hätten…
Inzwischen ist die Zwetschge ohne Frostschaden verblüht. Der Apfelbaum hat sich erst zwei Wochen später herausgetraut, bei über 20 Grad und Saharastaub. Vielleicht lernen die jungen Bäume ja schneller, als ich dachte.
Weil es im Sommer öfter geregnet hat als in den vorausgehenden Dürrejahren, haben viele Leute hier das gar nicht zur Kenntnis genommen. Gefühlte und gemessene Temperaturen –davon könnte der Frosch ein Lied singen, wenn er den Kochtopf denn überlebte – sind zwei Paar Stiefel.
Ich habe die Messwerte des letzten Jahres für Nürnberg hier mal in der Übersicht. Mit Ausnahme des – nur gefühlt eisigen – April liegen alle weit über dem Mittel der 30 Jahre vor 1990. Doch selbst der April ist nur Durchschnitt, also eigentlich doch nicht kalt gewesen.
Neun von zwölf Monaten waren mindestens zwei Grad wärmer. Da kann man nicht mehr von Einzelfällen, Anomalien und Ausreißern sprechen. Bei drei Grad Erwärmung wären mindestens 20% mehr Regen nötig, um den ansteigenden „Dampfhunger“ der Atmosphäre auszugleichen. Das haben wir in Nürnberg gerade mal so erreicht, aber es war eben nicht genug, um die niedrigen Grundwasserstände in der Region wieder aufzufüllen. Und weil ein Teil dieser Niederschläge als Starkregen fiel, floss das Wasser ab, bevor es in den Bödern verscikern konnte.
Unsere Parteien streiten derzeit über die Schuldenbremse im Staatshaushalt. Die Verengung auf das Monetäre ist in dieser Form verantwortungslos, verrückt und kurzsichtig, weil wir täglich weiter Klimaschulden auftürmen, die uns in Form von immens kostspieligen Klimafolgen viel teurer zu stehen kommen als alle Kredite und Anleihen, die zum ökologischen Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft nötig wären. Geldschulden kann man zurückzahlen, aber wenn die Kippunkte unserer Ökosysteme erreicht sind (und etliche sind bereits überschritten), wird diese Schuldenspirale sehr schnell und vor allem unwiderruflich außer Kontrolle geraten.
Wenn Jesus in den Evangelien mit dem Kernsatz zitiert wird „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, dann würde die Entsprechung angesichts der Risiken, die wir heute gemeinschaftlich entfesseln, jetzt lauten:
Es ist möglich, unsere destruktive Art zu leben und zu wirtschaften zu verändern. Aber dazu müssen wir bereit sein, umzudenken und uns einzugestehen, dass es so nicht weitergehen kann. Und wir müssen eine Haltung gegenüber Menschen und Mitgeschöpfen einüben, die nicht darauf aus ist, sie uns anzueignen und zu unterwerfen. Denn selbst wenn wir das nicht vorsätzlich tun, darauf läuft es derzeit hinaus. Und dass es nicht so bleiben darf, ist einfach nur fair und gerecht.
Es gibt wenige Texte aus der Bibel, die mir mehr bedeuten und mich öfter beschäftigen als das achte Kapitel des Römerbriefes, und immer öfter der Mittelteil vom Seufzen der Kreatur. Das ist der Predigttext übermorgen, am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, und diesmal habe ich die Evangelische Morgenfeier im BR dazu vorbereitet. In dieser Blogfassung sind ein paar Dinge etwas ausführlicher möglich als in der Sendefassung
Jetzt, im November, wenn es früh dunkel wird und das letzte bunte Laub von den Bäumen fällt, schüttele ich die Traurigkeit nicht mehr so leicht ab wie sonst. Nicht nur persönlicher Kummer meldet sich, auch all der Kummer, den ich von anderen mitbekomme. Dann tut es gut, zu spüren: Ich bin nicht der einzige, der seufzt oder sich eine Träne abwischt. Und auch wenn ich für die Traurigkeit keine Worte finde, bin ich nicht allein – sondern umgeben von einer Welt voller mitfühlender Wesen.
Dann aber, am 24. Juli 2018, bringt Talequah eine Tochter zu Welt. Es gibt wieder Hoffnung für die kinderlose Schwertwal-Sippe.
Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer. Das Kalb stirbt nach wenigen Stunden. In den folgenden 17 Tagen und über eine Strecke von über 1.500 Kilometern trägt die Mutter ihr totes Baby auf ihrem Körper. Wenn es abrutscht, taucht sie ihm nach und bringt es zurück an die Oberfläche. Als hofft sie immer noch, das Kalb werde irgendwann wieder anfangen zu atmen. Es dauert bis sie schließlich so weit ist, dass sie das Kleine loslassen kann. Die Forscherinnen beobachten sie mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Erstaunen. Wir Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die trauern – und nicht die einzigen, die lieben. Denn Trauer gibt es nur da, wo auch Liebe ist.
Wie in der Liebe versagen auch in der Trauer manchmal die Worte, und es bleibt nur ein Seufzen. Wenn der Apostel Paulus, der ja viel auf dem Meer unterwegs war, die Geschichte von Talequah gehört hätte, hätte er sich vielleicht an seine Worte aus dem Brief an die Römer erinnert:
Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.
Unheilbarer Weltschmerz
Es scheint, als hätte Paulus Ohren für die Klage und das Leid unserer Mitgeschöpfe gehabt. Und darin eine Verbindung zu seinem eigenen Schmerz entdeckt. Hören und Sehen ist ja immer „Hören und Sehen als“: Die einen hören den Ruf einer Möwe als störenden Lärm, für andere ist es der Klang der Sehnsucht nach dem weiten Meer und fernen Ländern. Die einen sehen eine Sternschnuppe als hellen Streifen am Himmel, für die anderen ist es ein zauberhafter Augenblick voller Verheißung.
Es hängt alles davon ab, wie ich hinsehe und hinhöre, und was die Bilder und Töne in mir zum Klingen bringen. Die Schriftstellerin P.D. James beschreibt das, indem sie ihren Protagonisten Adam Dalgliesh an die Küste Cornwalls schickt. Wo manch anderer nur die Brandung hören würde, begegnet der feinsinnige Detektiv dem Seufzen der Kreatur:
„Er lauschte, und zwar nicht so, dass er auf das rhythmische Schlagen der Wellen gegen den unnachgiebigen Granit achtete. Er ließ den unaufhörlichen Klang in die tiefen Schichten seines Bewusstseins, wo er zu einer ewigen Klage über den unheilbaren Schmerz der Welt wurde.“
Ich lebe nicht am Meer, aber manchmal spüre ich etwas ähnliches. Ich gehe gern in den Wald, und ganz besonders, wenn ich traurig bin oder angespannt und gestresst. Umgeben vom Grün der Bäume, Gräser und Moose, geborgen unter dem schattigen Kronendach und abseits vom Lärm der Zivilisation kann ich in der frischen Waldluft unbedrängt durchatmen. Die Aufregung legt sich und der Kopf wird wieder etwas freier. Leider hat das in den letzten fünf Jahren nicht mehr gut funktioniert. Immer öfter kam ich traurig und niedergeschlagen zurück. Die meisten Bäume sind vor Hitze und Dürre krank geworden, viele sind abgestorben. Im Frankenwald waren es dieses Frühjahr ein Viertel aller Bäume. Unwetter haben andernorts fußballfeldgroße Löcher in den Wald gerissen. Die Forstwege sind zerfurcht von den Maschinen, die Berge von Totholz abtransportieren müssen.
Das ist nicht mehr der Wald, den ich kenne. Es tut mir fast körperlich weh, die tiefen Wunden in der Natur zu betrachten. Wenn ich meine Sehnsuchtsorte nicht mehr wiedererkenne, dann ist das eine Art psychischer Kahlschlag. Dafür gibt es seit einigen Jahren den Begriff „Solastalgie“. Das heißt so viel wie: Leiden an der Trostlosigkeit. Als wäre der Freund, der mir immer geduldig zugehört und mich getröstet hatte, nun selber sterbenskrank und verzweifelt. Immer wieder einmal hat der Wald mit mir geseufzt. Jetzt seufze ich mit dem Wald, und das geht in Ordnung.
Wenn nur das Seufzen bleibt
„Uns geht es genauso!“, schreibt Paulus. Damals wie heute versuchen Menschen, ihre tiefe Erfahrung von Schmerz und Verbundenheit auszudrücken. Manchmal reicht es nur für ein tiefes Seufzen.
Andere singen von ihrer Trauer, zum Beispiel die Musikerin LeAnn Rimes in „Throw my arms around the world“: „Ich lege meinen Bauch auf den Boden, drücke mein Ohr auf die Erde, ich kann hören, wie sie innerlich weint, dass sie einfach nie, nie gehört wird. […] Ich möchte die Welt in meine Arme schließen, vielleicht kann ich sie ins Leben zurück lieben.“
Ich denke noch einmal zurück an die Walmutter. Talequahs Schmerz ist vermutlich nicht nur die Trauer über das verlorene Kalb, sondern auch darüber, dass ihre Sippe dort, wo sie lebt, keine Zukunft mehr hat. So etwas spüren Wale tatsächlich! Anders als noch zu Paulus’ Zeiten sind wir Menschen es, die uns und anderen Lebewesen solchen Schaden zufügen, indem wir das Wasser und die Luft verschmutzen und vergiften. Im Lärm unserer Schiffe und Flugzeuge, unserer Kraftwerke und Fabriken, unserer Dauerberieselung mit Musik und Nachrichten, geht das leise Seufzen der Kreatur so leicht unter. Parallel dazu haben immer mehr Menschen Mühe, sich selbst noch zu spüren. Kein Wunder, würde Paulus sagen, es hängt ja beides zusammen. Weil wir taub geworden sind für andere Geschöpfe, nehmen wir auch die leisen Signale der eigenen Seele nicht mehr wahr. Die äußere und die innere Verwüstung gehen Hand in Hand.
Womöglich hätten wir alle etwas weniger Grund zum Seufzen und Stöhnen, wenn wir fremdem Leid gegenüber kein so dickes Fell hätten. Aber wenn unsere Gesellschaft die leisen Töne so meisterlich verdrängt, müsste die Schöpfung da nicht lauter und nachdrücklicher auftreten? Bernhard Pötter schreibt in einem Kommentar für die taz:
»Wenn sie krachen, stinken und raufen würden, wenn sie auf der Straße Autoreifen anzünden und ihre Wut rausschreien würden, wenn sich die Moore mit der Polizei prügeln würden und das Wasser im Wasserwerfer streiken würde. Wenn wir mit Wäldern, Seegraswiesen und Mittelgebirgen Tarifverhandlungen führen müssten und uns über ihre unverschämten Forderungen ärgern könnten – es wäre eine bessere Welt. Wenn die Natur endlich mal das Maul aufreißen würde – vielleicht würden wir dann endlich das Gras wachsen hören.«
Aber vielleicht geschieht das ja gerade? Seit einiger Zeit rempeln Schwertwale in der Straße von Gibraltar immer wieder Segelyachten an. Vorsätzlich, wie es scheint. Manche Boote waren danach manövrierunfähig. In den sozialen Medien wurde das als „Orca-Aufstand“ regelrecht gefeiert. Ist es nur ein ruppiges Spiel, oder haben die Tiere womöglich verstanden, wer für den Lärm und Schmutz in ihrem Zuhause verantwortlich ist, und reagieren nun entsprechend? Und selbst wenn wir Menschen nur unser eigenes schlechtes Gewissen in das Verhalten der Wale hineinlesen – steht dahinter vielleicht die Einsicht, dass wir den Anstoß und die Unterstützung unserer Mitgeschöpfe brauchen, um das Schlimmste für uns selbst und andere zu verhindern?
Mein neues Wir-Gefühl
In letzter Zeit habe ich öfter mit den Tieren im Garten gesprochen. Den Eichhörnchen, die sich bis auf zwei Meter herangewagt haben. Den Meisen, Amseln und Rotkehlchen. Den gewitzten Krähen, die Nüsse knacken, indem sie sie aus einigen Metern Höhe auf den Asphalt meiner Straße fallen lassen. Ich weiß schon, dass sie den Inhalt meiner Worte nicht verstehen. Aber vielleicht verstehen sie ja, dass ich mit ihnen rede: Dass sie für mich ein Gegenüber sind, auch wenn sie keine Haustiere sind, bei denen wir das alle tun.
Kürzlich kam ich an einem Baum vorbei, dem jemand ein Schild umgehängt hatte. Darauf steht: „Ich mach Dir Luft.“ Ich fand es schön, dass hier „Ich“ und „Dir“ stand und nicht: „Bäume produzieren Sauerstoff“ oder etwas ähnlich Objektivierend-Belehrendes. Ein Gespräch habe ich mit dem Baum zwar nicht angefangen, aber ich habe ihn als Verbündeten empfunden. Solche Begegnungen persönlich zu nehmen und mich von der fürsorglichen Nähe meiner Mitgeschöpfe berühren zu lassen, weckt in mir ein neues Wir-Gefühl. Und dann fühle ich mich schon ein bisschen weniger einsam und verloren.
Ein solch geschwisterliches Verhältnis zu den Mitgeschöpfen kennen wir auch von Franziskus von Assisi. Der hob Raupen und Würmer vom Weg auf, damit sie nicht zertreten werden. Er ließ hungrige Bienen im Winter mit Süßwein füttern und wies den Klostergärtner an, um die Beete herum genug Platz zu lassen für Wildkräuter, weil die auf ihre Art von der Schönheit des Vaters aller Dinge erzählen.
Wie verletzlich wir doch sind
Paulus musste sich vor 2.000 Jahren noch keine Gedanken machen über Umweltkatastrophen, Kipppunkte und Artensterben. Für ihn bezieht sich das Seufzen der Schöpfung auf die Vergänglichkeit. Vergänglichkeit, das heißt: Als Mensch bin ich – wie alle Geschöpfe – nicht einfach nur endlich und sterblich, sondern auch schon mitten im Leben ungeheuer verletzlich an Leib und Seele. Ich ahne, dass mich Krankheiten, Unfälle, veränderte Lebensumstände jederzeit aus der Bahn werfen können. Und so wirft es einen Schatten auf mein Leben jetzt und alle unverdient glücklichen Momente darin, wenn ich lese und höre, was anderen denkenden und fühlenden Wesen Furchtbares zustößt.
Das Leid da draußen, nah oder fern, erzeugt ein Echo tief in meinem Inneren. Dabei schwingt nicht nur die Erinnerung an das Schwere mit, das ich schon erlebt habe, sondern auch eine Ahnung davon, was alles noch geschehen könnte. Was noch möglich ist, weil es gerade tausendfach anderen passiert, die ja auch nichts dafür können. Und deswegen ist dieses fremde Leid gar nicht nur fremd, sondern irgendwie auch mein eigenes; selbst wenn es bisher nicht eingetreten ist und das vielleicht auch niemals wird.
Dieses Bewusstsein meiner Verletzlichkeit, meiner Vergänglichkeit kann mich ganz schön verunsichern. Darf, ja soll ich mich dem stellen, oder macht – wie beim sprichwörtlichen Kaninchen vor der Schlange – das Hinschauen alles noch schlimmer? Was rettet mich vor der drohenden Resignation und Verzweiflung? Was hilft? Oder gibt es gar keinen Ausweg? Bleibt es beim ewigen Seufzen?
Für Paulus scheint schon in der angespannten Sehnsucht danach, dass Vergänglichkeit und Tod überwunden werden, ein Funke Hoffnung zu stecken:
Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen – allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden: Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet.
Seufzen und Hoffen, Schmerzen und neues Leben gehören offenbar eng zueinander. Das ist vielleicht der Grund, warum Paulus zu Anfang des Textes, den wir heute gehört haben, von Geburtswehen spricht: Auf den ersten Blick ein etwas gewöhnungsbedürftiger Vergleich, aber es stimmt schon:
Die Wehen sind voller Schmerz und gleichzeitig voller Hoffnung, dass der Schmerz überwunden und das neue Leben in all seiner kleinen, schrumpeligen Baby-Herrlichkeit sichtbar wird!
Diese Geburtswehen von Gottes neuer Welt betreffen Frauen und Männer. Sie aus der Perspektive der werdenden Mutter zu sehen hilft mir, unter Schmerz durchzuhalten. Das rettet mich vor Verzweiflung und hält den Fluchtreflex im Zaum.
Der Vergleich mit der Geburt hilft zum einen, weil er den Blick über den momentanen, akuten Schmerz hinaus richtet. Aber er erinnert mich auch an das, was wir selbst erlebt haben und was mir andere Eltern oft erzählt haben: Wenn die Schmerzen irgendwann kaum noch auszuhalten sind, hilft nur noch eines: Dass der Mutter jemand die Hand hält und sie spüren lässt: Ich bin da und weiche nicht von deiner Seite, bis alles durchgestanden ist.
Gekommen, um zu bleiben
Wenn Paulus von den Geburtswehen spricht, dann ist da auch jemand, der sagt: „Ich bin da und weiche nicht vin deiner Seite“ – Gott!
Auf dieses „ich bin da“ Gottes gründet sich für Paulus die Hoffnung der Menschen. In Jesus von Nazareth ist Gott Teil seiner seufzenden Welt geworden. Er ist gekommen, um zu bleiben, bis alles gut ist. Und im Heiligen Geist bleibt er bei jeder und jedem einzelnen. So, wie Jesus bis hin zum Tod am Kreuz das Leid und die Dunkelheit der Menschen geteilt hat, so tut er es jetzt durch den Geist. Und diese bleibende Anwesenheit Gottes im Schmerz enthält das Versprechen, dass Schmerz und Leid ein Ende finden. Er schließt die Welt in seine Arme und liebt sie zurück ins Leben. Paulus sagt es fast ein bisschen trotzig:
Ich bin überzeugt: Das Leid, das wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen.
Und allen, die sich lieber heraushalten und nicht in Mitleidenschaft ziehen lassen wollen, die das zähe Warten und die Härten einer aus den Fugen geratenen Welt lieber auslassen oder überspringen würden, hält er entgegen:
Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles erst Hoffnung. Und eine Hoffnung, die wir schon erfüllt sehen, ist keine Hoffnung mehr. Wer hofft schließlich auf das, was er schon vor sich sieht? Wir aber hoffen auf etwas, das wir noch nicht sehen. Darum müssen wir geduldig warten.
Diesen Gedankengang des Paulus hat wohl auch P.D. James verstanden. Ihre Romanfigur Adam Dalgliesh ist nicht nur Polizist, sondern auch Poet. Er hört nicht nur das Seufzen der Kreatur im Meeresrauschen, er sieht auch den Schmerz im Licht der Liebe:
„Die Welt ist ein wunderbarer und schrecklicher Ort. Gräueltaten werden jede Minute verübt, und am Ende sterben jene, die wir lieben. Wenn die Schreie aller Lebewesen auf der Erde ein einziger Schmerzensschrei wären, würde das gewiss die Sterne erschüttern. Aber wir haben die Liebe. Sie mag nur ein zerbrechlicher Schutz gegen die Schrecken der Welt sein, aber wir müssen sie festhalten und an sie glauben, denn sie ist alles, was wir haben.“
Warten, ausharren, und ab und zu ein Seufzen: Wenn ich die Liebe nicht verlieren will, muss ich den Schmerz zulassen. Auch den Schmerz der anderen. Aber ich kann das auch, ohne daran zu zerbrechen. Denn Liebe und Schmerz verbinden mich mit all den anderen Geschöpfen – und mit dem Schöpfer selbst. Der hört nicht nur mein Seufzen, er seufzt mit mir, weil es auch ihm nahegeht. Ganz anders als manche Zeitgenossen nimmt er nämlich eigenen Schmerz nicht zum Anlass, anderen bedenkenlos Schmerz zuzufügen. Im Gegenteil: Er trägt meinen Schmerz mit, aus freien Stücken – ein solidarisches Seufzen.
Eines unserer Kinder kam, als es noch klein war, öfters nachts zu uns ins Schlafzimmer. Ein schlechter Traum, ein lautes Geräusch oder irgendwas anderes hatten es aus dem Schlaf gerissen. Ich erkannte schon am Klang der Schritte, wer da neben meinem Bett stand. Manchmal hielt ich dann still und hoffte, meine Frau würde wach. Und manchmal war es umgekehrt.
Da stand nun der Zwerg und brauchte einen von uns. Gleichzeitig wollte er uns aber nicht aufwecken und womöglich schlechte Laune riskieren. Er löste das Dilemma, indem er ganz tief schnaufte. Und wenn das Schnaufen noch nicht reichte, hängte er nach ein paar Versuchen einen kleinen Seufzer dran. Damit hatte er dann eigentlich immer Erfolg, und zugleich waren wir Eltern immer ein bisschen gerührt, wie schonend wir geweckt wurden.
So ähnlich stelle ich mir Gottes mütterlich-väterliche Liebe vor. Sie ist für den Augenblick alles, was wir haben. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Unter allen Umständen. Während wir schnaufen und seufzen. Bis schließlich und endlich alles gut ist in der Welt. Für alle Geschöpfe Gottes: Wale, Wald, uns Menschen – und die Amsel, die mitten in der Nacht übt, mit ihren lädierten Flügeln wieder loszufliegen.
Ich habe mir vor kurzem ein paar Gedanken über die Frage gemacht, ob und wie das mit der christlichen Hoffnung noch funktioniert angesichts der Tatsache, dass die Zukunftsperspektiven sich (nicht nur gefühlt) merklich verdüstern. Und dabei ein paar Fäden wieder aufgenommen, die ich hier schon entwickelt hatte.
Ein Erlebnis vom vergangenen Sonntag geht mir nicht aus dem Kopf: An einer Tankstelle steht jemand draußen vor dem Kassenhäuschen und raucht eine Zigarette. Als er fertig ist, geht er hinein, und ich erkenne: Das ist einer der Angestellten. Er hat nicht etwa hinter dem Kassenhäuschen geraucht, sondern davor – auf der Seite, wo die Zapfsäulen stehen und reger Betrieb herrscht. Wohlgemerkt: an einem heißen Sommertag!
Die Person, die eigentlich darauf achten sollte, dass niemand an dieser Tankstelle raucht, steht da in aller Öffentlichkeit und tut genau das, was sie verhindern soll. Sie kann es tun, weil es eine Art Gewohnheitsrecht für Raucher gibt: Raucher „dürfen“ einfach mal so ihren Arbeitsplatz für ein paar Minuten verlassen und sie „dürfen“ ihre Kippen auch einfach so in die Gegend werfen, obwohl die Filter hochgradig umweltschädlich sind.
Und so ist die Szene eben auch ein Bild für den Zustand unserer Gesellschaft in der anbrechenden Klimakatastrophe: Ausgerechnet die Leute, die verhindern sollten, dass wir uns selbst und andere gefährden, nehmen sich demonstrativ die Freiheit, Regeln und Verpflichtungen, denen sie (wie wir alle) unterliegen, zu ignorieren. Und sie können es, weil es quasi ein Gewohnheitsrecht auf fossiles Heizen und unbeschränkte Automobilität gibt, das keine Regierung bisher ernsthaft anzutasten wagte. Für die stetig zunehmende Anzahl der Populisten in Bund und Land zählt dieses Gewohnheitsrecht mehr als jedes demokratisch beschlossene Gesetz.
Ich habe mir die Tankstelle gemerkt. Sie ist ein gefährlicher Ort, den ich künftig meiden werde. Leider lässt sich das im Blick auf das größere Problem des globalen Klimakollapses nicht machen. Das heißt: Mit den Gefährdern in der Politik müssen wir uns anlegen. Und mit denen, die gerade so wütend und beleidigt auf ihrem explosiven Gewohnheitsrecht beharren, auch.
In dieser Kombination liegt das eigentliche Problem: Menschen reagieren allergisch bis aggressiv, wenn es um Gewohnheitsrechte geht. Sie in Frage zu stellen, wird in aller Regel als persönlicher Angriff gedeutet. Und wenn diese Wut dann noch bestärkt wird durch lautstarke Kulturkämpfer aus der rechten Presse- und bürgerlichen Parteienlandschaft, dann brauchen alle, die Kritik am Verhalten dieser Gewohnheits-Rechten üben, schon ein recht dickes Fell, um das heil zu überstehen.
Das Evangelium für den Trinitatissonntag morgen ist das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3, in dem Jesus von der (für sein Gegenüber befremdlichen) Notwendigkeit spricht, von neuem (genauer: „von oben“) geboren zu werden. Und dann noch den kryptischen Satz über den Geist/Wind anhängt, der Menschen treibt.
Nikodemus (…) suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden. Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Joh 3,1-8
Aus den vielen Dingen, die es dazu zu sagen gibt, greife ich hier nur ein paar Punkte heraus. Ich fange mal mit dem Begriff „Wiedergeburt“ an. Wenn zur „natürlichen“ Geburt da in irgendeiner Form eine Analogie besteht, dann am ehesten darin, dass Geburt für die, die geboren werden, weder eine Errungenschaft noch eine Erfahrung ist. Sondern ein Widerfahrnis, aufgrund dessen ich mich in einem Geflecht von Beziehungen wiederfinde. Und deren werde ich mir zunehmend bewusst.
So wie ein Neugeborenes in eine Familie – klein, groß, eher heil oder eher traumatisiert, reich oder arm – hineingeboren wird, so finden sich Menschen auch in einer Beziehung zu Gott wieder. Noch genauer (wir feiern ja die Dreieinigkeit): Sie nehmen, ohne es darauf angelegt zu haben, teil an der Beziehung, die Gott in sich schon ist. Und dem Beziehungsgeflecht, das um ihn herum entsteht (dem „Reich Gottes“). Diese Verbindung mit Gott wird für sie zur prägenden, identitätsstiftenden Beziehung.
Ich bin also nicht mehr durch meine soziale und biologische Herkunft definiert und festgelegt, sondern dieses neue Verhältnis bestimmt, wer und wie ich bin und wohin mein Weg führt. Nicht die Vergangenheit mit ihren Altlasten und Erfolgen legt meine Zukunft fest, sondern Gottes fürsorgliche Gegenwart in meinem Leben. Nicht das „Fleisch“ in seiner Vergänglichkeit, Anfälligkeit und den nachlassenden Kräften (und der Verzweiflung, Aggression und Niedergeschlagenheit über diesen Verfall in der Welt, bei mir selbst und anderen) macht mich aus. Nicht die guten oder schlechten Gene, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Sondern ein geheimnisvoller Antrieb, der immer wieder ganz unvermittelt gute Dinge geschehen lässt.
Diese Kraft kann ich ebensowenig dingfest machen wie den Wind oder die Wolken am Himmel. Aber wenn ich lerne, mich auf sie einzustellen, dann wird (wie beim Wind) einiges leichter.
So weit, so bekannt für viele. Aber hier kommt der neue Gedanke: Wenn Gott mich aus einer Lebensweise befreit, die von der Vergangenheit gespeist wird und in der sich die Vergangenheit reproduziert (History will teach us nothing, lautet ein Songtitel von Sting), und mir ein Leben in und aus seiner Gegenwart ermöglicht, dann hat diese Transformation eine ganz aktuelle Parallele: Die hart umkämpfte Klima- und Energiewende.
Denn auch da geht es darum sich von einer Lebensweise zu verabschieden, die Ablagerungen der Vergangenheit (fossile Brennstoffe, die in vielen Millionen Jahren entstanden, noch älteres und länger strahlendes Uran, aber auch Holz, das Jahrzehnte braucht zum Wachsen) verbrennt. Weil das die Zukunft aller Menschen verqualmt und beschädigt. Wir müssen also maßgeblich bis ausschließlich von dem leben, was uns im jeweiligen Augenblick an Energie in Wind und Sonne zur Verfügung steht. Auch hier also: Bezug zur Gegenwart vor Bezug zur Vergangenheit.
Kann die persönliche Energiewende der Wiedergeburt in Gottes verzweigte Sippe die kollektive Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise erleichtern? In den USA halten viele Christen, die sich selbst als „wiedergeboren“ bezeichnen, Ökologie und Klimaschutz für Teufelszeug. Aber ich denke, das ist eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Form des Glaubens. Eine Form von Kirche, die ebenso destruktiv ist wie die parasitäre Lebensweise, die sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Die sich an die Vergangenheit klammert und sie festhält, statt sich dem Wind des Wandels auszusetzen.
In der kommenden Woche haben wir in Nürnberg den Kirchentag zu Gast. Mit dabei ist unter anderem auch Eckart von Hirschhausen. Der schrieb kürzlich in Chrismon davon, welche Rolle Christen in den Krisen dieser Zeit spielen könnten:
Während der Zeithorizont von Politikern oft nicht ausreicht, um auf den ersten Blick unpopuläre Entscheidungen voranzubringen, könnten es sich die Kirchen in der Gewissheit ihres Auftrags und ihrer Geschichte leisten, jetzt in Vorleistung zu gehen. Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht? Was können Sie tun?
Als Wiedergeborene leben wir in den Geburtswehen der neuen Schöpfung. Auch diese noch ausstehende Geburt ist etwas, das nicht in unserer Hand liegt – zum Glück. Aber wir können jetzt schon, so gut es geht, leben, als wäre das Neue schon da.
Noah hat sich im vergangenen Jahr wieder an die Spitze der Vornamen-Hitliste für kleine Jungs gesetzt und Matteo auf Platz 2 verwiesen. Es wird ihnen später vielleicht ähnlich gehen wie mir früher (in der fünften Klasse war ich einer von drei Peters), oder wie all den Bens, den Hannas, und was da noch im Trend lag die letzten Jahre.
Was die Eltern im einzelnen zu dieser Wahl veranlasst hat, mag unterschiedlich sein. Ich frage mich allerdings, ob im Falle der Noahs auch das kollektive Unbewusste eine Rolle spielt. Ob es also kein völliger Zufall ist, dass steigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher und zunehmende Extremwetterereignisse (Flut, Dürre, Sturm und Hitze) inzwischen ein stetes Hintergrundrauschen in den Nachrichtenkanälen darstellen.
Und weil wir uns an die Ursachen dafür (und unsere Verstrickung darin) so ungern erinnern lassen, weil viele sich lieber über Klimaproteste aufregen und vor den immer offensichtlicheren Folgen unserer Lebensweise die Augen verschließen – könnte es sein, dass sich das, was da schon die ganze Zeit brodelt, nun eben auf diesem Wege meldet?
Und damit nicht genug – vielleicht steckt ja auch Gott dahinter? Weil er sich freut, wenn sich jemand um den Erhalt der Artenvielfalt sorgt. Weil diese Welt Menschen braucht, die mehr auf ihn hören als auf die Stimmen der Maßlosigkeit und Dominanz. Weil wir das ohne leise und laute, vor allem aber ständig präsente Erinnerungen so schnell aus dem Blick verlieren.
Das relativ kalte und endlich mal wieder ausreichend feuchte Aprilwetter vor Ort täuscht vielleicht etwas darüber hinweg, dass die Nachrichten von der Klimafront alles andere als ermutigend sind. Drei Meldungen aus der laufenden Woche beschäftigen mich dazu:
Apropos Vorfahrt: Vor kurzem war ich ein paar Tage in Frankreich. Dort wird der Durchgangsverkehr in den Städten immer wieder durch Bodenwellen und Zebrastreifen verlangsamt. Als ähnliche Maßnahmen hier vor 30 Jahren diskutiert wurden, hieß es, das könne man nicht machen, weil dann ein Rettungswagen kostbare Zeit verliere. Rettungswagen sind offenbar immer dann interessant, wenn sie als Vorwand gegen Beschränkungen des Autoverkehrs herhalten können. Ich weiß nicht, wie viele Menschenleben die Bodenwellen in Frankreich gekostet haben. Womöglich haben sie mehr gerettet, weil man nicht einfach so durch die Stadt rasen kann wie bei uns.
Arme, Alte und Kranke sind bestimmten Akteuren im politischen Spektrum keinen Cent beim Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung wert. Aber wenn Änderungen am eigenen Lebensstil gefragt sind, entdecken eben diese Leute urplötzlich ihr Herz für die Schwachen, denen man das auf keinen Fall zumuten kann. Diese Art von Solidarität kostet nichts und bringt nur denen einen Vorteil, die dieses Schmierentheater aufführen. Irgendwann wird der Schwindel auffliegen, aber dann ist es zu spät.
Wir einfachen Leute fühlen uns oft zu Unrecht bestraft. Wir können doch nichts dafür, dass sich die Bundesregierung nicht genug um das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels bemüht. Wir wollen nur ein gutes Leben leben und das ist derzeit schwer genug zu haben. „Das trifft die Falschen“, so lautet also der Reflex, wenn Streiks oder Klimademos in den Alltag eingreifen, und die Falschen, das sind wir Normalos. Wir und dieses vermeintlich unantastbare Recht auf Ungestörtheit, auf die Verteidigung des stetig fließenden Status Quo, das deutsche Second Amendment sozusagen.
Diese Woche kam ich einer großen Sache auf die Spur. Alles fing an im Facebook-Feed von Pater Jörg Alt, der sich im Zuge der Klimaproteste an Straßenblockaden beteiligt. In den Kommentaren wurde dann deutlich, dass Staus niemals Gottes Wille sein können, weil dort Menschen schwerst traumatisiert werden: Nervenzusammenbrüche, Herzinfarkte, man kommt nicht ins Krankenhaus oder in Veranstaltungen von Leuten, die man gut findet. Kurz: Es gibt keine schlimmere Folter, als im Verkehr zu stecken.
Bei Lesen wurde mir klar: Im Auto zu hocken und nicht vorwärts zu kommen, ist eine Form von Tod. Lebendig begraben in der Blechlawine. Müssten also Straßenblockaden wie Totschlag geahndet werden? Viele Landsleute würden hier zweifellos zustimmen.
Mir ging aber ein anderer Aspekt nach: Wenn es stimmt, dass Staus sich so traumatisch auf die Psyche schlagen, dann sind wir Deutsche ein schwer leidendes Volk. Der durchschnittliche Münchner PKW-Pendler leidet sagenhafte 79 Stunden im Jahr Qualen, in Berlin sind es 65 und bei uns in Nürnberg noch rund 45 – und das ist nur das Leid auf dem Weg zur Arbeit! Da kommen noch viele Stunden Stau im Urlaub hinzu, das trifft dann die ganze Familie, also auch Kinder müssen die nervenzerfetzende Tortur schon durchmachen. Da bleiben schlimme Narben zurück.
Radikale Klimaschützer wie der ADAC behaupten zwar, Staus gebe es wegen der vielen, vielen Autos auf den Straßen und wegen Baustellen zu deren Bau und Erhalt. Aber das ist natürlich plumpeste Täter-Opfer-Umkehr, die uns die Freude am Fahren vermiesen will, indem sie uns die Schuld am Stau gibt.
Damit ist auch klar, dass es eine völlig unrealistische Erwartung wäre, dass wir uns hier ernsthaft mit den Folgen unserer fossilen Lebensweise befassen. Man kann einem todtraurigen Herzen nicht damit kommen, dass irgendwo anders auf der Welt jemand hustet wegen der schlechten Luft. Oder sein Haus verliert. Diese Menschen in den armen Ländern haben meist keinen Porsche oder BMW und wissen gar nicht, was wir alles Schreckliches erleben! Und was sind schon gelegentliche Dürren und Flutkatastrophen gegen das Drama, das sich täglich auf dem Asphalt um uns herum abspielt? Was sind Ernteausfälle gegen den Zeitverlust – was kümmert mich das Artensterben wenn ich ganz dringend aufs Klo muss und dafür die Rettungsgasse nicht benutzen darf?
Wenn wir den also Stillstand in Sachen Klima überwinden wollen, müssen erst einmal diese Blockaden auf den Straßen beseitigt werden. Also teeren und pflastern wir doch bitte jetzt sofort, was irgendwie geht, damit die menschengemachte Bewegungsarmut ein Ende und die Freiheit wieder eine Überholspur hat.
Von Abraham Maslow wissen wir: Leute, denen so elementare Rechte wie das Lichthupen auf der Autobahn und das Parken auf dem schmalen Bordstein vor der eigenen Haustüre vorenthalten werden, sind einfach nicht in der Lage, sich für solch abstrakte Dinge wie Demokratie, das schwer gestutzte Demonstrationsrecht oder das Recht auf saubere Luft und sauberes Wasser zu erwärmen. Das kann man von ihnen auch nicht verlangen. Ebenso wie man nicht erwarten kann, dass sie an die Zukunft ihrer Enkel (geschweige denn der Enkel anderer) denken, wenn ein Stau sie davon abhält, dem verdienten Feierabend entgegenzubrausen.
Aber zum Glück gibt es noch Männer wie Christian Lindner, Volker Wissing, Hubert Aiwanger, Andi Scheuer und all die anderen Volkshelden der ungebremsten Raserei. Die den Duft von Diesel und Freiheit noch schätzen. Irgendwann kommt der Tag, wo sie mit einem weißen Mustang in der Rettungsgasse vorfahren und uns aus dem Elend und der Hölle des ständigen Staus erlösen.
Hitzefrei. Alle, die wie ich im letzten Jahrtausend zur Schule gegangen sind, erinnern sich noch daran: Wie es im Lautsprecher knackst und die heiß ersehnte Durchsage durch Flure und Klassenzimmer hallt, dass die beiden letzten Schulstunden heute entfallen. Dann der vielstimmige Jubel, der unter den Schulkindern ausbricht. Wer kommt mit ins Bad? Gehen wir direkt – ich habe meine Schwimmsachen schon dabei? Momente reinsten Schülerglücks. Aber seltene Momente – kaum mehr als eine Handvoll Tage jeden Sommer waren damals warm genug.
Vielleicht kam deshalb der alte Ohrwurm von Rudi Carrell so gut an:
Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war. Mit Sonnenschein von Juli bis September. Und nicht so kalt und so verregnet wie im letzten Jahr.
Noch heute warte ich darauf, dass die Radiosender spätestens am zweiten feuchtkalten Julitag den Evergreen aus dem Regal kramen. Aus ihm spricht die Mentalität von Menschen in gemäßigten Breiten, die es gewohnt sind, im Sommer Badeurlaub im Süden zu machen: Warm ist gut. Wärmer ist besser. Der Winter kommt früh genug.
Inzwischen ist all das eingetroffen, was in den Siebzigern verklärte Erinnerung oder blumige Hoffnung war. Die 40 Grad, die wir erst vor kurzem hatten, und monatelange Dürren entpuppen sich allerdings als Albtraum. Was Carrell besingt, ist mit beschönigenden Worten wie „Wetterkapriolen“ oder „Jahrhundertsommer“ nicht angemessen beschrieben. Es ist kein „richtiger Sommer“, sondern ein falscher, ein nie dagewesener. Wir erleben Extremwetter, das allen Lebewesen massiv zusetzt. Von Griechenland bis Großbritannien, von Spanien bis Dänemark Hitzerekorde, Flächenbrände, Ernteausfälle, Wasserknappheit. Der Mai brachte an die 50 Grad Hitze in Indien und im vergangenen Jahr gab es ähnliche Extreme im vermeintlich kühlen Kanada. Ich wohne in Nürnberg, und da war das letzte Vierteljahr zweieinhalb bis dreieinhalb Grad wärmer als zu Rudis Zeiten. Der Rasen in den Parks ist gelbbraun und die ersten Bäume werfen schon Blätter und Früchte ab.
Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war: Mit Regen für die Gärten und die Felder. Und nicht so trocken und so staubig wie in diesem Jahr.
Szenen, die zu Herzen gehen
Es gibt in der Bibel eine Extremwettergeschichte. Sie ist nicht besonders bekannt, weil das für uns lange kein Thema war und weil wir lieber die schönen Sachen lesen, nicht die schwierigen. Aber vielleicht hat diese Geschichte uns mehr zu sagen, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir finden sie beim Propheten Jeremia im 14. Kapitel:
Das Wort des Herrn erging an Jeremia wegen der großen Dürre: Juda ist ausgedörrt; seine Tore verfallen, sie sinken trauernd zu Boden und Jerusalems Klageschrei steigt empor.
Die Vornehmen schicken ihre Diener nach Wasser; sie kommen zu den Brunnen, finden aber kein Wasser; sie kehren mit leeren Krügen zurück.
Die Bauern sind um den Ackerboden besorgt; denn es fiel kein Regen im Land. Sie sind bestürzt und verhüllen ihr Haupt.
Selbst die Hirschkuh im Feld lässt ihr Junges im Stich, weil kein Grün mehr da ist. Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen; sie schnappen nach Luft wie Schakale. Ihre Augen erlöschen; denn nirgends ist Gras.
Der Berichterstatter dieser großen Dürre ist Jeremia. Er spricht im Namen Gottes, aus göttlicher Perspektive. Und macht das ganz anders als ich es eben getan habe und als unsere Nachrichtenredaktionen es derzeit täglich melden. Keine abstrakten Zahlen, Messwerte, Diagramme. Keine Informationen nur für den Kopf, sondern Szenen, die zu Herzen gehen.
Da sind die Vornehmen, die es sich leisten können, im kühlen Haus zu bleiben, und ihre Diener mit der schweißtreibenden Aufgabe losschicken, Wasser aus den Brunnen zu holen. Aber die Krüge blieben leer. Betretene Gesichter bei den Herrschaften und dem Gesinde. Wenn nichts mehr da ist, was man kaufen kann, ist auch das Geld nichts mehr wert.
Sorgenfalten auf der Stirn der Bauern, die vergeblich den Horizont nach Regenwolken absuchen. Die Feldfrüchte vertrocknen, der heiße Wind bläst den fruchtbaren Mutterboden davon, den kein Grün mehr bedeckt. Auch wenn wieder Regen kommt, die nächsten Ernten werden schlechter ausfallen.
Der Katastrophe schutzlos ausgeliefert sind die Wildtiere. Die Wildesel hecheln, um dem drohenden Hitzetod gerade noch zu entgehen. Wälder, die brennen könnten, gibt es schon keine mehr. Und die Hirschkuh findet keine Nahrung für sich und ihr Kalb. Sie lässt es zurück und es verendet. Wie verzweifelt muss sie sein?
Nicht nur Bäume und Sträucher welken dahin, sogar die Stadttore und Befestigungen in Jerusalem und Umgebung hängen schlaff in den Angeln und haben ihre Wehrhaftigkeit verloren. Und die Leserin ahnt schon: Auf die Dürre folgt der Hunger folgt der Krieg. Wie so oft in der Geschichte.
Klage und Trauer sprechen aus dem folgenden Lied von Tracy Chapman: Mutter Erde, auf der wir alle geboren wurden, wird vergewaltigt. Und wir sehen tatenlos zu. Der Anfang vom Ende, die größte Todsünde.
Was hier geschieht, zerreißt auch Gott das Herz. Er ist kein unbeteiligter Zuschauer, er sitzt nicht in der himmlischen Wetterzentrale und schaut auf seine Anzeigen von Temperatur, Wind und Niederschlag. Mitfühlend, mitleidend. Heiße Tränen im Gesicht, kein kaltes Lächeln. Gott sagt von sich selbst:
Meine Augen fließen über von Tränen bei Tag und bei Nacht und finden keine Ruhe. Denn großes Verderben brach herein über … mein Volk, eine unheilbare Wunde.
Was empfand Gott, als im Juni die Mauersegler in Spanien tot vom Himmel fielen, weil die eleganten Flieger – aus Afrika zurückkehrend! – die Gluthitze in Europa nicht verkraften?
Was sagt er zu den Sorgen der Bauern in der Po-Ebene, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre einstmals satt grünen Äcker vertrocknen, weil Italiens mächtigster Strom in diesem Sommer kaum noch Wasser führt?
Fühlt er mit den Dorfbewohnern in der Toskana, die Rauchschwaden und Feuerwalzen auf ihre Häuser zukommen sehen und sich nur noch ins Meer flüchten können?
Mit den Familien der Bergsteiger, die kürzlich beim Abbruch des Marmolata-Gletschers in den Dolomiten den Tod fanden?
Geht ihm das Fischsterben im Main und in vielen seiner Nebenflüsse nahe, oder… oder … ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll, bei so vielen bedrückenden Meldungen in jüngster Zeit.
Warum so apathisch?
Aber wie kann es sein, dass wir tagein, tagaus solche Nachrichten hören und, so lange es uns nicht – noch nicht! – direkt trifft, weder Tränen in den Augen haben, noch ernsthaft und schonungslos fragen, was das mit uns zu tun hat und was jetzt sofort anders werden muss?
Hubert von Goisern hat, wie ich finde, den heimlichen Sommerhit der letzten Jahre mit all den Bränden, Hitzewellen und Flutkatastrophen geschrieben: „Jeder weiß, dass Geld nicht auf der Wiese wächst. Und essen kann man’s auch nicht, aber es brennt gut. Aber heizen tun wir mit Weizen, Rüben und Mais. Wenn wir noch lange so weiterheizen, brennt der Hut.“
„Samma Christ, hättma gwisst, wo der Teife baut im Mist“ – Menschen, die mit Gott im Bunde sind, könnten, ja sollten eigentlich den Mist durchschauen. Und klar all die zerstörerischen Verhaltensweisen und Gewohnheiten beim Namen nennen, anstatt sie zu beschönigen oder zu vertuschen. Denn dass es immer irgendwo brennt, haben meistens wir selbst zu verantworten. Und wenn wir Europäer sogar den knappen Weizen zu Sprit verarbeiten, mit dem wir unsere Autos betanken und durch die Gegend heizen, dann brennt der Huat völlig zu Recht.
Der Journalist Bernhard Pötter wunderte sich als Kind darüber, dass die Bauern in Südtirol, wo seine Eltern mit ihm Urlaub machten, um Regen beteten. Er war ja wegen der Sonne gekommen. Aber was heute passiert, ist nicht weniger wunderlich, findet er. Es hat mit einem handfesten Aberglauben zu tun:
»Voller Stolz und emanzipatorischer Kraft ruinieren wir die natürlichen Kreisläufe, in denen wir stecken und von denen Bauern und Indigene noch eine Ahnung haben. Unsere Hybris heißt Hybrid, unser Glaube nennt sich Kredit. Unsere Hoffnung steckt im DAX, unsere Kathedralen stehen in Dubai und unsere Hohepriester tragen Slim-fit-Anzüge. Sie lachen über die Theologie der Jungfrauengeburt oder traditionelle Rituale – und glauben doch selbst an den Götzen des ewigen Wachstums.
Und dann, wenn es schiefgeht (also: genau jetzt), stehen wir oberschlau da und haben auch keine Ahnung, wie es weitergeht. Und wir tun, was wir seit Jahrtausenden tun: auf Regen hoffen. So viel zum Triumph der Aufklärung»
Bernhard Pötter: „Aufklärung heißt: Da hilft nur hoffen.“ taz vom 24.6.2022, S.9
Es gibt also eine religiöse oder spirituelle Dimension der Klimakrise: Den folgenschweren Glauben an den „Götzen des ewigen Wachstums“. Der hat seine Verehrer in gewisser Hinsicht reich gemacht, aber nun fordert er einen verheerenden Preis dafür ein.
Kann er nicht oder will er nicht?
Mitten in der tödlichen Dürre versuchen die Zeitgenossen des Jeremia, Gott umzustimmen. Schließlich ist er Herr über das Wetter.
Unsre Sünden klagen uns an. Doch um deines Namens willen handle, o Herr! Ja, zahlreich sind unsre Vergehen; gegen dich haben wir gesündigt. Du, Israels Hoffnung, sein Retter zur Zeit der Not, warum bist du wie ein Fremder im Land und wie ein Wanderer, der nur über Nacht einkehrt? Warum bist du wie ein ratloser Mann, wie ein Krieger, der nicht zu siegen vermag? Du bist doch in unsrer Mitte, Herr, und dein Name ist über uns ausgerufen. Verlass uns nicht!
Irgendetwas muss diese Dürre in Juda mit dem Verhalten der Menschen zu tun haben. So viel scheint klar. Doch das Eingeständnis der Schuld bleibt vage: Ja klar haben wir dich vor den Kopf gestoßen Gott. Tut uns leid. Aber jetzt bist Du am Zug. Vergeben ist schließlich dein Beruf. Denk’ an dein Image: Du bist doch unser Nothelfer, Retter, Feuerwehrmann und Sanitäter. Warst du schon immer. Was ist los mir dir? Bist du müde geworden? Hast du das Interesse verloren? Kannst du nicht oder willst du nicht helfen?
Eigentlich möchten sie gern weitermachen wie bisher. Aber Gott hat das ewige Ausputzer-Dasein satt. Dieses ungutes Muster, das sich in die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk eingeschlichen hat, muss unterbrochen werden. Ein ums andere Mal ist sind die Judäer den Götzen der Wohlstandsreligion auf dem Leim gegangen. Schwamm drüber hilft da nicht mehr weiter. Gott sagt zu Jeremia: „Bete nicht um das Wohlergehen dieses Volkes“. Ein neuer Anfang muss her zwischen Gott und den Seinen. Und das bedeutet auch das Ende einer Epoche: Das Königtum, die Dynastie Davids, seine stolze Hauptstadt, der prächtige Tempel sind Geschichte. Sie werden untergehen.
Wie ist das mit uns? Sollten wir heute in Kirchen, Synagogen und Moscheen für Regen beten? Sollten wir Gott dazu bewegen, wundersam den kosmischen Thermostat herunterzudrehen, damit alles so weitergehen kann – die Profite, das Plündern des Planeten, die Billigflüge fürs Volk und die Privatjets der Eliten?
Auch wir erleben das Ende einer Epoche. Das Erdzeitalter des Holozän geht zu Ende. 12.000 Jahre lang, seit der letzten Eiszeit, hatten wir stabile klimatische Verhältnisse. „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter“ wechseln sich in einem verlässlichen, lebensfördernden Rhythmus ab. So kennt es die biblische Urgeschichte.
Der große Naturfilmer David Attenborough sagte 2019 beim Weltwirtschaftsforum: „Den Garten Eden gibt es nicht mehr“. Frost und Hitze sind zwar noch da, aber längst nicht mehr, was sie früher einmal waren. Das „ewige Eis“ der Polkappen schmilzt schneller dahin, als die Pessimisten unter den Klimaforschern es erwartet hatten. Die Luftströmungen, die Sonne und Regen im Wechsel brachten, haben sich verschoben. „Richtig Sommer“ und „richtig Winter“ wird es künftig nur vereinzelt geben. Und nicht jede Saat wird eine Ernte erleben.
Das ist auch ein „Erfolg“ unserer Zivilisation: Wir wollten uns von den Launen der Natur unabhängig machen, und das haben wir geschafft. Nun ist die Natur unseren Launen ausgesetzt und sie reagiert immer heftiger auf den Stress. Das „Anthropozän“ hat begonnen, der Mensch hat die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht, und es wird viel mehr als Hitzefrei und Blühwiesen vor der Kirche brauchen, um uns an die extremen Bedingungen anzupassen. Eine „unheilbare Wunde“ droht, um es mit Jeremia zu sagen.
Es sind schon ganze Zivilisationen wegen geringerer Probleme zusammengebrochen. Kurz: Die Klimakrise bedeutet zwar nicht das Ende der Welt, aber möglicherweise der stabilen Welt, die wir kennen. Der Welt, wie sie früher einmal war.
Eine radikale Hoffnung
Der Prophet Jeremia hat sich für seinen Abgesang auf die Zeit der Könige eine Menge gehässiger Kritik anhören müssen. Aber es kam alles so, wie er gesagt hatte.
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige mittlerweile ungeduldig fragen: Wo bleibt in all der Düsternis bloß das Evangelium, die frohe Botschaft? Ist Kirche nicht dazu da, Hoffnung zu verbreiten?
Im Prinzip ja.
Aber…
… manchmal ist eine falsche Hoffnung schlimmer als keine Hoffnung. Und oft führt der Weg zu neuer Hoffnung erst durch die Verzweiflung: Die Verzweiflung des babylonischen Exils, durch die die Zeitgenossen des Jeremia hindurchmüssen. Die Trauer um einen geliebten Menschen. Verzweiflung wegen einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Der Makel des Scheiterns. Oder die Verzweiflung durch die Jesus von Nazareth hindurchgeht im Kreuzestod, im dunklen Grab. Mitten durch die Tragödie, nicht daran vorbei oder leicht und locker darüber hinweg.
Klimaaktivist:innen haben in den letzten Jahren hitzig darüber debattiert, ob man öffentlich sagen sollte, dass wir die Kurve vielleicht nicht mehr rechtzeitig kriegen und dass die Mehrzahl der Kipppunkte inzwischen schon überschritten sein könnte. Die einen fürchten, dass das auch noch die letzten zarten Bemühungen erstickt, das Schlimmste noch zu verhindern. Andere plädieren für eine „radikale Hoffnung“, die dem Realitätsschock nicht ausweicht. Freilich – die Hoffnung aufzugeben, dass alles wird, „wie es früher einmal war“, erfordert einen inneren Wachstumsschritt. Doch nur so entsteht Raum für neue Hoffnung. Sie lässt sich nicht aus dem brennenden Hut zaubern, sie muss wachsen.
Genau das erleben Jeremia und sein Volk. Aus dem Königreich Juda wird im babylonischen Exil das Judentum. Eine geistlich und theologisch enorm produktive Zeit beginnt. Schriften werden verfasst und gesammelt, aus denen allmählich die Bibel entsteht. Jüdische Gemeinschaften breiten sich in den folgenden Jahrhunderten über den gesamten Mittelmeerraum und vorderen Orient aus. Sie blühen auf und überstehen neue Wunden. Bis heute.
Radikale Hoffnung im Anthropozän. Ich suche sie, indem ich mich an Jesus halte, den Gekreuzigten. Dann muss ich die Augen vor dem unvermeidlichen Ende der stabilen Welt nicht mehr verschließen. Und kann meinen Anteil daran anerkennen, egal wie klein oder groß. Vieles wird schwerer werden, manches viel schwerer. Ich kann lernen, mit Gott zusammen zu weinen über die Tragödien, die sich auf der Erde abspielen. Darin ist er mir nahe, genauso wie in den schönen Erfahrungen. Und das Mitempfinden bringt mich in eine tiefere Beziehung zu seiner Schöpfung: Sie ist so viel mehr das Rohstofflager und die Freizeitkulisse, die unsere moderne Welt daraus gemacht hat. Voller lebendiger und fühlender Wesen ist sie – allesamt Leidensgenossen, aber auch Verbündete.
Für Kirchen und Gemeinden könnte es bedeuten, dass wir einander fragen: Was ist uns wirklich wichtig und wie können wir das durch den Umbruch hindurch bewahren? Was müssen wir jetzt aufgeben, damit die Tragödie, die auf uns zukommt, nicht noch größer wird? Welche Fertigkeiten, die wir dann brauchen, haben wir verlernt, und wer bringt uns das wieder bei? Und mit wem sollten wir uns angesichts unserer Sterblichkeit und Endlichkeit aussöhnen und Frieden schließen?
Hand in Hand bilden wir dann eine Rettungsgasse zwischen der Apathie auf der einen und der Panik auf der anderen Seite. Und die sanfte, schöpferische Hand Gottes ist immer im Spiel. Damit die Dunkelheit nicht das letzte Wort hat.
Multiple, sich überlagernde und gegenseitig verschärfende Krisen sind das Kennzeichen des 21. Jahrhunderts. Die großen Kirchen sind in ihrer institutionellen Form Geschöpfe des 20. Jahrhunderts und kommen erst allmählich in dieser Realität an. An vielen Stellen sind wir zudem noch mit unseren eigenen, internen Krisen beschäftigt. Nicht alle sind begeistert von der Idee, sich in die hitzigen Debatten einzumischen und Position zu beziehen.
Und selbst wenn, es bleibt noch die Frage, was unser Beitrag sein könnte oder sollte. Auch da liegen die Einschätzungen zum Teil weit auseinander. Hier werfe ich einen Blick auf die beiden Pole. Es gibt freilich viel dazwischen, aber diese Mitte ist, wie ich zeigen möchte, auch alles andere als golden.
Die Ausgangslage
Auch wenn der Ukrainekrieg gerade fast alles überlagert, die Nachrichten von der Klimafront müssten uns noch viel mehr Sorgen machen. Hier ein paar Schlaglichter der letzten Wochen:
Der Bundeskanzler bemüht einen NS-Vergleich, als er von Klimaaktivist:innen auf das Versagen seiner Regierung beim Klimaschutz angesprochen wird. Disruption (auch in dieser zahmen Form der – sachlich begründeten – Unterbrechung seiner Rede auf dem Katholikentag) macht den unterkühlten Scholz erstaunlich aggressiv. Und genau wegen dieser merkeligen Abneigung gegen alles vermeintlich Radikale hatten Deutschlands Bürger ihn ja auch gewählt. Aber wenn man „Maß und Mitte“ absolut setzt (Mittelmaß ist ja das bürgerliche Credo), ist der Handlungsspielraum erschütternd begrenzt.
Team Regenbogen
Im Team Regenbogen denkt man: Schlechte Nachrichten gibt es in der Welt mehr als genug, Christen müssen Hoffnung verbreiten. Also konzentrieren wir uns auf das Gute, das geschieht, und weniger auf das Bedrohliche und Deprimierende. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Wir betonen die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, die ganz am Ende der Bibel steht, oder wir gehen ganz an den Anfang der Bibel und betonen die Treue Gottes zu seiner Schöpfung in der biblischen Urgeschichte. Als fest etabliertes Gegenbild zum Klimakollaps dient dann meist der Regenbogen. Gott hat ja versprochen, dass nicht alles den Bach runtergeht. Wer hingegen alarmistisch agiert, verrät damit nur den eigenen Unglauben. Und wenn er/sie auch noch emotional wird, stört die „Hysterie“ den Seelenfrieden, den zu verbreiten unser Auftrag ist.
Ob der Regenbogen, der einem Wolkenbruch häufig vorausgeht oder folgt, für die Flutopfer im Ahrtal (oder sonst irgendwo auf der Welt) noch irgendwelche tröstlichen Gefühle bereithält, wäre erst noch zu verifizieren. Und mit dem Verweis auf die Neuschöpfung lässt sich das milliardenfache Leid, das die Erdüberhitzung in den kommenden Jahrzehnten mit sich bringen wird, ähnlich elegant überspringen wie mit dem Hinweis, dass „die Natur“ den menschengemachten Kollaps freilich überleben wird – nur halt die Spezies Homo Sapiens (und ein paar hunderttausend andere) nicht. Zudem macht die Ewigkeitsperspektive (egal ob theistisch oder atheistisch) den immensen Zeitdruck unsichtbar, unter dem wir fünf Jahre vor einem wahrscheinlichen Point of no return stehen.
Billige Hoffnung?
Könnte es analog zu Bonhoeffers „billiger Gnade“ auch eine billige Hoffnung geben? Sie wäre billig, wenn sie sich an der aufreibenden Konfrontation mit den gewaltigen Kräften des „Weiter so“ vorbeimogelt. Sie wäre billig, wenn sie vertröstet und dabei verharmlost, was Menschen jetzt schon und künftig das Leben zur Hölle macht.
"Sie heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede."
Diese Klage des Jeremia gegen das Abwiegeln der Priester und Tempelpropheten ging mir in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf, als ich so manches „wir-haben-Putin-unterschätzt“-Bekenntnis las. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind noch nicht absehbar. Aber das wirft die nächste Frage auf: Wiederholen wir diesen Fehler, wenn wir uns in der Klimafrage vor Positionen scheuen, die in der veränderungsresistenten Mitte der Gesellschaft als „radikal“ erscheinen könnten?
Bei allem, was man in den biblischen Schöpfungstexten an wunderbaren Perspektiven auf die Erde und unsere Mitgeschöpfe lernen kann, stammen sie doch weitgehend aus den königlich-priesterlichen Traditionen des Alten Testaments. Disruption ist dort nicht vorgesehen, da geht es um Stabilität und Kontinuität – wie in der bürgerlichen Politik. Aber Disruption auf allen Ebenen (Klima, sozialer Friede, Demokratie) ist genau das Thema, mit dem wir jetzt wie nie zuvor konfrontiert werden. Die biblischen Schöpfungstexte spiegeln die Lebensbedingungen des Holozän wieder. Dass diese sich im Anthropozän radikal ändern könnten, war für ihre Verfasser unvorstellbar. Sie geben keine Garantie, dass Gott uns schon davon abhalten wird, die Kippunkte zu überschreiten.
Team Apokalypse
Die biblische Apokalyptik ist ein Kind der Prophetie. Die Propheten waren und sind die Systemkritiker, die Gottes Vorbehalt gegenüber den Mächtigen und ihrem Gebaren verkörpern, oft genug auch seinen ausdrücklichen Protest. Die Propheten spitzen zu – polemisch in ihren Gerichtsdrohungen und poetisch in ihren Verheißungen des Heils, während um sie herum gerade alles zusammengebrochen ist.
In der Apokalyptik entwickelt sich diese herbe Krisenpoesie weiter. Reale weltpolitische Umbrüche erscheinen als Kampf mythischer Wesen, Irdisch-Geschichtliches wird auf eine kosmische Leinwand projiziert. Die Elemente (Himmel, Meer, Erde, Winde) erscheinen als Akteure (Bruno Latour lässt grüßen) in diesem Geschehen. Mit ihrer Hilfe führt Gott den Sturz der Gewaltherrscher herbei.
»Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt, aber die eigentlichen gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion fossiler Brennstoffe steigern.« (Antonio Guterres)
Apokalyptik ist nicht Panik, sondern der neue Realismus. Es ist bitterernst. Es ist Zeit für Klage, Zorn und Galgenhumor. Alles, was nicht abwiegelt und „normalisiert“. Alles, was nicht den Eindruck erweckt, wir hätten unbegrenzt Zeit, uns in winzig kleinen Schritten fortzubewegen, das Ruder erst einmal sachte acht oder achtzehn Grad zu drehen anstatt der nötigen 180.
In den großen Kirchen haben wir uns die Apokalyptik abgewöhnt, weil über die Jahrhunderte immer wieder falscher Alarm ausgelöst wurde. Ich erspare mir jetzt die Aufzählung aller Personen und Bewegungen, die den Weltuntergang irrtümlich für ihre Lebenszeit vorhergesagt hatten. Die schrägen Endzeitszenarien der „Left Behind“-Romane sind nur das jüngste Beispiel für sektiererische Verdrehungen. Aber das bedeutet ja nicht, dass es auch einen berechtigen Alarm geben kann und eine sachgemäße Interpretation der biblischen Apokalyptik. Sicher nicht als Endzeit-Fahrplan, der sich eins zu eins dem Gang gegenwärtiger Ereignisse zuordnen lässt (so war es nie gemeint). Wohl aber als Aufforderung, das Undenkbare zu denken – das Ende der Mächte und Akteure, die „die Erde verderben“ (Offb 11,18).
Der wandernde Horizont
Apokalyptik bedeutet nämlich nicht immer gleich Weltuntergang. Nicht der Kosmos wird vernichtet, sondern die Weltzeit (Aion) geht zu Ende. In der Bibel sehen wir einen wandernden eschatologischen Horizont. Für die großen Schriftpropheten ist es die Zerstörung Jerusalems und des ersten Tempels. Im Danielbuch ist es der Untergang der antiken Weltreiche. Jesus kündigt die Zerstörung Jerusalems durch die Römer an und bei Paulus und dem Seher Johannes richtet sich der Blick auf das Ende des Imperium Romanum. Nicht die Welt geht unter, aber die Welt, wie wir sie kennen. Und nun steht uns mit dem sich anbahnenden Kollaps des Klimas und dem Ende des Holozäns ein Zivilisationsbruch ins Haus, der all jene Untergänge in den Schatten stellt. Andrew Perriman hat dazu viel Lesenswertes geschrieben, und auch er betont dabei die prophetische Dimension:
First, the church needs to recover a plausible prophetic voice—to warn, to call for repentance and change, to explain how and why the crisis has come about, to begin to outline a new meaningful, sustainable, long-term future for the church in the secular-humanist West, to keep the story moving forwards.
Tom Wright weist in seinen Arbeiten zur Verkündigung Jesu immer wieder darauf hin, dass Albert Schweizer die richtige Fährte verfolgte, als er gegen die Leben-Jesu-Forschung die apokalyptische Dimension radikal herausstellte. Und er merkt zugleich an, dass Schweizer irrtümlich annahm, Jesus habe von einer kosmischen Katastrophe gesprochen und nicht von der Zerstörung Jerusalems im jüdischen Krieg. Für Wright spricht Jesus nicht vom Ende der Geschichte, sondern vom Ende einer Ära.
Jesus war Apokalyptiker und Prophet. Die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ ist ein unübersehbarer Hinweis darauf. Zu den königlich-priesterlichen Traditionen verhielt er sich (vorsichtig gesagt) sehr differenziert. Bilder und Begriffe, mit denen Jeremia und andere den Untergang Babylons angekündigt hatten, überträgt er in Markus 13 auf die Hauptstadt Judäas. Er weint und klagt, er provoziert und dramatisiert wie seine Vorläufer. Er stößt auf taube Ohren bei der Mehrheit seiner Landsleute. Und er wird, wie Jeremia, von den Mächtigen dafür aus dem Weg geräumt.
„Hoffnung“ kommt in den Evangelien nicht vor
Es ist schon bemerkenswert, dass in keinem der vier Evangelien der Begriff „Hoffnung“ auftaucht. Ich will damit nicht sagen, dass die Sache fehlt. Aber angesichts der inflationären kirchlichen Hoffnungsrhetorik könnte das durchaus ein Wink sein, diesen Anspruch an uns selbst einmal kritisch zu betrachten, immer und überall Hoffnung liefern zu können oder zu müssen. Vielleicht muss auch die alte Hoffnung sterben (oder wir müssen angesichts des Infernos „alle Hoffnung fahren lassen“), damit sie irgendwann neu geboren werden kann.
Vielleicht sollten wir das Wort Hoffnung mal ein, zwei, zehn Jahre nicht verwenden. Und wie Jesus anders von Gott und der Welt reden. Hoffnungsfähig werden wir wohl nur, wenn wir den Kollaps nicht verharmlosen, das Grauen nicht verdrängen, die Klage nicht dämpfen, die Schuld nicht beschönigen. Hoffnung findet vielleicht wieder einen Landeplatz, wenn wir Gott recht geben in seinem Urteil über unsere Zivilisation, deren Wohlstand und Zusammenhalt auf der Anbetung des Mammon, der Plünderung der Natur und der Ausbeutung der Armen beruht. Aber da sind wir noch nicht. Vielleicht ist dieses Gebet aus Daniel 9 ein Schritt in die richtige Richtung und eine Hilfe, uns der Wirklichkeit unseres gemeinschaftlichen Versagens zu stellen.
Ach Herr, du großer und Furcht einflößender Gott, der den Bund und die Gnade bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, wir haben gesündigt und sind schuldig geworden, wir haben gefrevelt und sind abgefallen, und von deinen Geboten und deinen Rechtssatzungen sind wir abgewichen.
Und wir haben nicht auf deine Diener, die Propheten, gehört, die in deinem Namen geredet haben zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vorfahren und zum ganzen Volk des Landes. Du, Herr, bist im Recht, uns aber steht die Schande ins Gesicht geschrieben…
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