“b16”, der (post?)moderne Relativismus und wir

“Postevangelikale” haben ein deutlich unverkrampfteres Verhältnis zur katholischen Kirche. Wenigstens müssen sie sich nicht bei jeder Erwähnung und zwanghaft dogmatisch abgrenzen und stereotyp die Litanei katholischer “Irrlehren” herunterleiern, bevor sie etwas würdigen. So kann man auch “b16” (genial kurz für: Benedikt XVI) und die Akzente, die er setzt, nun mit erfrischender Offenheit betrachten.

Die Gefahren des Relativismus hat Kardinal Ratzinger noch kurz vor seiner Wahl zum Pontifex betont. Mit Rene Girard hat die “Literarische Welt” kürzlich einen der profiliertesten katholischen Denker befragt. Er sagt in dem spannenden Interview zum Thema Christsein in einer multikulturellen Welt über den neuen Papst: “Ratzinger ist ein intelligenter Konservativer. Er möchte den Fundamentalismus mancher Moslems und Christen (überhaupt keinen Wandel) vermeiden und gleichzeitig der Idee entgegentreten, daß alles Neue besser als das Alte sei.”

Letzteres (neu = besser) ist eigentlich ein typisch moderner Gedanke. Ob also der radikale Relativismus ein – vielleicht sogar das primäre – Wesenselement der Postmoderne ist, oder aber ein Übergangsphänomen, eine Altlast der Spätmoderne darstellt, ist schwerer zu bewerten.

Brian McLaren hat für eine differenziertere Sicht der Postmoderne plädiert, die ich recht plausibel finde: Hier ist der Relativismus nur eine Art “Chemo” gegen den reduktionistischen Rationalismus. Auch G. K. Chesterton war schon 1908 – lange vor aller “Postmoderne” – der Meinung, dass nicht der Glaube, sondern zuerst der Rationalismus vom Relativismus bedroht war. Für ihn war radikale Skepsis der Selbstmord des Denkens: “It means that there is no such thing as a thing. At best, there is only one thing, and that is a flux of everything and anything. This is an attack not upon the faith, but upon the mind” (Orthodoxy, 27).

Moderner Relativismus verwechselt Toleranz allzu oft mit Indifferenz. Damit aber wird Toleranz billig, weil es mich nichts kostet, eine andere Meinung stehen zu lassen, wo ich selbst keine Überzeugung habe und für mich nichts auf dem Spiel steht. Solch unterkühlte Distanz verändert nichts zum Guten und hat dem Bösen kaum etwas entgegenzusetzen: “But the new rebel is a sceptic, and will not entirely trust anything. He has no loyalty; therefore he can never be really a revolutionist” (Chesterton, Orthodoxy, 35). Das sieht auch ein prominenter Gesprächspartner von b16 ähnlich: “Wir brauchen nicht tolerant zu sein, wenn wir gegenüber fremden Auffassungen und Einstellungen ohnehin indifferent sind oder gar den Wert dieses ”Anderen“ schätzen. Die Erwartung von Toleranz mutet uns zu, eine auf kognitiver Ebene fortbestehende Nicht-Übereinstimmung, die aus Gründen der Konsistenz nach der Auflösung von Widersprüchen drängt, auf der Ebene sozialer Interaktion in dem Sinne auszuhalten, dass wir sie for the time being dahin gestellt sein lassen.“ (J. Habermas)

Echte Toleranz, die die kognitive Dissonanz nicht leugnet oder verharmlost, sondern stehen lässt und aushält, haben wir heute nötiger denn je. Unsere Welt ist voller Brüche und Inkonsistenz. Platter Relativismus führt nur in die Gleichgültigkeit, die über kurz oder lang in Ignoranz mündet und eine ideale Brutstätte für Vorurteile (und damit schlimmste Intoleranz) zu werden droht. Es ist nicht einzusehen, dass man von Wissenschaftlern und Politikern erwartet, dass sie an ihre Konzepte glauben (und sie folglich für „besser“ halten als die alternative Ansätze), aber in religiösen Fragen schon das Vorhandensein einer Überzeugung als intolerant hinzustellen versucht, selbst wenn sie mit offener Haltung und in fairer Auseinandersetzung vertreten wird.

Vielleicht ist es die Aufgabe der Christen in der Postmoderne, alle Fremden und Andersdenkenden radikal zu lieben und genauso unerschütterlich zu der Erfahrung zu stehen, dass der Schlüssel zum Verständnis der Welt und der eigenen Identität die Liebe Gottes in Jesus Christus ist. Und die Kraft dieser Überzeugung den anderen sucht, ihm auf Augenhöhe begegnet und sich bewusst verletzlich macht.

Girard kann man in dieser Richtung verstehen, wenn er sagt: “Die Bedeutung der Menschwerdung Jesu Christi liegt darin, daß Mensch und Gott miteinander in einer Art und Weise verbunden sind, die allein der christlichen Theologie vorbehalten ist, in jeder anderen Religion unvorstellbar und meiner Ansicht nach allen anderen absolut überlegen ist. Die alte griechische Konzeption von einem Gott ohne Verbindung zu den Menschen ist nicht ausreichend – weder im Fall der Moslems, die sich auf das Märtyrertum konzentrieren, noch im Fall der fundamentalistischen Christen, die die Apokalypse beschwören.”

Auf dem Weg weg von alten Berührungsängsten hin zu einer echten Offenheit, die nicht in der Gleichgültigkeit stecken bleibt, fand ich Steve Chalkes „The Lost Message Of Jesus“ einen sehr hilfreichen Denkanstoß. Girard und b16 könnte es jedenfalls gefallen 😉


„LOST MESSAGE OF JESUS“ (Steve Chalke, Alan Mann)

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