Alptraum-Lektüre

Wolfgang Simson hat zum nächsten literarischen Streich ausgeholt: Die Starfish-Vision. Sie besteht so ungefähr darin, die Hälfte der Weltbevölkerung durch exponentiales Wachstum der Christenheit für ein Jesus-Imperium (!) zu rekrutieren.

Das ist in verschiedenen Schattierungen Wolfgangs Traum, so lange ich ihn kenne, und er hat ihn mit einer neuen Metapher zum x-ten Mal recycelt. Nur der Ton wird schärfer und ungeduldiger, je älter er wird. Das gibt zu denken. Der Stein der Weisen wechselt bei ihm, und diesmal hat er offenbar Starfish and Spider gelesen. Zwar beschwert er sich immer wieder über das Einsickern unbiblischer Ideen, aber diese Theorie (die er nicht als solche deklariert) ist „prophetisch“ und der Seestern immerhin Gottes Schöpfung, das muss reichen. Früher hatte er über die Reproduktionsraten von Karnickeln geschrieben…

Natürlich wäre das alles schon eingetreten, wenn die Christen nicht so gut wie alles falsch gemacht hätten. Kein Wort davon, dass das Wachstum der Christenheit am Übergang von der vormodernen zur modernen Welt stattfindet und sich das schwerlich in Europa des 21. Jahrhundert mal so locker reproduzieren lässt. Stattdessen sind die traditionellen Kirchen und Konfessionen schnell als Das Problem ausgemacht. Und wenn Wolfgang an denen bisher schon kein gutes Haar gelassen hat, schreibt er sie in dieser „Vision“ nun in Grund und Boden.

Es geht, so Simson, nicht darum, die Welt zum Guten umzugestalten, sondern darum, in ihr das Imperium Gottes aufzurichten. Dem leidlich sensiblen und sprachlich problembewussten Leser stellen sich die Nackenhaare auf bei der Flut autoritärer Termini, die auf ihn einprasseln. Oder bei solchen plumpen und gar nicht neuen Parolen wie dieser:

Jesus hat uns beispielsweise aufgetragen, „seine geringsten Brüder“ (Mt 25) zu kleiden, Gastfreundschaft zu gewähren, ihnen Essen zu geben und sie (im Gefängnis) zu besuchen. Ein „Bruder von Jesus“ beschreibt allerdings einen Menschen, der Teil von Gottes Haushalt ist, nicht aber jemanden, der nicht zu Jesus gehört. Trotzdem viele geradezu kämpferisch das Gegenteil beteuern, hat Jesus uns nicht aufgetragen, die Hungrigen der Welt zu ernähren, alle Krankheiten dieser Welt zu heilen, die Armut abzuschaffen, und dafür zu sorgen, dass jeder Mensch des Planeten eine Ausbildung, sicheres Trinkwasser und medizinische Grundversorgung erhält. Das sind Dinge, die uns unser gefallenes und verwundetes Rechtsempfinden diktiert, nicht aber Gott.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Kranken und armen Nichtchristen helfen zu wollen ist Folge sündhaften Orientierungsverlustes und behindert Gottes eigentlichen Plan. Spätestens da kann man das Buch getrost wieder weglegen und darauf warten, dass Wolfgang den nächsten Stein der Weisen findet. Ich tippe auf 2012. Bis dahin reicht es mir aber auch erst mal.

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2 Antworten auf „Alptraum-Lektüre“

  1. … also mir hat es schon vorher gereicht! Wenn auch immer wieder der eine oder andere Satz von ihm aufrüttelnd und amüsant war, wirklich ernst nehmen kann ich den schon lange nicht mehr. es fällt mir echt schwer über ihn differenziert zu diskutieren. 2012? ich hoffe, der findet gar keinen Stein mehr.

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