Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend stellt heutige Ausleger vor große Probleme, scheint mir (keine Ahnung, ob die Ausleger selbst das auch merken). Vieles, was dazu gesagt wird, bewegt sich auf den folgenden zwei Ebenen:
Die eher fromme Predigt wird das Wunder betonen, und daraus resultierend die göttliche Allmacht, in der Jesus hier „übernatürlich“ handelt und Unmögliches tut. Sie wird zum Staunen angesichts dieser Allmacht aufrufen und als Anwendung … ok, da wird es dünn: Entweder heißt es dann recht unspezifisch (und damit immer „richtig“, aber seltsam irrelevant, weil die Art dieses Wunders dafür gar keine Rolle spielt): Vertrau, dass Jesus auch in deinem Leben Wunder tut. Oder der Hunger wird spiritualisiert und dann macht Jesus uns eben alle irgendwie innerlich satt und zufrieden mit unserem Leben, und natürlich geschieht das durch sein Wort (der Mensch lebt ja schließlich nicht vom Brot allein…), oder sie wird das wahre Bedürfnis einer jeden Menschenseele darin sehen, Vergebung zu empfangen, die angesichts Gottes unbestechlicher Gerechtigkeit aber eigentlich noch unmöglicher ist und daher ein noch größeres Wunder, das nur Jesus allein tun kann.
Die eher liberale Alternative wird das Wundersame in den Hintergrund rücken (oder gleich komplett bestreiten) und dann vom Teilen reden, sie wird sagen, dass es auf der Erde genug gibt jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier, es ist dann von Solidarität die Rede und wie Jesus ein Zeichen setzt, vom Teilen und davon, dass jeder irgendwie bedürftig ist, oder auch von der Verantwortung, die Jesus seinen Jüngern für ihre Mitmenschen auferlegt, obwohl die sich doch ganz ohnmächtig fühlen. Es ist eben oft „mehr möglich“, als man denkt.
Tabgha am See Genezareth – hier hat der Tradition nach die Speisung stattgefunden
Aus beiden Richtungen kann man dann über die Stichwortassoziation „Brot“ die Kurve zum Abendmahl kratzen und damit ein bisschen verschleiern, dass man aus dem Text nur das herausgelesen hat, was eh schon jeder wusste: Vergebung und „spiritueller Hunger“, Solidarität und Teilen, irgendwie ist das wichtig und richtig und hat mit Jesus zu tun.
Weitgehend ausgeblendet wird in beiden Fällen der Kontext von Armut und Hunger, der eben nicht der unsere ist. Die Leute hatten ja nicht einfach ihr Picknick vergessen oder die Ladenschlusszeiten ignoriert. Dabei lehrt Jesus ja auch im Vaterunser, um das tägliche Brot zu beten und den Erlass der Schulden, was schon ein klarer Hinweis darauf ist, dass er es mit verarmten und verschuldeten Menschen zu tun hatte, die sich aus gutem Grund um ihren Lebensunterhalt sorgten (und nicht fürchten mussten, beim üppigen Konsum nicht mithalten zu können). Die Knappheit hatte mit der Steuerlast durch Kaiser, Militärgouverneure und die üppigen Ansprüche der Tempelpriesterschaft zu tun. Eine Missernte führte zum Verlust des Saatguts, zu Schulden, in die Verpfändung von Grund und Arbeitskraft, in Armut und Unterernährung, selbst in einem eigentlich so fruchtbaren Gebiet wie in Galiläa. Daher steht am Anfang auch die implizite Kritik an der selbstsüchtigen Aristokratie: Die Menschen sind „wie Schafe ohne Hirten“ (Markus 6,34 vgl. Ezechiel 34).
Ebenso unsichtbar bleibt meistens die anti-imperiale Zuspitzung der Speisung. Ein Kapitel zuvor „versenkt“ Jesus in der Dekapolis eine „Legion“ Dämonen via Schweineherde im See. Eine Legion hatte etwas über 5.000 Soldaten. Jesus speist also nun am galiläischen Ufer eine Legion Menschen, und dazu teilt er sie in Gruppen zu Hundert – da kann man an Zenturien denken, oder an die Abteilungen von 50 und 100 aus Israels Richter- und Königszeit. Nur ist diese Armee der Hungernden unbewaffnet und bekommt von Jesus das, was sie normalerweise an die Besatzer abtreten müssen: Nahrung. Und zwar mehr als genug. Das Ereignis wird als Machttat bezeichnet, weil es tatsächlich die Machtfrage berührt. Jesus stellt, und sei es auch nur für den Moment, eine Anti-Legion der Hungernden auf. Und nachdem diese Legion abgezogen ist, ist mehr Essen übrig, als am Anfang da war (vgl. 2.Könige 4).
Die Frage, die sich für jede Auslegung und Aktualisierung daraus ergibt, ist für mich die: Verliert diese Erzählung nicht jeden Sinn, wenn sie aus diesem Kontext von Armut und Unterdrückung herausgelöst wird, und wenn sie von Menschen erzählt und aktualisiert wird, die dafür kein Verständnis haben, weil sie im Überfluss leben? Im Magnificat heißt es: „Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Und unmittelbar davor lesen wir: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“
Während ich die letzten Zeilen dieses Blogeintrags schreibe, lese ich, dass heute Nacht ein Brandanschlag auf die Brotvermehrungskirche in Tabgha verübt wurde. Im Mutterkloster der Benediktiner von Tabgha, der Dormitio in Jerusalem, gab es am 26. Mai auch schon eine Brandstiftung. Es scheint ein Zusammenhang mit rechtsextremen Siedlern im Westjordanland zu bestehen.
Hallo Peter,
danke für diese inspirierenden Gedanken und die Bemühung, dich zwischen den bereits bekannten Extremen zu bewegen.
Ich habe eine Frage zu der Schafe ohne Hirten Stelle. Lese ich richtig, dass du das als „Ihr braucht keine (irdischen) Hirten“ deutest („…, denn ich bin bei euch“)?
Bisher klang es immer einfach nach „Ihr braucht mich als euren Hirten“.
LG,
Pat
Ich glaube, Jesus stellt nicht unbedingt in Frage, dass es in menschlichen Gemeinschaften Führungsaufgaben gibt, aber die müssen herrschaftsfrei versehen werden. Und freilich bringt er sich als Gegenbild zu den Mächtigen seiner Zeit ins Spiel, also auch ganz „irdisch“. Aber seine Mission besteht darin, Herrschaftssysteme zu entmachten.