Abtrünnige

Vielleicht liegt es daran, dass ich mich zur Zeit mit mittelalterlicher Gnadenlehre beschäftige: Heute fiel mir ein Gespräch mit einem Bekannten ein. Es liegt schon länger zurück. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf das Thema kamen, aber er war ziemlich verärgert über einen Pfarrer, der für sein Empfinden eine laxe Haltung zum Thema Ehe und Scheidung hatte. Sinngemäß sagte er damals: Unsereiner strengt sich an und hält durch, und der macht es sich leicht. Dabei sollte er doch ein Vorbild sein. Ich spürte: Der Mann war bei ihm wirklich „unten durch“.

Vermutlich kann man das auch im Blick auf andere Themen so empfinden: Einer hält die Regeln ein, der andere bricht sie – das fängt schoin im Straßenverkehr an. Die einen stehen zu einer Überzeugung, verteidigen einen Wert und lassen sich das etwas kosten, andere scheren aus dieser Solidarität aus – und man fühlt sich plötzlich noch mehr auf verlorenem Posten als zuvor. Und so wächst die Wut auf Streikbrecher, Fahnenflüchtige, Kollaborateure und Verräter an der guten Sache.

Lassen wir es mal dahingestellt sein, ob es tatsächlich eine leichtfertige Entscheidung war, die jener Pfarrer traf.Es ist in Ordnung, empört zu sein, wenn ein Mensch selbstsüchtig handelt, wenn jemand andere mutwillig gefährdet, verletzt oder im Stich lässt. Aber manchmal stehen wir vielleicht auch in der Gefahr, dass sich unsere Empörung nur vordergründig darauf bezieht und dahinter die eigene Sorge zum Vorschein kommt, etwas zu verpassen oder sich ausnutzen zu lassen.

Trotzdem: Ich hätte meinem Bekannten in dieser Situation die Gelassenheit gewünscht, dass sein persönlicher Weg gut und richtig ist. Dass seine Konsequenz und Prinzipientreue sich lohnt, dass er sich morgens mit Dankbarkeit statt Bedauern im Spiegel ansehen kann, dass er seinen Weg fröhlich und mit erhobenem Haupt geht. Und dass er nicht zu oft nach rechts und links schaut, sondern den anderen, der das (aus welchem Grund auch immer) nicht fertig brachte, mit Barmherzigkeit betrachtet. Und mir selber wünsche ich das auch.

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4 Antworten auf „Abtrünnige“

  1. Mein spontaner Gedanke war: wenn es wertvoll ist zu halten, dann nicht aus einer ethisch/moralischen Begründung, sondern schon aus sich selbst heraus. Das Einhalten ist nicht nur wichtig, um Werte zu verteidigen – sondern es genügt völlig, dass das Einhalten natürliche gute Früchte trägt.

    Beispiele wären Zähneputzen, Joggen, Zeit mit Gott genießen, Zeit in der Gemeinde oder im Hauskreis genießen, jemandem ein Geschenk machen…

    Was meinst du?

  2. Amen dazu – das ist uns allen zu wünschen ! Es fällt halt manchmal nicht leicht. Insbesondere wenn man sieht, dass Andere, die nicht bereit sind Ihr Ego zugunsten
    kommunitärer Werte zurück zu stellen dann noch als Anklagende und Fordernde auftreten – da fällt Lockerheit oft schwer….

  3. @Thomas: Bei solchen guten Gewohnheiten ist das sicher plausibel. Freilich gibt es auch die Situationen, wo man den Eindruck bekommt, dass z.B. der Ehrliche der Dumme ist, man also echte Nachteile in Kauf nimmt, wenn man sich „richtig“ verhält. Hier wird es dann schwieriger, eine positive Sicht zu finden.

    @spiritus lector: Klar, wenn dann jemand auch noch dreist und unverschämt handelt, ist das noch etwas anderes. War aber in diesem Fall eher nicht so.

  4. Wie sagte der Vater des Konfirmanden? „Wir mussten früher Lieder und Bibeltexte auswendig lernen und jeden Sonntag zum Gottesdienst – warum sollte mein Sohn es besser haben?“

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