Zufälle gibts…

Zum Beispiel letzte Woche: Die Traupredigt war schon fertig, da entdeckte ich noch eine schöne Anekdote über Henry Ford.

Der ließ einst seine Produktion auf Effizienz überprüfen und der Berater wollte einen vermeintlich nutzlosen Mitarbeiter feuern, der den ganzen Tag die Füße auf dem Schreibtisch liegen hatte. Ford soll geantwortet haben, der Mann bleibe, denn er habe eine Entdeckung gemacht, durch die seine Firma sehr viel Geld sparte. Und so weit er wisse, habe er damals genau so dagesessen.

Die Geschichte passte wunderbar zum Predigttext, also erzählte ich sie im Traugottesdienst. Als wir etwas später aus der Kirche kamen, stand das Brautauto vor der Tür: Ein uralter Ford Model T. Mit Felgen aus Holz und einer Kurbel zum Anlassen. Außer dem Bräutigam und zwei weiteren Personen hatte das niemand gewusst, nicht einmal die Braut.

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Kein Gleichnis

Auf dem Weg, der vom Sofa zum Kühlschrank führt, befand sich ein Teller. Jemand war mit Messer und Gabel über ihn hergefallen und hatte ihn dann, mit Essenszeiten verklebt, achtlos stehen lassen. Wilde Tiere begannen derweil, sich für ihn zu interessieren.

Da kam ein junger Mann vorbei, sah erst den Teller, dann die Whatsapp-Nachricht auf seinem Smartphone, machte einen Bogen um den Teller und und ging weiter. Ein anderer junger Mann kam auf demselben Weg, sah den Teller, und machte einen Bogen darum, um erst einmal in die Muckibude zu gehen.

Schließlich kam ein dritter, sah den Teller und erbarmte sich. Er trug den Teller in die Küche, entfernte vorsichtig die gröbsten Verschmutzungen und steckte ihn in den Geschirrspüler. Er gab aus seinem Vorrat eine Spültablette dazu, und erteilte dem Geschirrspüler den Auftrag, den Teller bis zu seiner Rückkehr zu säubern und zu wärmen, bis er trocken sei.

Frage: Wer war dieser unbekannte Dritte?

 

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Große Weite auf engem Raum

Im August haben meine Frau und ich gemeinsam mit Freunden an einer „Open Week“ der Iona Community teilgenommen. Die unter George MacLeod wiedererrichtete Abbey, 563 von St. Columba gegründet und seither wohl der heiligste Ort Schottlands (Macbeth soll hier unter anderem begraben sein), bietet Platz für ca. 50 Gäste, dazu kommen viele freiwillige Helfer_innen. Es geht sehr international zu, wir trafen eine große Gruppe aus den Niederlanden und eine Gemeindegruppe aus den Midlands, dazu eine ganze Reihe Einzelpersonen. Es ist bei voller Auslastung reichlich eng rund um den Kreuzgang, die Zimmer sind winzig und oft mit Stockbetten eingerichtet, das Haus ist hellhörig, die Fußböden knarzen mächtig und die Duschen muss man sich geduldig teilen. Wer abends Bier, Cider oder Wein trinken will, muss fünf Minuten laufen in die Bar an der Martyrs’ Bay.

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Wer nach Iona kommt, lebt eine Woche Gemeinschaft auf Zeit. Alle Gäste packen im Haushalt mit an, und ich vermute, das Fehlen einer Industriespülmaschine hat weniger finanzielle Ursachen. Das Arbeiten gehört, genauso wie die Morgen- und Abendgebete zum Konzept von Gemeinschaftsbildung dort. Das Morgengebet endet im Stehen und ohne „Amen“ oder Segen, um deutlich zu machen, dass die nun folgende Aktivität eine nahtlose Fortsetzung des Gottesdienstes mit anderen Mitteln ist.

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Rückzug ist also kaum möglich, zumal sich im Programm kurze Impulse der Verantwortlichen rasch mit interaktiven Elementen mischen, ständig kommt man mit jemand anderem ins Gespräch, mal eher spielerisch-locker, mal zu recht persönlichen Fragestellungen und Themen. Und so hat man nach sechs Tagen viele neue Bekannte, deren Namen es zu behalten gilt. So richtig tief geht es dagegen angesichts des kurz getakteten Ablaufs nur selten. Und man sollte wirklich passabel Englisch sprechen können, sonst wird es mühsam.

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Zum Seele baumeln lassen muss man sich in die Kirche (Farne wachsen innen an den Wänden) oder eine der Kapellen verdrücken oder gleich ganz hinaus gehen – hoch zum Dun I oder an den weißen Sandstrand im Norden der Insel, vorbei an Schafen und Hochlandrindern. Echte Stille gibt es nur sporadisch am Sonntagabend in der Kirche oder auf einer fünfminütigen Etappe des gemeinsamen Pilgerwegs, den die ganze Gruppe in vier oder sechs Stunden geht. Nach jeder Mahlzeit gibt es einen „moment of silence“, der ungefähr einen Atemzug lang dauert und mit einem emphatischen „Thank you, God“ beschlossen wird.

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Reich beschenkt wird man aus dem Schatz der Lieder von John Bell und anderen, aus der ungemein frischen und klaren liturgischen Sprache, die stets mehr wertvolle Denkanstöße enthält, als man in dem jeweiligen Augenblick behalten und zu Ende denken kann, durch die Ehrlichkeit, mit der die Mitglieder der Community erzählen, und die ökumenische Offenheit dort, wo sich Pilger aus aller Welt begegnen. Wem das noch nicht reicht, der findet eine gut ausgestattete Bibliothek im Haus vor und gegenüber einen Buchladen, in dem man schnell arm werden kann.

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Unter den Gästen wie auch den Freiwilligen finden sich viele Pfarrer_innen und Theologe_innen und noch mehr engagierte Laien. Auf eine spannende Art ist Iona für sie „kirchlich“ genug, um sich zuhause zu fühlen, und zugleich anarchisch genug, um sich und die eigene Umgebung einmal kritisch zu betrachten, oder sich von anderen Querdenkern auf der eigenen Suche nach neuen Wegen anregen zu lassen.

Keiner aus unserer kleinen Delegation wusste einen vergleichbaren Ort in Deutschland, an dem Natur, Geschichte, gelebte und schöpferische Gemeinschaft, Begegnung über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg so profiliert anzutreffen wären. Iona ist wieder zu einem pulsierenden Zentrum geworden, wie im Frühmittelalter, als es an der stark frequentierten Wasserstraße entlang der inneren Hebriden lag. Heute erscheint es uns abgelegen und wird gerade deshalb so gern aufgesucht. Man kann die Anreise an einem Tag schaffen, aber dann darf nichts schief gehen, wenn man die letzte Fähre in Fionnphort auf Mull kurz nach 18 Uhr noch erreichen will. Rückwärts ist es einfacher, aber nach so intensiven Tagen wird es den meisten gut tun, noch irgendwo in der reizvollen Umgebung ein paar Tage Rast zu machen und die Eindrücke nachklingen zu lassen.

Es war bestimmt nicht der letzte Besuch.

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Auf eigenen Füßen

Gut zwei Wochen habe ich in den eher entlegenen Ecken Schottlands verbracht, doch beim Umsteigen auf dem Rückweg haben wir in Düsseldorf mehr Kilts gesehen als in all den Tagen dort, denn die Fans der schottischen Nationalmannschaft waren auf der Heimreise. Richtig angekommen ist in Deutschland aber das Interesse am Referendum über Schottlands Unabhängigkeit. Seit ein „Ja“ nicht mehr unwahrscheinlich ist (und wegen der momentanen leichten Beruhigung anderer Krisenherde), macht die Entscheidung hier mächtig Schlagzeilen. Während ich mich wieder daran gewöhne, hier auf der rechten Straßenseite zu fahren, entscheiden die Schotten über die Richtung für die Zukunft.

Als bayerischer Freistaatsbürger ist man ja chauvinistische Flirts mit separatistischem Gedankengut gewöhnt, rund um den Länderfinanzausgleich etwa klingt das Motiv immer wieder zaghaft an, freilich ein leicht zu durchschauendes Manöver. Denn eigentlich ist es ein Anachronismus, wenn sich ein Teil eines europäischen Landes verselbständigen würde. Nach einem (möglicherweise ablehnenden) britischen Referendum zur Mitgliedschaft in der EU hätte ich das besser verstanden, dachte ich bis letzte Woche.

Tatsächlich gibt es aber schon jetzt eine Reihe wirklich guter Gründe für die Schotten, sich selbständig zu machen. Wer will schon in einem Staat leben, in dem so destruktive Kräfte wie die UKIP Wahlen gewinnen können, in dem das Mehrheitswahlrecht die Machtverhältnisse (in der Regel zugunsten der Konservativen) verzerrt, in dem der Finanzsektor weitgehend die Wirtschaft dominiert und die Politik beherrscht und in dem man in London nicht mit Pfundnoten bezahlen kann, die ein Geldautomat in Edinburgh ausgespuckt hat?

Wenn die Bravehearts also nächste Woche mehrheitlich mit Ja stimmen, dann sollten wir sie in Europa möglichst schnell und herzlich aufnehmen. Zur Einstimmung auf die nächsten Tage empfehle ich das Interview der SZ mit Bob Ross.

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Täuferblut in meinen Adern

Die Gedenkfeier im vergangenen Jahr hatte ich nicht mitbekommen, dafür erfuhr ich am Rande eines Familienfestes, dass eine direkte Vorfahrin, Susanna Daucher aus Augsburg, dort im April 1528 in Abwesenheit ihres Ehemannes Hans, aus der Stadt vertrieben wurde und ihre beiden Söhne zurücklassen musste. Ihr Verbrechen: Sie hatte in ihrem Haus eine Täuferversammlung abgehalten.

Auf der Website der Mennonitengemeinde heißt es dazu:

Susanna und ihre Schwester Maxentia Wissinger waren sich keiner Schuld bewußt. In den Versammlungen sei nur „das Wort Gotte» vorgelesen und gelehrt worden“, heißt es in den Verhörprotokollen. Laut ihrer Aussage wurde wie im November 1527 im Haus von Felicitas und Conrad Huber getauft. Wohl zum Schutz der Hausbesitzer sagt sie, das Ehepaar sei bei der Taufe abwesend gewesen. Auch an einem Treffen der Wiedertäufer in Radegundis bei Wellenburg habe sie teilgenommen. Sie habe nicht gewußt, daß Treffpunkte der Täufer in Augsburg mit einem Kreis markiert worden seien. Sie bleibe standhaft und weigere sich ihrem Glauben zu wiederrufen.

Die Lebenswege ihrer Kinder, die sie in Augsburg bei einem Vormund lassen musste, lassen sich nachverfolgen. Sie selbst könnte nach Stuttgart gegangen sein, wie andere Augsburger Täufer.

Ihr Ehemann war von den Ereignissen überrascht worden und durch den Verlust wirtschaftlich und wohl auch psychisch so schwer getroffen, dass er sich davon nicht wieder erholte, sein Geschäft aufgab und 1537 verarmt starb. Letztes Jahr wurde eine Tafel am Haus der Familie in der Augsburger Schleifergasse 10 angebracht.

In den letzten Jahren haben die Großkirchen begonnen, dieses düstere Kapitel aufzuarbeiten. Mit einer echten Freigabe des Taufalters tun sie sich aber nach wie vor schwer – wenn kirchliche Angestellte Nachwuchs bekommen, drängt die Institution oft auf einen umgehenden Vollzug der Taufe. Dass ein bewusster evangelischer Glaube auch ohne Säuglingstaufe möglich ist, dass ein Aufschub der Taufe auf einen späteren Zeitpunkt kein Ausdruck von Sektierertum und pauschaler Kirchenkritik und damit kein Alarmsignal fehlender Loyalität sein muss, scheint sich zumindest noch nicht überall herumgesprochen zu haben.

Bislang dachte ich, meine Ahnengalerie bestünde weitgehend aus mehr oder weniger braven Lutheranern und dem einen oder anderen Reformierten. Nun weiß ich:  auch die traumarisierte Daucher-Sippe gehört zum „Erbe“. Um so mehr freut es mich, dass es uns als Gemeinde (wie auch vielen anderen) gelungen ist, solche Konflikte zu entschärfen. Neulich hatten wir eine Säuglingstaufe und zwei Kindersegnungen im gleichen Gottesdienst. Ich habe dabei einen etwas hemdsärmeligen Vergleich riskiert: Früher konnte man Kinder im Reisepass der Eltern eintragen lassen (das wäre die Parallele zur Segnung), oder man kann ihnen einen Kinderpass ausstellen lassen (das ist die Parallele zur Taufe). Irgendwann bekommen sie einen „richtigen“ Pass – das wäre dann die Taufe bzw. die Konfirmation. Im Ziel eines Lebens in der Nachfolge Christi sind sich alle einig, und das ist entscheidend.

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Big in Japan?

Vor einem Jahr habe ich die Kommentarregeln auf diesem Blog verändert – um zu kommentieren ist eine Anmeldung nötig, und die muss ich bestätigen. Seitdem ist es deutlich ruhiger, was zum Teil auch daran liegt, dass etliche Kommentare auf Facebook landen. Manchmal finde ich das schade, manchmal angenehm (wer anonym schreibt, lässt sich schneller zu trolligen Bemerkungen hinreißen).

Im letzten Jahr gab es nun über 6.000 Anmeldungen. Sehr viele aus Polen und Russland, den e-Mail-Adressen nach zu urteilen. Erstaunlich, wie populär mein Blog dort ist – das erinnert an den oben anklingenden Song von Alphaville. Nur leider mehr bei Spammern als bei Leuten, die meine Themen interessieren. Sie nennen sich phantasievoll (oder zufallsgeneriert) SyreetaCantor, MyrtisPadbury oder MercedeAlberts. Und wenn ihr Mailserver kein russischer ist, dann steht hotmail ganz hoch im Kurs.

Was ich an ernsthaften Namen erkennen konnte, habe ich freigeschaltet. Ich hoffe, ich habe niemanden übersehen.

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Lieber Udo,

ich habe den fröhlichen Klang der Stimmen, die Abenddämmerung nach der großen Hitze, die Kerzen auf unserer Terrasse, den Geruch von Gras, Wein und Pasta noch ganz frisch im Gedächtnis. Spät am Abend seid Ihr von meiner Geburtstagsfeier aufgebrochen, und wie hätte man in der gelösten Stimmung auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen können, dass wir uns gerade für immer verabschieden – diesseits der Ewigkeit?

In diesen letzten Wochen habe ich Dich gelöst erlebt, wie Du von der letzten Reise geschwärmt hast und Dich auf den bevorstehenden Urlaub in Rovinj gefreut hast, das für Dich ein paradiesischer Ort war. Diese Leichtigkeit mitzuerleben war angesichts all der schweren und düsteren Zeiten, die Du in den letzten Jahren wiederholt durchleiden musstest, etwas sehr Kostbares. Deine äußere Robustheit und Umtriebigkeit hat diese zerbrechliche Zartheit häufig verdeckt, und manchmal, so scheint mir, bist du selbst darüber erschrocken, wenn sie durchkam.

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Aber auch im finstern Tal warst Du Dir nie selbst genug, immer hast Du Dich erkundigt, identifiziert, Anteil genommen, Dich nach Kräften und darüber hinaus zuständig gefühlt und mitgedacht. Das ist auch eine dieser Erinnerungen, die bleibt und um die wir uns in diesen Tagen immer wieder versammeln. Es gibt, um eine Redewendung aus „Der Gott der kleinen Dinge“ zu borgen, ein Udo-förmiges Loch im Universum. Und unsere Seele taumelt hin und her zwischen Tränen, Taubheit oder Trotz, und findet zwischendurch Halt in irgendeiner mechanischen Tätigkeit, zu der wir uns überreden.

Als unser gemeinsamer Freund Horst vorletztes Jahr – auch in den Ferien, auch am Wasser – verunglückte, als jene Lücke im Universum sich jäh vor uns auftat, waren wir beide in so einem benommenen Zustand – und es war gut, dass wir einander hatten. Ich habe die Worte damals ein bisschen eher wiedergefunden als Du, aber jetzt kämpfe ich mächtig darum, und es fällt mir schwerer denn je. Als hätte jemand zähes Schweröl über meine Gedanken ausgegossen. Die Nachricht, dass ein achtloser Freizeitkapitän Dich arglosen Schwimmer tödlich verletzt hat, hätte unfassbarer nicht sein können – und sie fühlte sich doppelt bitter an. Bestimmt muss es doch ein Gesetz geben, das mehrere Schläge in die gleiche Kerbe untersagt! Die Ähnlichkeit hat für uns Hinterbliebene (seltsam, wie ein so hölzerner Begriff die Gefühlslage so treffend abbilden kann…) nicht nur etwas absurd Sinnloses, sondern auch fast etwas Zynisches an sich, weil sie das Einzigartige dieses Verlustes scheinbar relativiert.

Unbegreiflich ist Dein Weggang auch, weil wir alle Deine Beständigkeit und Treue kannten. Wenn Du in den Urlaub aufbrachst, hast Du Dich meist verabschiedet und danach wieder zurückgemeldet. Wen Du einmal in den Kreis Deiner Freunde aufgenommen hattest, der musste sich schon selbst daraus entfernen. Alle anderen Adressaten Deiner Anteilnahme und Fürsorge konnten Deines Wohlwollens gewiss sein – auf Lebenszeit. Die aber haben wir, wie sich zeigt, zu optimistisch eingeschätzt.

In den letzten vierzehn Tagen habe ich mit vielen geredet, die Dich gekannt und geschätzt haben. Es gab kaum ein anderes Thema. In ihren Worten war so viel Sympathie, Dank, Bewunderung und Hochachtung zu spüren. Und es waren immer wieder Erinnerungen dabei, wo wir trotz allem ins Schmunzeln kamen. Dieses „Höher, schneller, weiter“ etwa, das nicht nur in Deiner Leidenschaft für den Sport zu spüren war und allen, die mit Dir in den Bergen gewandert sind, in lebhafter Erinnerung bleibt. Du hast Dinge nie auf-, sondern unermüdlich angeschoben. Das hat es manchmal auch ein wenig anstrengend gemacht für uns, aber Du hast es Dir selbst mehr als jedem anderen zugemutet. Und während wir so redeten, fragte ich mich, ob hinter dieser Eile und dem Elan, mit dem Du Deine Tage so randvoll bepackt hattest, irgendwie schon immer die Ahnung steckte, dass Dir tatsächlich weniger Lebenszeit vergönnt war als vielen anderen.

Am Morgen nach Deinem Tod nahm ich an einer Andacht teil. Sie fand im Garten eines Exerzitienhauses statt und begann mit der Einladung, mich umzusehen und dann einige Minuten an einem Ort zu verbringen, zu dem ich mich hingezogen fühlte. Zwei Meter vor meinen Füßen stand eine Pusteblume, die der Rasenmäher offenbar verfehlt hatte – die einzige weit und breit. Ich blieb regungslos stehen vor diesem Symbol der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Und während ich noch dort stand und die Blume ansah, kam jemand vorbei und stieß mit dem Schuh dagegen. Silberne Schirmchen flogen mit dem Luftzug davon, der Stiel blieb fast kahl auf der Wiese zurück. Ich sah noch einen Moment hin, dann kamen die Tränen. Die stumme Trauer hatte in diesem Zeichen einen Ort gefunden, an dem sie zur Geltung kommen konnte – nicht nur in mir sondern vor Gott.

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Als ich über diese Szene nachdachte, fiel mir noch eine weitere Dimension auf, die auch gestern, bei Deiner Beerdigung, mit Händen zu greifen war: Solche „Schirmchen“ Deines Wesens tauchen an so vielen Stellen auf, manch sind tausende Kilometer weit geflogen. Sie sind gelandet bei Menschen, mit denen Du über lange Zeit, große Entfernungen und so manch harte Zerreissproben den Kontakt gesucht, gehalten und oft auch wieder neu geknüpft hast. Ich habe das Nachmittagsprogramm an diesem Tag geschwänzt, meine Laufschuhe angezogen und bin in den Wald gelaufen. Es schien mir der richtige Ort, um an Dich zu denken. Schirmchen flogen durch meinen Kopf – die vielen Runden, die wir in den letzten Jahren durch die Mönau, den Buckenhofer und Tennenloher Forst gedreht haben, während wir über die Höhen und Tiefen unseres Lebens redeten, oder uns Gedanken über Zustand und Richtung unserer Gemeinde machten. Eingehüllt vom intensiven Geruch des Waldes, den Sonnenstrahlen zwischen den Buchenblättern, dem kühlen Wind auf der Hochfläche war die Einsamkeit ein willkommenes Geschenk. Der Takt der Schritte auf dem Schotterweg machte meine Sprachlosigkeit und Leere erträglich.

Ich habe mich in den letzten beiden Wochen mehrfach gefragt, an welchen Ort ich mich zurückziehen könnte, um mich an Dich zu erinnern, aber es fiel mir kein passender ein. Nicht die Ruhe, sondern die Bewegung fühlt sich „richtig“ an. Ich laufe zwar schon immer auch gern alleine, trotzdem werde ich Dich sehr vermissen. Über all die Jahre und Kilometer ist jeder auch ein Teil vom anderen geworden. Von nun an wird die Lücke, die Du hinterlässt, mich begleiten. Seltsamerweise spüre ich schon jetzt, wie mir auch die Seiten an Dir fehlen, an denen ich mich immer wieder gerieben habe. Sie gehörten eben immer auch zum Paket. Umgekehrt haben meine gelegentlichen Flirts mit dem Prinzip der kreativen Zerstörung mehr als einmal Schweiß und Sorgenfalten auf Deiner gewissenhaften Stirn verursacht. Aber wir sind immer weiter gelaufen, haben immer weiter geredet und, wenn nötig, auch mal geschwiegen.

Apropos Abschied und Bewegung: Der geniale Songpoet Rich Mullins (er starb 1997 bei einem Autounfall), hat sich in einem seiner Lieder Gedanken über den Tod gemacht.

When I leave I want to go out like Elijah

With a whirlwind to fuel my chariot of fire

And when I look back on the stars

Well, it’ll be like a candlelight in Central Park

And it won’t break my heart to say goodbye

Elia, der alte Haudegen, dämmerte nicht etwa auf sein Ende hin, sondern wurde nach biblischer Darstellung mitten aus seinem turbulenten Wirken zum Himmel entrückt. Eine andere Zeile aus dem Text lautet:

On the road to salvation

I stick out my thumb and He gives me a ride

And His music is already falling on my ears

Was für Musik auch immer Dich vor Istriens Küste davongetragen hat, sie wird irgendwann auch uns endgültig trösten, wenn sie an unser Ohr dringt. Bis dahin halte ich es auch mit dem guten Rich, wenn er schreibt:

I’m here to tell you I’ll keep rocking, ‚til I’m sure it’s my time to roll.

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Worauf wir zählen können

Ein sehr lieber Freund ist letzte Woche tödlich verunglückt. Mehr als mein halbes Leben haben wir Höhen und Tiefen des einen wie des anderen geteilt. Unsere Kinder sind zusammen groß geworden, ich erinnere mich an Ausflüge, Urlaube und Feste, das letzte ist gerade zwei Wochen her.

Die Schockwellen laufen unvermindert durch diese Tage, durch die Gemeinde, den Freundes- und Bekanntenkreis. Ich staune, was für eine physische Wucht Trauer hat – auf einzelne und auf Gemeinschaften.

Unter den vielen Fragen und Gedanken, die sich melden, ist auch die Erinnerung an Taufen und Kindersegnungen, wo wir – erst vor wenigen Wochen wieder – Psalm 91,12 zitiert haben:

Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Natürlich ist das der Wunsch aller Eltern für ihre Kinder, aller Menschen für ihre Lieben, dass ihnen Schicksalsschläge erspart bleiben. Nur kann ich nicht erkennen, dass sie Christen oder religiöse Menschen seltener träfen. Willkürlich und unerklärlich widerfährt Leid, wie auch glückliche Rettung aus Gefahr, den einen ebenso wie den anderen. Oder wie Jesus es ausdrückte: Gott lässt die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte.

(Bevor jetzt jemand eilig protestiert: Angenommen, es ließe sich statistisch nachweisen, dass Christen seltener von Unfällen und schweren Krankheiten betroffen wären, wäre das nicht ein recht zwiespältiger Anreiz, sich dem Glauben zuzuwenden?)

Gott als eine Art metaphysische Lebensversicherung zu betrachten, ist also problematisch. Er nimmt sich ganz offenbar die Freiheit, solche Erwartungen zu enttäuschen. Eher können wir darauf zählen, in solchen Momenten nicht einsam, sondern verstanden und geborgen zu sein.

Jesus wird in Lukas 3 übrigens auch mit eben diesem Bibelwort konfrontiert – er hört es aus dem Mund des Versuchers. Es geht für ihn vordergründig darum, sich mutwillig in Gefahr zu begeben, um ein Wunder zu provozieren. Es steht für Jesus in diesem Moment aber auch auf dem Spiel, wer Gott für ihn ist: der Garant eines spektakulär schmerzfreien Lebens oder der, der die Freiheit hat, ihm Leid zuzumuten – im Vertrauen darauf, dass er es schließlich und endgültig doch in Freude verwandelt, zu der es leider keine Abkürzung gibt.

In eben dieser Spannung beten wir das Vaterunser – dass Gottes Wille geschieht, dass wir vom Bösen erlöst werden und dass wir die Geduld geschenkt bekommen, in der Zwischenzeit die Hoffnung und den Glauben nicht zu verlieren. Das Gegenteil von Freude, sagte Klemens Schaupp letzte Woche, ist nicht Trauer, sondern Bitterkeit.

Die gute Nachricht lautet also, dass der Tröster unter uns wirkt. Die schlechte Nachricht ist, dass wir ihn oft bitter nötig haben. In diesen Tagen ist das für mich mit Händen zu greifen. Oder, um es mit einen Rilke-Zitat zu sagen:

Wenn etwas uns fortgenommen wird,
womit wir tief und wunderbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selbst mit fortgenommen.
Gott aber will, dass wir uns wiederfinden –
reicher um alles Verlorene und vermehrt
um jenen unendlichen Schmerz.

(Bild: Dandelion by Seyed Mostafa Zemani, flickr.com/creative commons 2.0)

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Eine lebendige Bibliothek

Heute wurde ich gefragt, was ich an meiner Kirche schätze und liebe. Ich kann es eigentlich nur mit einem Vergleich sagen, der auch etwas über mich selber verrät.

Ich finde, sie ist wie eine große Bibliothek, in die man immer und immer wieder hineingehen kann, um Neues zu entdecken. Es stehen viele Bücher darin, alte und neue, spannende und langweilige (wobei mir heute vieles spannend vorkommt, was mich vor 25 Jahre noch gelangweilt hätte), Kurioses und Exotisches neben Biederem und Grenzwertigem.

Kurz: Ein gewaltiger Schatz an Erfahrungen und Erinnerungen, aus dem ich schöpfen und lernen kann. Meine Lebenszeit reicht nicht aus, alles zu lesen, aber vielleicht kann ich ein paar Ideen beisteuern für andere Leser. Sie ist halbwegs geordnet, aber mit weitem Interesse zusammengestellt. Manches widerspricht sich, vieles ergänzt sich, anderes ist noch nicht zu Ende gedacht.

Solche Vielfalt kann irritieren – und sie tut es auch ab und an. Aber diese lebendige Bibliothek ist mit einem weiten Herzen zusammengestellt, meistens fehlen klare Abgrenzungen, nur der Staub, der auf manchen Büchern dicker liegt und auf anderen nur ganz fein, sorgt für einen Hauch von Einheitlichkeit. Sie ist ein Raum, der einlädt zum Endecken und Denken, zum Wachsen und Verweilen.

Wie könnte ich nicht dankbar sein dafür?

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Sexuelle Vielfalt verstehen

Die FAU Erlangen-Nürnberg befasst sich in der Ringvorlesung dieses Sommersemesters mit dem Thema Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtliche Vielfalt. Ein Thema, das im universitären Alltag selten erscheint, wird hier interdisziplinär bearbeitet: Sozialwissenschaftliche, medizinische, juristische, religiöse, künstlerische und pädagogische Perspektiven befruchten einander dabei.

Ich habe an ein paar Vorlesungen teilnehmen können und fand das jedes Mal sehr bereichernd und anregend. Für alle, die nicht kommen konnten, gibt es gute Nachrichten: Einige Veranstaltungen sind inzwischen auch im Videoportal der FAU abrufbar, darunter auch das theologische Gespräch zwischen den Professoren Bubmann und Dabrock, in dem die beiden das Spannungsfeld von Ethik und Kirchenpolitik etwas ausleuchten.

Demnächst dürfte die gestrige Veranstaltung über Aufklärung und Diskriminierung an Schulen, Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und staatliche Vorgaben dazu kommen.

Ein Highlight steht noch aus: Kommenden Mittwoch spricht Prof. Heiner Bielefeldt vom Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der FAU über „Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht“.

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Schwierige Verständigung

Gestern traf ich am Nürnberger Hauptbahnhof einen jungen Mann, der sich dort mit jemandem zur Weiterreise über eine Mitfahr-Plattform verabredet hatte. Irgendwo zwischen Post und Haupteingang sollte das Auto parken, aber nichts war zu sehen. Die beiden telefonierten, dann suchten sie einander, dann sprachen sie wieder. Und stellten dann fest, dass der eine in Nürnberg war und der andere in Regensburg.

Anscheinend war es mit der Übersichtlichkeit der Online-Plattform etwas schwierig gewesen. Aber die Situation erinnerte mich an so manche irritierenden Gespräche, in denen mein Gesprächspartner und ich zwar dieselben Begriffe benutzten (in dem Fall statt Auto, Bahnhof, Post, Haupteingang etc. dann eben irgendwelche weltanschaulichen und politischen Dinge) und dann doch merkten, dass wir meilenweit entfernt waren von einander.

Der junge Mann vom Hauptbahnhof hat seinen Fahrer gestern übrigens noch getroffen, weil Nürnberg an der Strecke zu beider Ziel weiter westlich lag. Vielleicht ist das ja auch ein tröstlicher Gedanke im Blick auf die anderen schwierigen Verständigungen. Und natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall, dass mir jemand näher ist, als ich aufgrund seiner Redeweise bisher vermutet hatte.

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Kleine Worte klauben

Einmal ist mir in der heutigen Predigt doch das Wort „Liebe“ herausgerutscht. Das liegt daran, dass ich kein Volltextprediger bin, sondern lieber möglichst frei rede. Heute war der Redefluss etwas gebremst durch den Vorsatz, auf die 49 „großen Worte“ zu verzichten, die das Zentrum für Predigtkultur auf den temporären Index gesetzt hat. Eine großartige Idee und eine kreative Zumutung.

Bei der Vorbereitung war die Postkarte mit den überstrapazierten Substantiven immer auf dem Schreibtisch gelegen und hin und wieder musste ich meine Notizen korrigieren, weil ich entdeckte, dass etwa „Messias“ auch drauf stand. Rückblickend wäre ich dankbar gewesen, wenn „Jesus“ nicht auf der Liste gewesen wäre. Immerhin ist das ja ein Name – trotz aller missglückten Aussagen, die man mit ihm immer auch verbinden kann. Die Umschreibungen (von ihm gar nicht zu reden, kommt nicht in Frage) fallen, wenn sie verständlich sein sollen, auch nicht immer elegant aus; meine jedenfalls…

Wie auch immer – in 14 Tagen werde ich es wieder versuchen. Vielleicht ist es dann schon ein bisschen selbstverständlicher.

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Statt eines textlastigen Jahresrückblickes hier ein visueller. Für jeden Monat ein Bild

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Januar: Veste Coburg

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Februar: Sebalder Reichswald

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März: Vor der Haustür

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April: Connemara

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Mai: Gemse im Berner Oberland

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Juni: Sonnwende in Langensendelbach

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Juli: Schöpfrad an der Regnitz bei Möhrendorf

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August: Zugspitze

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September: Embankment Tube Station

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Oktober: nahe Hiltpoltstein

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November: Aischgrund

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Dezember: St. Jakob in Rothenburg o.d.T.

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Der Ruf nach dem Stacheldraht

In meinem Stadtteil sollen in Kürze Flüchtlinge eintreffen, die in einem leerstehenden Containerkomplex untergebracht werden. Während sich viele Menschen in der Stadt Gedanken machen, wie man sich gemeinsam um die Neuankömmlinge kümmern kann und was sie in ihrer (alles andere als komfortablen) Wohnsituation brauchen, nachdem sie ihre Heimat verloren haben, macht mindestens ein Anonymer richtig übel Stimmung in einer Sprache, die vor pauschalen Diskriminierungen nur so trieft und Hass auch gegen die verbreitet, die auf die Flüchtlinge zugehen wollen.

Tragisch ist, dass die Denkstrukturen von Angstmache und Ausgrenzung längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind, selbst wenn man diese Gedanken dort zurückhaltender formuliert. Der Europawahlkampf steht vor der Tür, und man kann in Deutschland beim Thema Zuwanderung – ob das nun Flüchtlinge sind oder Menschen aus anderen EU-Staaten – nur mit Härte punkten, indem man also die Fremden generell zum Problem erklärt, vor dem die Mehrheitsgesellschaft geschützt werden müsse.

Beim Abendessen diese Woche kommentierte mein Sohn das alles mit dem Hinweis, Jesus sei ja auch ein Flüchtling gewesen. Passt nicht nur ins Kirchenjahr, sondern in unsere Zeit überhaupt. Der Flugblattautor übrigens rief Gleichgesinnte zum Kirchenaustritt auf. Diesen Zusammenhang hat er dann doch ganz richtig verstanden.

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Mia san Pionia…?

Gestern bei Missio 2013 ermunterte der 81-jährige Bischof em. John Finney in seinem Schlussstatement dazu, einmal zu sehen, was wir an kreativen Experimenten und neuen Gemeindeformen schon haben, auf die sich zukünftig aufbauen ließe, statt nach England zu schielen und von dort „alte Bischöfe einzufliegen“.

Es wäre wunderbar, wenn wir bald an diesem Punkt wären. Und doch hat der Tag gestern gezeigt, wie wichtig es im Augenblick ist, solche Mutmacher zu haben, zumal sie jenseits der internen Konfliktlinien stehen, an denen sich Dinge allzu oft noch festfahren und verhakeln. Der Humor, die fröhliche Unbefangenheit und die kleinen ermutigenden Weisheiten, die er immer wieder einfließen ließ, haben aus einem Vortrag, den vom Inhaltlichen und Sachlichen her auch manch anderer hätte halten können, etwas Besonderes gemacht.

Nachdem ich es heute schon eimal vom Kontext hatte: Finney hat immer wieder darauf hingewiesen, dass alle Mission kontextgebunden ist. Was wir also „importieren“ sollten, sind nicht die Lösungen, sondern die Fragen und den Mut, nicht nur nach dem Nächstliegenden zu greifen, sondern den üblichen Denkrahmen zu überschreiten.

Das selbstbewusste, aber auch oft selbstgefällige „Mia san mia“ gelte oft leider auch in der bayerischen Landeskirche, sagte ein anderer Redner gestern. Vielleicht lässt es sich allmählich in ein „Mia san Pionia“ verwandeln?

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