Weiter provisorisch

Seit zwei Jahren bin ich nun Pfarrer in Zerzabelshof (kurz: „Zabo“). Es ist reichlich Wasser den Goldbach hinabgeflossen. Das erste Jahr war vom Ankommen geprägt, ich habe den Stadtteil, die Menschen und die jüngere Geschichte der Kirchengemeinde kennengelernt. Und weil wir kurzfristig überbesetzt waren, war mein Aufgabenbereich auch nicht klar definiert. Das war nicht weiter schwierig, weil meine Frage von Anfang an war: Was braucht diese Gemeinde und wo ist Gott gerade am Werk?

Vor einem Jahr dann normalisierte sich die Personalsituation. Ein interner Stellenwechsel brachte alle Aufgaben der zweiten Pfarrstelle mit sich und verschob den Schwerpunkt Richtung Konfirmanden- und Jugendarbeit und der Verantwortung für das Kinder- und Jugendhaus „Arche“. Zum Glück hatte ich den Großteil der erforderlichen Fortbildungen für Frischlingspfarrer schon im ersten Jahr hinter mich gebracht. Ich brauchte dann einige Wochen, um mich zu orientieren, dann liefen die Dinge ganz erfreulich an.

Mitten in diesen Neubeginn fiel Corona – und machte manches umständlich und anderes unmöglich. Viele Wochen herrschte in dem Haus, in dem sich von Miniclubs über Mittagsbetreuung und Konfiguppen bis zum Repair-Café alle möglichen Gruppen treffen, ungewohnte Stille, die lediglich von einem Wespenvolk unterbrochen wurde. Im Garten war es so ruhig, dass zwei Feldhasen ihn zur Spielwiese erkoren.

Apropos Spielwiese(n): Nach einigen Experimenten mit dem Internetauftritt der Kirchengemeinde, im Dekanat und mit den Rundfunkbeauftragten, als regionaler Jugendpfarrer und neuerdings auch Umweltbeauftragter bin ich zu Beginn des dritten Jahres nun dabei, all die losen Enden wieder aufzunehmen. Nächste Woche geht es mit den verschobenen Konfirmationen los. Wenn wir dann den Kollegen Uwe Bartels im Herbst verabschieden, wird es, bis im Frühjahr oder Sommer ein(e) Nachfolger(in) kommt, wenig Langeweile geben. Aber in einer Gemeinde mit so vielen motivierten und engagierten Leuten lässt sich das bewältigen.

Ich werde nun immer öfter gefragt, ob ich schon weiß, wie es nächstes Jahr weitergeht. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht und es wird sich auch erst zum Ende des Probedienstes entscheiden. Also denke ich nicht darüber nach, sondern konzentriere mich auf die Arbeit der nächsten Monate und versuche, gut hinzusehen: Was wird gebraucht, wo regt sich geistlich etwas, wie halten wir Schritt mit den vielen Veränderungen?

Nächsten Sommer ziehen wir dann Bilanz. Bis dahin wohnen wir weiter in Erlangen, und ich reihe mich weiter ein ins Heer der Berufspendler der Metropolregion. Es bleibt alles etwas provisorisch. Aber für den Augenblick ist das ganz in Ordnung. Ich improvisiere gerne. Wann immer ich Künstler und Rebellen treffe, geht es mir gut.

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Kann / soll / möchte ich „mir treu bleiben“?

Gelegentlich begegne ich Leuten, die ich lange nicht gesehen habe. Manchmal kannten wir uns gut, manchmal nur flüchtig. Wenn man einen Weile nichts von einander gehört hat, ist es ja interessant, ob und wie sich der/die andere verändert hat. So gesehen kann die freundliche Aussage „bleib, wie du bist“ oder „immer noch ganz der alte“ ein recht zwiespältiges Kompliment sein.

Am meisten staune ich tatsächlich über die, die auch nach Jahrzehnten noch genau dieselben Ansichten und Einstellungen haben. Dann frage ich mich, ob die Veränderungen in der Welt und die Begegnungen im Laufe des Lebens spurlos an ihnen vorübergegangen sind und sie die diversen Disruptionen schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben, oder ob sie mit den Landkarten von früher auch nach all den tektonischen Verschiebungen noch leidlich navigieren können.

In solchen Situationen höre ich manchmal den Satz: „Sie/er ist sich treu geblieben“. Dann frage ich mich, ob das so stimmt: Bleibe ich mir treu, indem ich bestimmten Ansichten treu bleibe (statt „mit der Zeit zu gehen“, wie es auch manchmal heißt)? Oder bleibe ich mir treu, indem ich meine Ansichten verändere bzw. durch Ereignisse und Einsichten verändern lasse? Sind beide Wege am Ende gar gleichwertige Arten, sich selbst treu zu bleiben? Oder haben die, die auf bestimmten Positionen verharren, eher das Bedürfnis, einer bestimmten Idee (Dogma?) treu zu bleiben, einer darauf gegründeten Gemeinschaft (Kirche?) anzugehören? Ist ihnen der Frage, ob sie sich selbst treu bleiben, also gar nicht so wichtig?

Wenn ich über mich selbst und andere nachdenke, für die das Leben eine Reise voller Veränderungen ist, Glaube ein Wachsen und sich Wandeln, Nachfolge ein Ablegen bestimmter Dinge und ein Aufnehmen anderer, und der Gott der Bibel ein nomadischer Gott, ein Nichtsesshafter, dann steckt ja auch darin eine Idee, der wir treu bleiben. Freilich sehen die meisten das nicht als etwas an, das außerhalb des Selbst liegt. Obwohl es mehr und größer ist als das individuelle Selbst, fühlt es sich eher wie ein innerer Kompass an.

Photo by Jannes Glas on Unsplash

Ab und zu gibt es auf den verschlungenen Pfaden des Lebens Begegnungen, wo sich solch ein gegenseitiges Erkennen und Verstehen ereignet. Wieder ist es nicht unbedingt der Inhalt der Erfahrungen und Einsichten, der kongruent sein muss, sondern die fragende und suchende Haltung dabei. Und die Bereitschaft, über Grenzen und Selbstverständlichkeiten hinaus zu denken.

In solchen Momenten fällt mir das Familienwappen meines Großvaters ein. Darauf steht „Immer Vorwärts„. Das wirft eine Menge Fragen auf, aber es spricht eben auch eine ausgeprägte Sehnsucht an: Wir sind noch nicht angekommen. Alles ist vorläufig – ein Provisorium, das wir wieder aufgeben werden. Es ist noch nicht die Zeit, sich niederzulassen und zur Ruhe zu setzen. In dieser heiligen Unruhe (die etwas anderes ist als ein Getriebensein!) bleibe ich mir gerne treu.

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Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Distanz und Gegenwart: Clips aus dem Corona-Chaos

Das analoge soziale Leben (und mit ihm das noch deutlich analogere kirchliche Leben) steht momentan still. Die Fastenzeit hat einen ganz anderen Charakter angenommen, es geht nicht mehr um Schokolade, Fleisch oder Alkoholverzicht.

Die Beschäftigung mit dem Leiden – der Kranken, des Pflegepersonals, der Geflüchteten auf Lesbos, der Künstler und (Klein)Unternehmer, der Alleinlebenden, der psychisch Kranken, der gestrandeten Urlauber, der Familien, in denen es gerade schwierig ist (um nur ein paar Beispiele zu nennen…) – ist sehr präsent.

Ich habe, wie viele andere Kolleg*innen nah und fern (Geographie spielt da ja auf einmal eine ganz untergeordnete Rolle) in den letzten Tagen ein paar kleine Beiträge aufgenommen und hoffe, dass sie alle, die es in dieser gänzlich ungewohnten Lage brauchen können, ein bisschen aufmuntern und so ein bisschen Verbindung zu halten. Lasst gern etwas von Euch hören, entweder als Kommentar oder schickt mir eine Nachricht auf anderen Kanälen.

Passend zu manchem, was mir im Kopf herum ging, hat Hartmut Rosa diese Woche dem Philosophiemagazin gesagt:

Der räumliche Horizont beschränkt sich auf den Umkreis der Wohnung, zeitlich denken wir nur noch für ein paar Tage voraus, denn wer weiß schon, was in zwei Wochen sein wird? Das aber ändert die Art und Weise unserer Weltbeziehung: Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus. Wir haben Zeit. Wir können plötzlich hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht: Vielleicht hören wir wirklich die Vögel und sehen die Blumen und grüßen die Nachbarn. Hören und Antworten (statt beherrschen und kontrollieren): Das ist der Beginn eines Resonanzverhältnisses, und daraus, genau daraus kann Neues entstehen.

Hartmut Rosa

Und Slavoj Zizek schreibt dort, auch sehr passend: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahestehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“

und dazu gehört als Soundtrack noch:

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Plakatives zur Kommunalwahl

Das Plakat Erlanger CSU zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag passt doch wie die Faust aufs Auge in diesen Corona-Tagen, in denen nicht alle, aber erstaunlich viele sich selbst die Nächsten sind. Tage, in denen besorgte Mitbürger Klopapier und Nudeln hamstern, während aus den Kliniken Desinfektionsmittel und Atemmasken geklaut werden. Und die CSU verspricht mir Folgendes:

Kann man schwer unkommentiert stehen lassen, das fanden offenbar auch andere…

Eine Stadt, in der sich alles um mich dreht: Das Paradies aller Narzissten, Monaden und Egozentriker. In der Praxis zu gleichen Teilen asozialer Albtraum und absurde Ansage: Keine Zugeständnisse, keine Kompromisse, keine Rücksichtnahme, keine Verantwortung für andere. Anders lässt sich der Slogan kaum verstehen.

Nur: So kann ja kein Gemeinwesen existieren. Der Appell ans Reptilienhirn ist auch nicht ansatzweise visionär. Die FDP schreibt „Eine Chance für die Vernunft“ auf ihre Plakate und zielt ein paar Etagen höher. Aber wer weiß, ob damit nicht wieder nur das Vernunftmonopol der Lindner’schen Profis gemeint ist?

Immerhin gibt es klare – und ja, vernünftige – Alternativen: Das Motto „Eine Stadt für alle“ des amtierenden OB kommt vielleicht ein wenig idealistisch daher, aber die Richtung stimmt. Und die Grünen formulieren etwas nüchterner: „Für ein offenes Miteinander. #sozialestadt“.

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Verschnaufpause

Heute musste man im Wald weder Wind- noch Schneebruch befürchten, also ging ich in der Nachmittagssonne eine Runde laufen. Die Forstverwaltung hat im Herbst ein paar neue Tümpel im Buckenhofer Forst angelegt, die sich nun zum ersten Mal überhaupt mit Wasser füllen. Der Februar 2020 war (so die Werte für Nürnberg, Erlangen hat noch etwas mehr Niederschlag abbekommen) 4,4 Grad zu warm, aber er brachte auch 267% der üblichen Regenmenge. Nach zwei sehr trockenen Jahren ist das ein bisschen Rückkehr zur Normalität (falls man davon überhaupt noch reden kann).

Photo by Gary Bendig on Unsplash

Ich stand eine Weile am Ufer und schaute zu, wie sich Himmel und Sonne still und friedlich im Wasser spiegelten. Ein Entenpärchen hatte den Ort entdeckt und sich auf dem Wasser niedergelassen.

Während ich da stand, merkte ich, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig über den Sonnenschein freuen konnte. Nach dem ausgiebigen Regen ist er erst einmal keine Bedrohung für die angeschlagene Vegetation. Und die Erinnerung an Staub und Hitze der beiden letzten Sommer ist auch ein bisschen verblasst.

Es war eine schöne Verschnaufpause. Und doch wird es wohl nur eine Pause bleiben, denn die Erhitzung des Planeten hat schon so dramatisch zugenommen. Zurückdrehen lässt sie sich nicht, bestenfalls verlangsamen. Nicht nur die Bolsonaros, Trumps und Morrisons dieser Welt, sondern auch die Scheuers, Lindners und Altmeiers, die Bleifüße, Kreuzfahrer und Vielflieger hierzulande und anderswo werden sich allerdings so leicht umstimmen lassen.

Als ich mich zuhause hinsetzte, las ich die folgenden Sätze zum Leben mit und nach dem Klimawandel. Sie klingen wie eine Anleitung für die Fastenzeit, allerdings mit einem Zeithorizont, der sieben Wochen weit überschreitet:

So trivial es klingt, es wird wichtig sein, zu lernen, mit dem Wenigen, knappen Lebensmitteln und beschränkten Mitteln des täglichen Bedarfs klarzukommen. Es wird darauf ankommen, einfachste Techniken zu beherrschen, mit denen unsere Vorfahren ihr Leben gemeistert haben, handwerkliche Fähigkeiten, Basis-Techniken des Überlebens, Hilfe in der Nachbarschaft, Zusammenhalt im Freundeskreis und in der Familie.

Jörg Friedrich in telepolis

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Halbzeit

Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…

Photo by Agê Barros on Unsplash

In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.

Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.

Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.

Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.

Von mir aus darf es feste weiterknistern…

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Zu viele Engel

Ein paar Tage nach Weihnachten flatterte mir ein Text über Engel auf den Tisch – noch einer! Diese Engelbande hatte mich schon den ganzen Advent über genervt mit ihrer harmonischen Harmlosigkeit. 

Engel dichten die Lecks der Wohlstandsgesellschaft ab: Sie verglitzern die Sinn-Lücken des Überkonsums, indem sie so etwas simulieren wie Transzendenz, Himmel und Heiligkeit. Und das ganz ohne bohrende Fragen. 

Sie dekorieren die Sicherheitslücken unseres Lebens in der Gestalt von Schutzengeln. Sie helfen uns zu vergessen, wie endlich und verwundbar wir sind. So können wir angesichts all der Kranken, der Katastrophenopfer, der Toten, der unschuldig Leidenden immer noch süß schlafen.

Photo by Zoltan Tasi on Unsplash

Diese Engel sind eine Art persönlicher himmlischer Butler. Sie tragen ihren Schützling auf Händen und packen ihn in Watte – der Traum aller Helikoptereltern! Sie sagen nichts mehr über Gott und alles über uns. Wir fühlen uns mit Engeln ja so viel wohler. Sie verlangen nichts von uns, sie durchkreuzen keine Pläne und sie fragen nicht „Wo ist dein Bruder?“

Vielleicht hat Jesus ja deshalb Engel-Eskorten abgelehnt, sich lieber die Hände schmutzig gemacht und sich anspucken lassen.

Warum sagen die echten Engel eigentlich als erstes immer „Fürchte dich nicht?“ Weil sie im nächsten Satz von Gott reden, anstatt unsere Bestellungen aufzunehmen. Und weil es ihrem Gegenüber gerade dämmert, dass es mit dem ruhigen Leben und geflegten Händen jetzt vorbei ist. 

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Ordentlich Musik drin – ein Rückblick

Das neue Jahr hat begonnen und kurz bevor alles so richtig Fahrt aufnimmt, ist ein kurzer Rückblick angebracht. Die erste Hälfte des alten Jahres war ich noch mit Ankommen in der neuen Gemeinde beschäftigt. Wichtiger als die Frage, was mir denn vorschwebt oder liegt, war dabei die Frage, was die Gemeinde und mit ihr der Stadtteil denn braucht.

Ich erlebte alle Feste und die damit verbundenen Gewohnheiten und typischen Abläufe zum ersten Mal. Das erste Wochenende mit dem Kirchenvorstand und der erste Konvent mit den Kolleg*innen aus dem Prodekanat im Sommer waren beide auf die richtige Art intensiv und entspannt. Die unternehmungslustigen Konfirmand*innen vom Frühjahr wollten unbedingt noch einmal wegfahren. Für rund 20 Kirchtürme in und um Nürnberg habe ich im Sommer ein Banner produziert, das wir in der Klima-Aktionswoche um den 20. September herum dann aufgehängt haben.

Vor der Lorenzkirche in Nürnberg

Ende Juli war dann meine akribisch erstellte und verabschiedete Dienstordnung schon wieder Makulatur: Die zweite Pfarrstelle wurde zum September frei und ich wurde gebeten, diese zu übernehmen. Das war noch einmal ein Umbruch. Seither habe ich mehr mit Menschen unter 18 zu tun als drüber: Konfis, Grundschulkinder, Jugendliche. Wenn ich jetzt Gottesdienste halte, dann oft mit Schulen und Kindergärten, Kleinkindfamilien und Krippenspielern. Predigtkünste sind da Nebensache, das ist sicher der größte Unterschied zu den Jahren vorher. Meine Redeanteile liegen im einstelligen Minutenbereich und haben im besten Fall die inhaltliche Komplexität einer Radioandacht. Andere Dinge sind wichtiger: In der „Arche“, einem schon leicht abgewetzten Kinder- und Jugendhaus, hatte ich schon von Anfang meiner Zabo-Zeit an ein Büro. Nun bin ich auch der Hausherr, der schaut, was sich da alles tummelt. Und überlegt, was fehlt und was noch werden kann. Gut, dass ich auch da eifrige Helfer*innen habe.

Das Pendeln ist (im Winter mehr, im Sommer weniger) schon etwas mühsam. Irgendwann in der zweiten Hälfte dieses Jahres wird dann auch die Frage wieder aktuell, ob ich bleibe (und wir dann vermutlich umziehen), oder ob es irgendwo anders eine neue Aufgabe gibt.

Der Pflicht, mich als Frischling im System Landeskirche fortzubilden, bin ich gerne nachgekommen und im Zuge dessen erst zur re:publica 2019 nach Berlin und im Herbst zu „Predigen wie TED“ nach Wittenberg gefahren, um meinen geistiges und handwerkliches Repertoire zu erweitern. Kostenlose, aber nicht weniger intensive und effektive Fortbildung war die Arbeit an Kurzandachten fürs Radio mit Christoph Lefherz in Nürnberg und Melitta Müller-Hansen in München. Und natürlich der Lorenzer Kommentargottesdienst im Mai mit Nürnbergs OB Maly. Gut, dass etliches davon schon vor dem Sommer stattfand, denn inzwischen sind die Freiräume wieder etwas geschrumpft.

Vor etwas mehr als einem Jahr spürte ich, dass ich neben allen zielgerichteten Dingen auch eine völlig zweckfreie Sache brauche. Ich habe dann meine gute alte Takamine wieder ausgepackt und neben dem Schreibtisch aufgestellt. Eine Stratocaster und eine schnuckelige Martin LX1e haben sich dazu gesellt. Wenn mir jetzt zwischen Unterrichtsentwürfen und e-Mails der Elan oder die Ideen ausgehen, spiele ich ein paar Minuten. Die Finger sind schon etwas beweglicher geworden und die Hornhaut auf den Fingerkuppen dicker. Es war also auch ordentlich Musik drin im Jahr 2019.

Endlich war auch wieder Platz im Kopf und im Kalender, um mich im Koordinationskreis von Emergent wieder einzuklinken. Wir haben ein wunderbares Con:Fusion zu den „Zeichen der Zeit“ auf dem Lindenhof in Hemmersheim verlebt, für das uns das „Terrestrische Manifest“ von Bruno Latour die entscheidenden Fragen und Stichworte gab. In diesem Jahr setzen wir das fort, mit einem Forum vom 18. bis 20. September, in Nürnberg, in der Auferstehungskirche.

Walter Faerber und Simon de Vries

Auch in diesem Blog habe ich angefangen wieder mehr über das Thema Klimakrise zu schreiben. Eine Weile hatte ich das Gefühl, es sei im Grunde schon alles gesagt. Das Thema hat mich freilich seit Jahren nicht losgelassen, bei jedem Waldspaziergang ist es ja mit Händen zu greifen. Dann dachte ich, andere sagen es besser – die Generation Greta, Extinction Rebellion oder die Fachleute, von denen Christian Lindner so gern spricht, obwohl er ihre Warnungen seit Jahren ignoriert. Ich war richtig niedergeschlagen und bin es manchmal immer noch. Schließlich merkte ich, dass ich als Christ und Theologe einfach nicht still sein kann. Im Augenblick schreibe ich zusammen mit Walter Faerber an einem Buch, das Christen zu einem nachhaltigen Engagement für eine Veränderung unseres Lebensstils zu Gunsten bedrohter Arten und künftiger Generationen ermuntert und ein paar praktische Perspektiven aufzeigt. 70% von meinem Teil des Manuskripts habe ich inzwischen eingetütet. Wenn alles gut weitergeht, erscheint es in diesem Jahr.

Eines ist schon mal sicher: Langweilig wird 2020 auf keinen Fall.

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Holterdiepolter

Es ist schon eine ganze Weile her, aber alle erinnern sich noch genau: Wir saßen beim Essen und eines der (damals noch kleinen) Kinder warf ein leeres Glas um. Das Glas kullerte auf die Tischkante zu. Statt schnell noch danach zu greifen und den Absturz zu verhindern, hielt sich das Kind die Ohren zu. Wir anderen riefen hektisch durcheinander oder hielten den Atem an und warteten auf den Knall.

Im Augenblick rollt ein ziemlich großes und zerbrechliches Glas auf die globale Tischkante zu. Noch ließe sich der Absturz verhindern. Manche am Tisch tun so, als ginge sie das Ganze nichts an. Andere sitzen zu weit weg oder sind zu klein, um selbst eingreifen zu können. Und die, die jetzt beherzt zupacken müssten, halten sich zum großen Teil die Ohren zu.

So war es bei der enttäuschenden Klimakonferenz in Madrid vergangene Woche. Parallel dazu gab es ernüchternde Meldungen über das Verbraucherverhalten: In der EU wurde 2018 so viel geflogen wie nie zuvor. In Deutschland wurden dieses Jahr schon über eine Million SUVs verkauft, 2025 könnte jedes zweite Fahrzeug so ein schwerer Spritschlucker sein. Und die scheidende Präsidentin des Bundesumweltamtes beklagt, dass die Bundesregierung die Arbeit ihrer Behörde ignoriert oder verunglimpft (wie Markus Söder, der letzte Woche das von den Experten vorgeschlagene Tempolimit in die Rubrik „Mottenkiste“ packte).

Das Zeitfenster wird sich bald schließen. Die Hoffnung, dass die Menschheit noch rechtzeitig schaltet, ist in diesen Tagen nicht größer geworden. Es gibt einen uralten Song von Don Francisco, an dessen Ende es passend zu meinem Vergleich hier heißt:

Adam’s sons are still the prisoners of their fears
Rushing helter skelter to destruction with their fingers in their ears
While the father’s voice is calling with an urgency I’ve never heard before
„Won’t you come in from the darkness now
Before it’s time to finally close the door?“

Don Francisco, „Adam where are you?“

Bei Kindern ist das Ohrenzuhalten ja verständlich und irgendwie auch sympathisch. Wir Erwachsenen täten allerdings gut daran, andere Bewältigungsstrategien zu wählen.

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Samstags bin ich Superman

Kürzlich hatte ich wieder einmal das Missvergnügen, mehrere Stunden auf deutschen Autobahnen unterwegs zu sein. Ein paar Tage nachdem der Bundestag den Antrag auf ein generelles Tempolimit mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte, obwohl Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von 57% der Bürger dafür ist. Die 498 Abgeordneten, die gegen die Mehrheit ihrer Wähler*innen stimmten, gehören einer geschlossenen Autofront an, die von der SPD über Union und FDP bis hin zur AFD reicht. Ein Tempolimit würde zwar drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. Aber was zählen schon Vernunft und Wählerstimmen, wenn man darüber die Großspender vergrault?

Der Umwelt und der Sicherheit wegen war ich also mit etwa 130 Sachen unterwegs. Es war Samstag Abend, Geschäftsreisende und Wochenendpendler waren schon zuhause. Die LKWs wurden weniger, aber die Zahl derer, die mit 180 und mehr dahinbrettern, nahm spürbar zu. Der „ganz normale Wahnsinn“ eigentlich, nur dass er nicht von allen als Wahnsinn erkannt wird, weil wir – das gehört beim Wahn ja dazu – etwas für „normal“ halten, was es so in keinem anderen Land weit und breit gibt.

Der Deutsche rast, weil er kann

Termindruck dürfte kaum ein Grund für die Eile sein. Mein Eindruck war, der Deutsche rast schlicht und einfach, weil er kann. Und wenn diese Freiheit, durch das Vorhandensein anderer Fahrzeuge in Frage gestellt wird, drängelt er (es ist fast immer ein er) sich den Weg eben frei, indem er andere nötigt und gefährdet. Irgendwann hörte ich auf, die Szenen zu zählen, in denen (mehrheitlich dunkle) Audis, BMW und Mercedes dem Pöbel in seinen Kleinwagen ein ums andere Mal Lektionen erteilten, die allesamt lauteten: »Egal, wie langsam rechts der Verkehr läuft, die Überholspur befährst du nur unter Lebensgefahr«. Die bewusst martialisch gestylten Kühlergrills der SUVs und Oberklasse-Kombis schreien dir diese Botschaft schon auf hundert Meter Abstand förmlich in den Rückspiegel.

Photo by Blake Barlow on Unsplash

Ich musste an Marshall McLuhan denken, der schrieb: „The car is … an extension of man that turns the rider into a Superman“. Die plumpeste Couch Potato kann sich auf der Autobahn irgendwie „sportlich“ fühlen, genügend PS vorausgesetzt. Das alleine wäre vielleicht nur unfreiwillig komisch. Aber McLuhan, der das Auto auch als „Mechanical Bride“ bezeichnet, sah noch mehr und andere Auswirkungen der überbordenden Automobilität. Das Auto hat alle Räume, die Menschen verbinden oder trennen, neu arrangiert. Das hat Folgen:

… nobody seemed to notice that emotionally the violence of millions of cars in our streets was imcomparably more hysterical than anything that could ever be printed. […] Are people really expected to internalize – live with – all this power and explosive violence without processing and siphoning it off into some form of fantasy for compensation and balance?

Eine automobile Welt ist eine aggressive, gewaltsame Welt. Und diese erlebte und verübte Gewalt bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Dann schreibt er weiter:

Strangely, in so progressive an age, when change has become the only constant in our lives, we never ask „Is the car here to stay?“ The answer, of course, is „No.“ […]

At the heart of the car industry, there are men who know that the car is passing, as certainly as the cuspidor was doomed when the lady typist arrived on the business scene. What arrangements have they made to ease the automobile industry off the center of the stage?

Marshall McLuhan, Understanding Media, erschienen im Jahr 1964 (!)

Angst und „Krieg“: Können wir nicht mehr aussteigen?

55 Jahre später, womöglich etwas langsamer, als McLuhan dachte, erfüllen sich seine Ankündigungen. In einer Welt rasender Veränderung darf sich nur das Rasen nicht verändern. Es weist alle Qualitäten eines Fetisch auf, der etwas längst verloren Gegangenes irgendwie noch gegenwärtig erscheinen lässt. So wird ein Schuh aus der Tempolimitverhinderung: Denn wenn unsere Landsleute auf internationale Normalgeschwindigkeit eingebremst würden, dann könnte all die unverrichtete Trauer über das, was wir schon längst verloren haben, mit einem Schlag über uns hereinbrechen. Droht also eine echte Identitätskrise, wenn das Rasen ein Ende hat?

Manche politischen Akteure scheinen das zu befürchten, wenn Sie den Befürworter*innen der Verkehrswende vorwerfen, einen „Krieg gegen das Auto“ zu führen. Wir kennen das vom „Krieg gegen die Kohle“: Politiker, die diese Phrase verwenden, spielen den Anwalt „der kleinen Leute“ und einfachen Menschen. Sie werden allerdings (in den USA gut zu sehen) von Milliardären wie den Koch-Brüdern dafür belohnt und unterstützt. Und so lesen sich McLuhans Sätze aus den Sechzigern wie Prophezeiungen, die gerade in Erfüllung gehen. Wie aber schützt man sich vor dem Grauen, das immer mehr ans Bewusstsein drängt? Zum Beispiel, indem man ein SUV kauft. Vor ein paar Wochen las ich in der taz:

Das SUV, das sind wir. Niemand kauft ein solches Monstrum wider besseres Wissen. Er kauft es, eben weil er über den Krieg auf den Straßen – und nicht nur dort – informiert ist, buchstäblich nicht unter die Räder kommen will.

… [es ist ein] dystopisches Fluchtfahrzeug. Wenn dereinst alles zusammenbricht, dann kann ich damit querfeldein den Abflug machen. Notfalls … auch über Leichen. Es ist in seiner aggressiven Defensivität das Fahrzeug der Stunde.

… Spätestens hier wird klar, was das Ding eigentlich soll. Es ist nicht unmenschlich, sondern allzu menschlich. Wir wollen das, wir brauchen es. Es reinigt die von uns verpestete Außenluft, sobald sie zur Innenluft wird …
Es schützt uns vor einer allzu … gefährlichen Welt, wobei es die Welt noch gefährlicher macht, wovor es uns aber schützt. Denn wir sitzen hoch droben. Das zentralverriegelte SUV ist die Lösung für alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme unseres Jahrhunderts.
Und deswegen können wir nicht mehr aussteigen.

Arno Frank in der taz

Keine zehn Jahre nach McLuhans vorausschauenden Worten spielte sich eine Episode ab, an die ich in diesen Tagen öfter denken musste: Autofreie Sonntage im Zuge der Ölkrise 1973. Menschen fingen an, über die Grenzen des Wachstums nachzudenken. Wir machten als Familie einen Spaziergang über die Umgehungsstraße unseres Dorfes, auf der sonst in unschöner Regelmäßigkeit Menschen tödlich verunglückten. Leider blieb es nur eine Episode. Und die Autos von damals erscheinen heute lächerlich klein und zerbrechlich.

Vom Gas gehen

Mit oder ohne Zwang: Vielleicht täten uns solche Pausen gut. Aussicht auf Erfolg besteht allerdings wohl nur da, wo sie nicht zum Anlass für rechtes Kriegsgeschrei genommen werde, sondern als Chance, mal nach unseren dauernden unterschwelligen Angstzuständen zu fragen, über das zu trauern, was schon längst verloren und vorbei ist: Die Zeiten nämlich, als wir nach Herzenslust konsumieren und emittieren konnten, ohne von den globalen Auswirkungen dieses Lebens eingeholt zu werden.

Am großen Klima-Freitag Ende September fand in Nürnberg eine „Critical Mass“ statt. Am Treffpunkt des Fahrradpulks stöckelte eine Dame mittleren Alters auf und ab und begann, einzelne Radfahrer persönlich zu beschimpfen. Sie benutzte eine nicht nur in rechten Kreisen beliebte Argumentationsfigur: Wer auch nur irgendein Kleidungsstück aus Kunstfaser trug, den stellte sie als Heuchler und Lügner hin, der kein Recht habe, Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu üben. Irgendetwas an dieser bunten, friedlichen Fahrradtruppe hatte sie offenbar maßlos provoziert.

Immer wieder mal wird ja den Aktivisten die Schuld an solchen Gegenreaktionen angehängt. Und freilich gibt es klügere und weniger kluge Formen des Protestes. Trotzdem – wer sich an diesen Zuweisungen beteiligt, verwechselt meines Erachtens Ursache und Auslöser: Keine(r) der Anwesenden hatte dieser Frau etwas getan. Die Selbstgerechtigkeit, die sie uns so erbittert vorwarf, war ihre höchst eigene Bewältigungsstrategie – für eine Welt, die sich bedrohlich verändert hat, wenn man mal die Autotür öffnet.

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Das ist doch nicht normal!

Feierabend. Ich radle flott durch die Innenstadt nach Hause. Ein weißer BMW parkt mitten auf dem Radweg und zwingt mich zu einer Vollbremsung. Ich weiche lieber nicht auf die Fahrbahn aus, sondern zwänge mich vorsichtig auf dem Fußweg vorbei. Der Fahrer sitzt im Wagen, das Fenster ist offen. Ich spreche ihn an und bitte ihn freundlich, sich einen anderen Parkplatz zu suchen.

Photo by AbsolutVision on Unsplash

Statt sich zu entschuldigen, wird der Mann am Steuer wütend. „Das ist doch nicht normal!“ schreit er mir von seinem Sportsitz entgegen, und dass er ja sowieso nur kurz… Ich habe keine Lust, mit ihm zu streiten. Offenbar ist es für ihn normal, Radwege als Parkstreifen zu nutzen. Für andere ist es normal, den Hund sein Häufchen in den Park setzen zu lassen, Zigarettenkippen am Bahnhof ins Gleisbett zu schnippen oder sexistische Sprüche zu klopfen.

Unsere Normalität kann ziemlich problematisch sein. Deshalb ändern sich manchmal die Regeln. Privilegien fallen weg. „Normal“ ist plötzlich nicht mehr normal. 

Was gilt noch, wenn sich alles ändert? Die „goldene Regel“ aus der Bibel hilft mir: Gehe mit anderen so um, wie du es dir selber auch wünschst. Wenn ich mich in andere, vor allem Schwächere, hineinversetze – Fußgänger, Kinder, Fremde, alte Menschen – dann werde ich Rücksichtslosigkeit auch da nicht „normal“ finden, wo die Gesellschaft noch ein Auge zudrückt.

Wer’s lieber hört, kommt hier auf seine Kosten

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Die Gewitterbrille

Meine Frau ist mit dem Fahrrad unterwegs zu einer Freundin. Auf halber Strecke sieht sie, dass sich am Himmel rabenschwarze Wolken auftürmen. „Oh, da braut sich ein Unwetter zusammen, und ich fahre genau darauf zu“, denkt sie. Weil sie keine Regensachen dabei hat, dreht sie vorsichtshalber um und sagt der Freundin für heute ab. 

Zuhause angekommen stellt sie fest, dass sie die ganze Zeit ihre Sonnenbrille auf hatte, und nimmt sie ab. Ohne dunkle Gläser sehen die finsteren Wolken plötzlich ganz harmlos aus. Aber es ist inzwischen zu spät, um noch einmal loszuziehen. Wir lachen gemeinsam über ihren gescheiterten Ausflug.

Photo by Katarzyna Kos on Unsplash

Manchmal begegnen mir Menschen, die in harmlosen Situationen schon schwarz sehen. Ich frage mich dann, was es wohl braucht, damit sie ihre mentale Gewitterbrille abnehmen. Sie müssen sie ja nicht gleich gegen eine rosafarbene eintauschen. Den größten Gewinn hätten sie dabei selber: Weniger Sorgen, keine unnötigen Rückzieher. Mehr Zeit mit Freunden, mehr gute Momente auf Gottes Erde.

Ein Weg dahin, die getrübte innere Optik zu korrigieren, ist die Dankbarkeit. Sonntags lasse ich die Lichtblicke der letzten Woche Revue passieren: War war gut? Was ist mir (oder uns!) gelungen? Was habe ich neu gelernt? Worüber habe ich mich gefreut? 

So eine Dankbarkeitsbrille ist übrigens völlig ungefährlich, sagt meine Frau…

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Der kleine Musikant

Eine Urnenbeisetzung letzte Woche. Die Februarsonne wärmt die Gesichter. Schneeglöckchen recken sich ihr entgegen. Auf den Pfützen am Boden schwimmt noch das Eis der letzten Nacht.

Wir versammeln uns um das Grab. Und mit uns ein Buchfink. Er sitzt direkt über uns, ungewohnt nahe, auf dem Zweig einer Tanne.

Und dann singt das kleine Wesen aus vollen Hals. Inzwischen sind alle Worte gesagt und alle Blumen abgelegt. Als letzte steht die Witwe des Verstorbenen noch da. Sie lauscht dem fröhlichen Gezwitscher, und dann schaut sie auf und sagt: „Wie schön er singt. Als hätte ihn jemand bestellt“.

Und auch ich denke mir: Den kleinen Musikanten hat uns einer geschickt. Und er hat mit seiner Lebensfreude die Herzen erreicht.

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Gott spielen

Im Krippenspiel am Heiligabend spielt Gott mit. Er trägt Pferdeschwanz und Brille und geht in die siebte oder achte Klasse.  Anscheinend hat Gott dem Religionslehrer von seiner Rolle erzählt. Der fragte prompt zurück, ob das nicht eine sehr persönliche Vorstellung von Gott sei, wenn er da leibhaftig mitspielt. Gott schaut mich fragend an, ich bin ja der Pfarrer. Wenn das ein Problem sei, antworte ich, dann dürften wir ja auch nicht „Vater unser im Himmel“ beten. Gott nickt zufrieden und spielt weiter.

Natürlich ist Gott in einem anderen Sinn Person als wir. Das Attribut bezeichnet „nur“ eine Ähnlichkeit. Aber ihn als Nichtperson zu betrachten wäre noch viel falscher. Vielleicht sind wir manchmal nicht Person genug, um Gott sinnvoll abzubilden. Eine Grundähnlichkeit bleibt allerdings. 

Ursprünglich hatten wir eine andere Besetzung im Auge, mit erkennbarem Migrationshintergrund, aber der streng (christlich-) religiöse Vater verbot dem Darsteller den Auftritt mit Verweis auf das mosaische Bilderverbot. Dieses bezieht sich jedoch nicht auf Gott allein, sondern auf Lebewesen aller Art. Buber übersetzt: 

„Nicht mache dir Schnitzgebild, — und alle Gestalt, die im Himmel oben, die auf Erden unten, die im Wasser unter der Erde ist.“

Ex 20,4

Jede Art gegenständlicher religiöser Kunst wäre damit streng genommen tabu. Wenn wir aber wie hier über Schauspiel sprechen, darf man ja nicht übersehen, dass Gott im Ersten Testament rituell ständig repräsentiert wird, nämlich durch Priester. Also Menschen. 

unsplash-logoBen Sweet

Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir meinen könnten, ein ganz bestimmter Mensch sei exklusiv Gottes Bild und Stellvertreter. Oder dass unsere Inszenierungen von Macht, Reichtum und Schönheit Annäherungen an Gott darstellen. Der Menschensohn, das authentischste Bild Gottes, das wir haben, fällt nicht in diese Kategorie des Spektakulären. Vielmehr weiß der Prophet:

Wie ein Keimling stieg er auf vor sich hin, wie eine Wurzel aus dürrer Erde, nicht Gestalt hatte er, nicht Glanz, daß wir ihn angesehn hätten, nicht Aussehn, daß wir sein begehrt hätten, 

Jes 53,2 (Buber)

Wenn wir dann noch ernst nehmen, dass Gottes Geist auch in Menschenkindern wirkt, die Pferdeschwanz und Brille tragen, in die achte Klasse gehen oder sonst irgendwelche gewöhnlichen Dinge tun – wie wir alle –, dann sollte es auch kein Problem sein, ihn am Heiligabend mitspielen zu lassen. 

Und wenn uns Weihnachten daran erinnert, dass Gott nun ganz viele menschliche Gesichter hat, dann kommen wir vielleicht nicht so schnell auf die Idee, Gott zu spielen. Wie manche Eltern im Leben ihrer Kinder. Wie manche Chefs und Professoren. Wie manche Ärzte und Wissenschaftler oder auch Pfarrer und Bischöfe. Wie manche – nein, alle! – Kriegsherren.

Dann hätte sich der ganze Aufwand gelohnt.

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