Die Gewitterbrille

Meine Frau ist mit dem Fahrrad unterwegs zu einer Freundin. Auf halber Strecke sieht sie, dass sich am Himmel rabenschwarze Wolken auftürmen. „Oh, da braut sich ein Unwetter zusammen, und ich fahre genau darauf zu“, denkt sie. Weil sie keine Regensachen dabei hat, dreht sie vorsichtshalber um und sagt der Freundin für heute ab. 

Zuhause angekommen stellt sie fest, dass sie die ganze Zeit ihre Sonnenbrille auf hatte, und nimmt sie ab. Ohne dunkle Gläser sehen die finsteren Wolken plötzlich ganz harmlos aus. Aber es ist inzwischen zu spät, um noch einmal loszuziehen. Wir lachen gemeinsam über ihren gescheiterten Ausflug.

Photo by Katarzyna Kos on Unsplash

Manchmal begegnen mir Menschen, die in harmlosen Situationen schon schwarz sehen. Ich frage mich dann, was es wohl braucht, damit sie ihre mentale Gewitterbrille abnehmen. Sie müssen sie ja nicht gleich gegen eine rosafarbene eintauschen. Den größten Gewinn hätten sie dabei selber: Weniger Sorgen, keine unnötigen Rückzieher. Mehr Zeit mit Freunden, mehr gute Momente auf Gottes Erde.

Ein Weg dahin, die getrübte innere Optik zu korrigieren, ist die Dankbarkeit. Sonntags lasse ich die Lichtblicke der letzten Woche Revue passieren: War war gut? Was ist mir (oder uns!) gelungen? Was habe ich neu gelernt? Worüber habe ich mich gefreut? 

So eine Dankbarkeitsbrille ist übrigens völlig ungefährlich, sagt meine Frau…

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Der kleine Musikant

Eine Urnenbeisetzung letzte Woche. Die Februarsonne wärmt die Gesichter. Schneeglöckchen recken sich ihr entgegen. Auf den Pfützen am Boden schwimmt noch das Eis der letzten Nacht.

Wir versammeln uns um das Grab. Und mit uns ein Buchfink. Er sitzt direkt über uns, ungewohnt nahe, auf dem Zweig einer Tanne.

Und dann singt das kleine Wesen aus vollen Hals. Inzwischen sind alle Worte gesagt und alle Blumen abgelegt. Als letzte steht die Witwe des Verstorbenen noch da. Sie lauscht dem fröhlichen Gezwitscher, und dann schaut sie auf und sagt: „Wie schön er singt. Als hätte ihn jemand bestellt“.

Und auch ich denke mir: Den kleinen Musikanten hat uns einer geschickt. Und er hat mit seiner Lebensfreude die Herzen erreicht.

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Gott spielen

Im Krippenspiel am Heiligabend spielt Gott mit. Er trägt Pferdeschwanz und Brille und geht in die siebte oder achte Klasse.  Anscheinend hat Gott dem Religionslehrer von seiner Rolle erzählt. Der fragte prompt zurück, ob das nicht eine sehr persönliche Vorstellung von Gott sei, wenn er da leibhaftig mitspielt. Gott schaut mich fragend an, ich bin ja der Pfarrer. Wenn das ein Problem sei, antworte ich, dann dürften wir ja auch nicht „Vater unser im Himmel“ beten. Gott nickt zufrieden und spielt weiter.

Natürlich ist Gott in einem anderen Sinn Person als wir. Das Attribut bezeichnet „nur“ eine Ähnlichkeit. Aber ihn als Nichtperson zu betrachten wäre noch viel falscher. Vielleicht sind wir manchmal nicht Person genug, um Gott sinnvoll abzubilden. Eine Grundähnlichkeit bleibt allerdings. 

Ursprünglich hatten wir eine andere Besetzung im Auge, mit erkennbarem Migrationshintergrund, aber der streng (christlich-) religiöse Vater verbot dem Darsteller den Auftritt mit Verweis auf das mosaische Bilderverbot. Dieses bezieht sich jedoch nicht auf Gott allein, sondern auf Lebewesen aller Art. Buber übersetzt: 

„Nicht mache dir Schnitzgebild, — und alle Gestalt, die im Himmel oben, die auf Erden unten, die im Wasser unter der Erde ist.“

Ex 20,4

Jede Art gegenständlicher religiöser Kunst wäre damit streng genommen tabu. Wenn wir aber wie hier über Schauspiel sprechen, darf man ja nicht übersehen, dass Gott im Ersten Testament rituell ständig repräsentiert wird, nämlich durch Priester. Also Menschen. 

unsplash-logoBen Sweet

Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir meinen könnten, ein ganz bestimmter Mensch sei exklusiv Gottes Bild und Stellvertreter. Oder dass unsere Inszenierungen von Macht, Reichtum und Schönheit Annäherungen an Gott darstellen. Der Menschensohn, das authentischste Bild Gottes, das wir haben, fällt nicht in diese Kategorie des Spektakulären. Vielmehr weiß der Prophet:

Wie ein Keimling stieg er auf vor sich hin, wie eine Wurzel aus dürrer Erde, nicht Gestalt hatte er, nicht Glanz, daß wir ihn angesehn hätten, nicht Aussehn, daß wir sein begehrt hätten, 

Jes 53,2 (Buber)

Wenn wir dann noch ernst nehmen, dass Gottes Geist auch in Menschenkindern wirkt, die Pferdeschwanz und Brille tragen, in die achte Klasse gehen oder sonst irgendwelche gewöhnlichen Dinge tun – wie wir alle –, dann sollte es auch kein Problem sein, ihn am Heiligabend mitspielen zu lassen. 

Und wenn uns Weihnachten daran erinnert, dass Gott nun ganz viele menschliche Gesichter hat, dann kommen wir vielleicht nicht so schnell auf die Idee, Gott zu spielen. Wie manche Eltern im Leben ihrer Kinder. Wie manche Chefs und Professoren. Wie manche Ärzte und Wissenschaftler oder auch Pfarrer und Bischöfe. Wie manche – nein, alle! – Kriegsherren.

Dann hätte sich der ganze Aufwand gelohnt.

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Ein Engel in Schwarz

Kürzlich begleitete ich einen Mitarbeiter der Kirchengemeinde in eine Flüchtlingsunterkunft. Es wurde allmählich dämmrig, als wir das abgelegene Gelände betraten. Ein Schlagbaum versperrte die Einfahrt. Als wir den zu Fuß umkurvten, näherte sich ein in Schwarz gekleideter Wachmann und sprach uns an.

Mir kamen sofort diverse Presseberichte in den Sinn, die alle davon handelten, wie Mitarbeiter von Security-Firmen Flüchtlinge schikanierten und Helfer abwimmelten. War das auch so einer?

Steve Halama

Wir kamen ins Gespräch, und unser Gegenüber erzählte uns, wie friedlich und angenehm die Geflüchteten seien. Und zwar nicht nur hier, sondern überall in der Stadt. Niemand brauche sich zu fürchten. Und dass man es doch verstehen müsse, wenn ein Geflüchteter Frust schiebe, weil er von Behördenmitarbeitern unfreundlich behandelt wird, unter miesen Bedingungen lebt und trotz bester Voraussetzungen keine Ausbildung oder Arbeit antreten darf. Er wurde richtig leidenschaftlich, als er auf die Ungerechtigkeit solch arroganter Willkür zu sprechen kam.

Je länger er sprach, desto beschämter betrachtete ich meine anfängliche Voreingenommenheit. Aber dann überwog die Freude, dass da jemand das Herz am rechten Fleck hat. Wenn mir das nächste Mal jemand Unbekanntes in Security-Uniform begegnet, werde ich mich an dieses Erlebnis erinnern. Und erst mal das Beste über ihn denken.

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Jesus und die Erstklässler

Der Unterrichtsentwurf für die erste Klasse sah vor, den Kindern drei Personen zu zeigen: Ein armes Kind, ein wohlhabendes Kind und eine berühmte Person. Dann sollten die Kinder die drei der Wichtigkeit nach ordnen wie auf einem Siegertreppchen. Das erste Kind legte noch die Berühmtheit auf die Eins. Fast alle weiteren Vorschläge aber zogen das arme Kind vor.

Ich hatte Mühe, beim Zuhören nicht dahinzuschmelzen, musste mich aber im Zaum halten. Denn die Lösung am Ende war so gedacht, dass alle – ob reich oder arm oder normal – gleich wichtig sind: Alle auf die Eins.

Dieser Vorschlag kam gar nicht gut an bei den Kindern. Sie beharrten darauf, dem armen Kind einen Bonus zu geben. Und ich frage mich, ob sie nicht goldrichtig damit liegen: Jesus sagt immerhin im Evangelium, dass die Letzten die ersten sein werden. Das ist etwas anderes als „alle werden die Ersten sein“ oder „es wird keine Letzten mehr geben“.

Im besten Fall wird es die Privilegierten dieser Weltzeit am Ende nicht stören, wenn all jene, die ein härteres Los hatten, einen Ausgleich bekommen. Ganz sicher sind auch sie Gott wichtig. Aber auf dem Weg zu einer gerechten Welt haben manche mehr zu verlieren und andere mehr zu gewinnen. Jesus und die Erstklässler erinnern uns: An der Option für die Armen kommen wir nicht vorbei.

Ich glaube, St. Martin wird ein Festtag für die Kleinen

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Katastrophenwerbung

Ich komme zum Taufgottesdienst in eine alte Dorfkirche im Umland. Beim Betreten der Kirche wundere ich mich, dass Stufen von draußen in das Kirchenschiff hinab führen. Der Mesner erklärt, dass liege an der Pest im Mittelalter. Um die vielen Toten alle begraben zu können, musste der Friedhof um die Kirche herum „aufgestockt“ werden. Man schüttete zusätzliche Erde auf, und dabei blieb es bis heute.

In Homo Deus, das auf meinem Schreibtisch liegt, las ich diese Woche, wie verheerend solche Epidemien bis vor rund 100 Jahren tobten. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Eurasiens starb an der Pest, in England überlebten von 3,7 Millionen Menschen nur 2,2 Millionen, schreibt Yuval Noah Harari und spricht von einem „Seuchen-Tsunami“.

Ich mache mich auf den Heimweg. Ein paar hundert Meter entfernt von der Kirche steht ein Wahlplakat der FDP. Dort lese ich:

Geschenkt: Keinen Empfang zu haben, ist ärgerlich. Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher, und der Netzausbau kommt unter dem CSU-Minister Scheuer – wie so vieles – bisher nicht vom Fleck. Darauf könnte man hinweisen.

Aber was, bitteschön, hat das mit der Pest im Mittelalter zu tun? Wo genau soll der Vergleichspunkt liegen? Und was will der stramm gescheitelte junge Kandidat damit sagen? Dass es uns heute besser geht als damals? Wohl eher nicht, auch wenn es natürlich stimmt. Dass Funklöcher lebensgefährlich sein können? Beschämend, aber es betrifft nur einzelne. Vermutlich hat er einfach nur einen dramatischen Aufhänger gesucht. Irgendeine Katastrophe musste halt her. In Bayern am besten etwas, das mit Schwarz assoziiert wird, also schwarzer Tod, Pest, fertig und ab in den Druck.

Die Toten auf dem erhöhten Friedhof werden sich in ihren Gräbern umdrehen. Und froh sein, dass sie damals wenigstens keine Wahlplakate der FDP ertragen mussten.

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Showtime am Altstadtring

Freitagabend am Altstadtring in Nürnberg. Ein schwarzer Lambomaserrari nimmt an der Ampel beim Kartäusertor mit brachialem Gedröhne Fahrt auf. Der Fahrer jagt die Drehzahl nach oben und der Motor prügelt den Boliden über den Asphalt.

Freilich viel zu schnell: Zweihundert Meter weiter ist die nächste Ampel noch rot. Sie ist an solche Beschleunigungen nicht gewöhnt. Im Normalbetrieb hat sie es mit Opels und Golfs, Fiats und Kias zu tun. Also muss er vom Gas, was der Motor mit drei oder vier ohrenbetäubenden Fehlzündungen quittiert. Vermutlich sind die ein bewusster Effekt und kein Defekt. Die Ampel schaltet auf Grün, das Ritual beginnt von vorn. Zwei Minuten später erscheint ein Kollege mit einem getönten und getunten Mercedes, in weiß.

Showtime!


Oscar Sutton

Die Typen wirken ein bisschen wie Raubtiere in viel zu kleinen Zoogehegen. Der Auslauf reicht vorne und hinten nicht. Keine Chance, die tatsächliche Höchstgeschwindigkeit je zu erreichen. Aber sie haben noch etwas gemeinsam mit den Zootieren: Das Publikum. Ein Leopard in der Savanne wird ja von niemandem gesehen. Der im Zoo schon.

Der Unterschied zwischen Leopard und Lambofahrer hingegen ist, dass letzterer freiwillig da ist. Gesehen zu werden ist ihm so wichtig, dass er den albernen, absurden Auftritt in Kauf nimmt.

Bleibt wohl nur zu hoffen dass solch benzingetränkten Balzritualen und PS-Potenzgeprotze der evolutionäre Erfolg versagt bleibt. Vielleicht sollte man eine Art Zoo einrichten für solche Show-Bedürfnisse. Aber bitte Abseits des Altstadtrings.

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Auf der Spur der Zeit

Gleich bei uns um die Ecke geht der Radweg Nummer 2 vorbei, der rund um Erlangen führt. Im letzten Frühjahr, als gerade die Entscheidung anstand, ob ich nach dem Ende des Vikariats bei ELIA bleibe oder an einem anderen Ort neu anfange, bin ich diese Runde gefahren. Eigentlich nur, um den Kopf frei und den Kreislauf ein bisschen in Schwung zu kriegen.

Ich war überhaupt nicht darauf gefasst, so vielen Erinnerungen zu begegnen: Stücke meines ehemaligen Schulweges waren darunter – Ecken, die ich in morgendlicher Eile hunderte Male passiert hatte. Irgendwann kam ich zu der Stelle, wo meine Frau und ich am ersten Tag, als wir zusammen waren, spazieren gingen. Etwas später sah ich in der Nähe ein Waldstück, in dem sich ein junger Mann das Leben genommen hatte, für den ich die Trauerfeier hielt. Der Weg kreuzte mehrfach Laufstrecken, auf denen ich mit meinem Freund Udo unterwegs war, oft in intensive Gespräche vertieft. Spielplätze, auf denen unsere Kinder herumgeturnt hatten, zogen vorbei, ebenso etliche Orte, an denen wir regelmäßig Gottesdienst gefeiert hatten, zuletzt die Franconian International School. Dann war ich wieder zuhause.

Ein großer Teil des Lebens, eingeschrieben in einen Rundweg: Schönes und Schreckliches wird für einen Augenblick wieder lebendig; Dankbarkeit für vieles Gute steigt auf, und auch, dass manches Schwere vorüber ist. Aus dem Staub des Alltäglichen funkelt hier und da Einmaliges hervor.

Echte Bedeutung haben diese Orte  freilich alle nur durch die unvergesslichen Menschen erlangt, mit denen ich dort war. Gesichter und Geschichten tauchen aus der Erinnerung auf. Aber erst der jeweilige Ort hat sie wieder hervorgeholt.

Unterm Radeln schloss sich der Kreis. Nicht nur äußerlich, weil die Runde beendet war, sondern auch innerlich – in der allmählich reifenden Gewissheit, dass der Abschied ansteht.

An manchen Stellen des Rundkurses kann man weit über das Stadtgebiet hinaus sehen – unter anderem hinüber nach Nürnberg. Da drehe ich die nächsten drei Jahre meine dienstlichen Runden. Am Fuß des Schmausenbuck liegt Z(erz)ab(elsh)o(f). Im September geht es los an der Auferstehungskirche.

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Ein bisschen angezählt

Vor einer Woche war mein offizieller Abschied von ELIA, mit einem Gottesdienst an historischer Stätte, etlichen Überraschungsgästen, vielen Umarmungen und Erinnerungen.

Es dauert, das emotional zu verarbeiten. Denn das mit dem lachenden und weinenden Auge funktioniert – anders als die Redensart das suggeriert – leider nicht synchron. Dafür kann es ziemlich zügig hin und her wechseln.

Irgendwie kommt mir diese Stimmung bekannt vor. Es fühlt sich an wie in den Augenblicken, in denen eines der erwachsenen Kinder dauerhaft das Haus verlässt. Nun kommt so ein Abschied ja selten überraschend. Du weißt, es ist der richtige Schritt und er ist an der Zeit. Dennoch – wenn es dann so weit ist, meldet sich das Herz plötzlich mit ein paar ganz tiefen Gefühlen und Erinnerungen.

Genau so war es letzte Woche. Nur dass ich in so viele vertraute und nicht minder gerührte Gesichter geschaut, viele Hände geschüttelt und viele gute Wünsche mitbekommen habe. Es hätte noch viel zu sagen gegeben, aber nicht genug Zeit, alles in Worte zu fassen.


Jan Tinneberg

In dem ganzen Durcheinander der Emotionen habe ich mich an Paulus erinnert, der auch väterliche und mütterliche Gefühle gegenüber den Gemeinden hegt, die er mitbegründet hat. Dann verlässt er die technische Begrifflichkeit  des Baumeisters, die er auch beherrscht, und wechselt in die Sprache des Herzens. Jetzt kann ich das nachempfinden.

Denn miteinander sind wir die geworden, die wir sind – nicht ohne die/den anderen. Diese Verbindung bleibt, auch wenn wir uns zukünftig seltener sehen und die Wege in unterschiedliche Richtungen führen.

Darüber kann man schon  mal ein bisschen angezählt sein. Und sich zugleich an Karl Barth erinnern: „Nur ja die Ohren nicht hängen lassen!“ Kinder werden groß und die Rolle der Eltern verändert sich. Alles gut.

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Gott und die kleinen Männer

In der Grundschule haben wir über das Vaterunser gesprochen. Irgendwann stellt ein Kind die unvermeidliche Frage: „Ist denn Gott nicht nur Vater, sondern auch Mutter?“

Wir diskutieren ein paar Minuten. Die Meinungen gehen auseinander und viele sind sich unsicher. Zwei Jungs, die größten in der Klasse, finden, Gott sei doch ganz eindeutig ein Mann. Und ich spüre in der Art, wie sie es sagen, wie wichtig es für sie ist, dass Gott einer der ihren ist. Klar: das wertet Männer auf, vor allem die kleinen. 

Joel Bengs

Aber ich kann ihnen nicht zustimmen: Männer sind Gott nicht ähnlich, weil sie Männer sind. Geschlechtlichkeit ist eine Kategorie, die sich auf Geschöpfe anwenden lässt, aber eben nicht auf den Schöpfer.

Nachdenklich verlasse ich daraufhin das Schulhaus. Im Grunde wünschen wir uns ja alle, dass Gott uns ähnlich ist: Dass er uns gut findet, dass er auf unserer Seite ist, dass ihm dieselben Sachen wichtig sind wie uns und wir auf ihn zählen können, wenn wir unsere Ziele im Leben verfolgen.

Jesus hat im Vaterunser vorgebaut. „Geheiligt werde dein Name!“, das heißt auch: Niemand darf Gott vor den eigenen Karren spannen oder ihn gegen andere instrumentalisieren. Und „Dein Reich komme!“ schließt aus, dass Menschen über andere herrschen. Egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welche Religion oder welchen Pass jemand hat.

Gut, dass das schon Zehnjährige lernen.

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Was man beim Grillen über Politik lernen kann

Gestern ging ich zum Metzger meines Vertrauens, um Sachen zu Grillen einzukaufen. Zwischen Steaks und Würsten in der Auslage fielen mir Spieße auf, die aus schwarzen Auberginenscheiben, rotem Fleisch und gelben Paprikasteifen bestanden. Zweifellos ein findiger und wohlschmeckender Beitrag zur Fußballweltmeisterschaft-WM.

Tuân Nguyễn Minh

Erst als ich wieder draußen war, dämmerte mir, was das Problem bei der Schwarz-rot-goldigen Herrlichkeit ist: Packt man die Spieße auf den Grill oder in die Pfanne, ist am Ende alles mehr oder weniger braun. Geschmacklich sicher ein Gewinn, symbolisch (und das sollte ja der Clou sein) leider eine Katastrophe.

Vielleicht lässt sich das ja auch auf die Politik übertragen: Wenn man das Nationale derart aufheizt, wie das prominente Akteure gerade hier in Bayern tun, dann darf man sich nicht wundern, wenn am Ende alles braun wird.

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Die Sonne, die Fröhlichen und die Fertigen

Wir stehen auf den berühmten Klippen von Moher. Die Sonne geht unter und malt vor uns aufs Wasser eine goldene Straße. Sie führt direkt zu mir. Ich sage zu meinem Sohn: „Hast Du ein Glück, dass du neben mir stehst. Die Sonnenstrahlen zeigen nämlich genau auf mich. Unter all dem Leuten, die hier gerade aufs Meer schauen, finden sie immer mich!“

Er schaut mich an und wir grinsen beide. Natürlich sehen alle, die hier stehen, dass die Straße aus Licht ganz allein auf sie zu zeigen scheint. Das Besondere ist nur der Sonnenuntergang – nicht ich und meine Leistung (oder mein Versagen).

Ich merke, dass mir das nicht immer so klar ist. Zum Beispiel wenn ich mir – ganz im Stillen freilich nur – denke, das schöne Urlaubswetter hätte ich ja irgendwie verdient. Etwa weil ich die letzten Monate so hart gearbeitet habe. 

So funktioniert nur die Tourismuswerbung.

„Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“, sagt Jesus in der Bergpredigt. Ich bin nicht der Nabel der Welt. Wenn Gott mir schöne Augenblicke schenkt, darf ich das genießen, ohne mir etwas drauf einzubilden. In stürmischen Zeiten, ist Geduld angesagt, aber ich muss mich auch nicht fertig machen, wenn es mal nicht so läuft. 

Und weil das Schöne und das Schlimme manchmal so ungleich verteilt sind, dürfen die Fröhlichen und die Fertigen einander trösten und erden. Auch das ist echtes Glück.

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Der Mann im blauen T-Shirt

Ein sonniger Maitag im Burren-Nationalpark. Nur wenige Menschen sind unterwegs auf dem Weg zum Mullaghmore, der sich mit seinen konzentrischen Ringen über die Karstlandschaft erhebt. Der Weg wendet sich zurück zum Ausgangspunkt. Auf dem zerklüfteten Untergrund balanciere ich von Stein zu Stein. Ich staune, wie gut das klappt, auch wenn der Boden nur im sekundären Gesichtsfeld ist.

Mein Blick geht nach vorne. Ein Mann im blauen T-Shirt sitzt in einiger Entfernung und schaut in die Weite. Ich betrachte die friedliche Szene und plötzlich schießen Gedanken durch meinen Kopf – Szenen aus einem Mini-Katastrophenfilm. Was, wenn das ein Messerattentäter ist, der auf mich losgeht, wenn ich mich ihm nähere? Wie würde ich mich verteidigen? Könnte ich noch einen Notruf absetzen? Was würde mit den anderen aus unserer kleinen Gruppe passieren, die ein paar hundert Meter hinter mir sind? Hätten sie Zeit, mir zu helfen? Sollten sie lieber sich selbst in Sicherheit bringen?

Ich erschrecke – über mich selbst: Wie um Himmels Willen ist das möglich, sich mitten in der Schönheit, Stille und Einsamkeit dieser außergewöhnlichen Landschaft einen derartigen Horror auszumalen? Mein Filmkonsum ist tendenziell eher unblutig; aber vielleicht ist es eine kurze Nachrichtenmeldung vom Vortag, die hier noch einmal „aufploppt“?

Ich habe den Mann im blauen T-Shirt inzwischen erreicht. Wir unterhalten uns über das Wetter und über die Aussicht. Er erzählt, dass er oft hierher kommt, und einfach nur da sitzt und schaut. Wenn man das eine Weile macht, sagt er, dann versteht man gar nicht, warum es in der Welt so viel Aufregung und Streit gibt. Ich fühle mich ein bisschen ertappt, aber noch viel mehr erleichtert, einem Seelenverwandten zu begegnen. Wir reden noch ein paar Minuten weiter, dann verabschiede ich mich.

Ein warmer Wind umweht mich beim Abstieg. Angst und Schreckensvisionen – das kann passieren angesichts der heutigen Nachrichtenlage. Aber Panik ist kein unentrinnbares Schicksal. Solche stillen Orte und weise, sensible Mitmenschen helfen mir, mich nicht verrückt machen zu lassen und einen klaren Kopf zu bewahren. Im Alltag sieht das vielleicht anders aus, aber auch hier gibt es solche Orte, die mich erden. Ich muss einfach nur hingehen, wie der Mann im blauen T-Shirt.

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Eine Lebensfrage – viele Stationen

Zeiten des Abschieds sind auch Zeiten der Rückschau. Hin und wieder entdecke ich dabei nicht nur einzelne Highlights, sondern Zusammenhänge – große Linien, Lebensthemen.

Ein Gespräch letzte Woche brachte mich auf eine Spur, die wirklich weit zurück reicht: Irgendwann Anfang der Neunziger pilgerte ich zum ersten Willow Creek Kongress überhaupt in Europa. Der fand im englischen Birmingham statt, in Deutschland kannte das damals praktisch niemand. Britische und amerikanische Gemeindekultur prallten dort zusammen, ich saß irgendwie dazwischen und spürte die Spannung. Aber dass es der Kirche um die Menschen gehen muss, die ihr fremd und distanziert gegenüberstehen, das war auf allen Seiten zu spüren. Mir hat es sich – eher als Frage denn als Konzept – ganz tief eingeprägt. Und Martin Robinsons „Planting Tomorrow’s Churches Today“ steht aus dieser Zeit noch in meinem Regal.

Dann wurde ELIA gegründet und wir entdeckten im Jahr darauf den Alphakurs, der mit seinem Ethos der Gastfreundschaft neue Maßstäbe setzte. Ich habe mich insgesamt 16 Jahre dafür engagiert, diese Idee zu verbreiten. Im letzten Drittel dieser Zeit spürte ich, dass die Richtung stimmt, man aber dringend noch einige Schritte weiter gehen müsste: Noch weniger konservatives Dogma, klassische Apologetik und Insider-Jargon, noch ernsthaftere Auseinandersetzung mit den Anfragen und Zweifeln der Leute, noch weniger „Komm-Struktur“, bei der wir die Bedingungen für die Begegnung mit anderen abstecken können. Und noch viel weniger Marketing-Mentalität. Dafür hat meine Überzeugungskraft damals im Vorstand nicht ausgereicht.

Manches davon hatten wir hier seit 2001  schon erkundet durch das Projekt „LebensArt – die Kirche in der Kneipe“.  Acht Jahre lang (fast) immer am ersten Sonntagabend im Monat, mit einem phantastischen Team und vielen großartigen Ideen haben wir den Beweis angetreten, dass man unterhaltsam und reflektiert, „unfromm“ und geistlich zugleich sein kann. Dafür hat uns die EKD sogar mal einen Preis gegeben, Hier sieht man die Entwicklung ein bisschen:

 


 

Als wir LebensArt 2009 aufhörten (das Team war geschrumpft, der Umzug aus dem Kneipensaal in ein kirchliches Gebäude hatte zwar mehr Platz geschaffen und uns die Arbeit erleichtert, aber allmählich kamen immer mehr Kirchenaffine und immer weniger Kirchenfremde), gelang es nicht mehr, eine Nachfolgeveranstaltung zu etablieren oder diese Erfahrungen auf das übrige Gemeindeleben (etwa die Gottesdienste) zu übertragen.

Wobei – ganz stimmt das nicht: Mit Gott im Berg haben wir über die letzten zehn Jahre diese Spur weiter verfolgt: Das Evangelium unaufdringlich, ästhetisch ansprechend, theologisch reflektiert, in verständlicher Sprache und  immer mit Bezug auf unsere Welt – bis hinein in die Politik – Menschen nahe zu bringen. Das ist harte Arbeit, aber es wird in Erlangen auch begeistert angenommen.

 

Klar ist: Gott im Berg wird weitergehen, auch wenn ich ELIA im Herbst verlasse. Und ich werde im Weitergehen an einen neuen Ort die Frage mitnehmen, wie Kirche hier und heute aussehen muss, wie wir denken und reden und auf Menschen zugehen müssen, und auf was wir dafür alles auch verzichten müssen, wenn wir nicht isoliert und unter uns bleiben wollen.

Das bleibt eine Lebensaufgabe. Doch ich denke, es wird Früchte tragen, die der Mühen wert sind.

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„Christentum so aktuell wie nie“ – ein Rückblick auf zehn Jahre „Gott im Berg“

Vor zehn Jahren machten wir uns an die nicht ganz alltägliche Idee, in Erlangens längstem Bierkeller einen Kreuzweg einzurichten. Mit Kerzen beleuchtet (dieses Feature hatten wir uns von Friedrich Engelhard vom Entlas-Keller abgeschaut), dazu schleppten wir ein paar bunte LED-Lampen mit und ein paar Klemmleuchten für die Beschreibungen der Stationen, ein paar Stunden Aufbau – und fertig.

Wir hielten uns an die klassische Kreuzwegsstruktur von der Verhaftung/Veurteilung bis zur Grablegung. Der dreimalige Sturz sollte uns in den Folgejahren noch intensiv beschäftigen: Dieselbe Szene verlangt nach drei unterschiedlichen Zugängen, Darstellungen oder Inszenierungen. Ich glaube, zehn Jahre später bin ich echter Sturz-Experte, weil wir den Grundsatz haben, jede Idee immer nur zweimal hintereinander zu verwenden. Sprich: Etwa die Hälfte der Stationen ist jedesmal gegenüber dem Vorjahr verändert.

Beim ersten Mal klebten wir ein paar Plakate in der Stadt und schrieben eine Notiz für die Tageszeitung. Es kamen 600 Leute, für einen Karfreitagsgottesdienst (nichts anderes war der Kreuzweg) schon ganz anständig. Wir haben auf religiöse Binnensprache verzichtet, nur die Bibeltexte zu den unterschiedlich gestalteten Stationen gestellt und eine minimalistische Anleitung. Über den Weg verteilt, versuchen wir alle Sinne anzusprechen. Auch das ist immer wieder eine neue Herausforderung. Aber es funktioniert so, wie ich es jüngst bei Rowan Williams über die Regeln von Poesie gelesen habe: Es entsteht ein gewisser Druck, mit den erlaubten oder erwünschten Mitteln so kreativ umzugehen, dass dabei ungewöhnliche Einfälle herauskommen, die wir andernfalls vermutlich nie gehabt hätten. 2009 nannten wir das Ganze dann „Gott im Berg“. Denn der Berg ist in Erlangen gewissermaßen ein heiliger Ort.

Dieses Jahr waren es knapp 2.200 Personen. Hier sind ein paar der rund 300 Rückmeldungen aus dem Gästebuch:

  • „Gott begegnet mir im Berg – Danke!“
  • „Sinnlich, ergreifend, und unbeschreiblich schön“
  • „Seit vielen Jahren eine liebgewonnene Art, den Karfreitag zu begehen“
  • „Mitten ins Herz; vielen Dank!“
  • „Unglaublich schön! Nicht zu übertreffen. Wunderbar und traurige Momente.“
  • „Danke für diesen besonderen Weg mit und zu Jesus“
  • „Eine beeindruckende Erfahrung und eine Reise zu sich selbst und Gott“
  • „Allmählich gewinne ich wieder mehr Vertrauen zu Gott“
  • „Man kommt leer, man geht und wird voll. Ein Erlebnis!“
  • „Sehr cool und durchaus auch spirituell.“
  • „So sollte Kirche sein: Den Bezug zur Gegenwart herstellen. Dann ist Christentum so aktuell wie nie!“

Wir sind mitgewachsen über diese 10 Jahre.  Den Andrang zu bewältigen, den das steigende Interesse im Lauf der Jahre mit sich brachte, ist einigermaßen gelungen (zwischendurch musste ich z.B. mal einem begeisterten Pfarrer ausreden, für seine Kirchengemeinde eine Busfahrt zum Berg zu organisieren). Es hat sich ein Team gefunden, das von Ideen sprüht und intensiv um gute Umsetzungen ringt. Mischa Niedermann und Arno Werner kommen jedes Jahr aus der Schweiz und rücken alles sorgsam ins rechte Licht. Dazu kommen dann noch einmal rund 50 Helfer*innen, die an Gründonnerstag und Karfreitag den Einlass regeln und im Keller auf die Ordnung achten. Das ist viel Arbeit, aber wenn man miterlebt, wie bewegt und angerührt viele Gäste den Keller verlassen, dann weiß man auch, dass es das wert war.

Die Grundsätze (Minimalistische Texte, Niederschwelligkeit, Vermeidung von frommem Kitsch, zeitgemäße Sprache und Symbole, Sinnlichkeit, Sensibilisieren ohne zu Moralisieren) sind immer noch dieselben. Es ist ein meditativer Weg – das unterscheidet Gott im Berg deutlich vom eher pädagogischen Ansatz der Ostergärten. Wir wollen nicht so sehr zeigen, was damals war, sondern erfahrbar machen, wie und wo das, was mit Jesus geschah, heute geschieht. Es gibt keine Führungen, am besten geht jede(r) allein und schweigend.

Es war und ist ein langer und guter Weg. Und wir sind noch lange nicht am Ende.

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