Mit dem Ruf nach Recht und vor allem „Ordnung“ werben Politiker der Rechten von Putin bis Le Pen für ihren Kurs. Sollte man ihnen dabei zustimmen oder muss man ihren Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft – als Christ wenigstens – energisch widersprechen?
Ich hatte kürzlich schon einmal Walter Dietrich zum Thema Gerechtigkeit zitiert. Für ihn stellt das Stichwort die Achse dar, um die sich das Erste Testament dreht, alle Brüche und Widersprüche eingeschlossen. Dietrich charakterisiert die Grundspannung an dieser Stelle so, dass er quasi von einer Gerechtigkeit von oben und einer von unten redet:
Rückblickend stellen wir fest, dass die gesamte Geschichte des Volkes Israel von der Grundfrage bestimmt ist, wer das Recht auf seiner Seite hat, wer am Ende Recht behalten soll: die mit den Verhältnissen jeweils Zufriedenen, weil durch sie Bevorzugten, mit ihrem Weltbild eines zuverlässig stabilen Kosmos und eines geregelten Oben und Unten zwischen den Menschen, und ihrem Gottesbild von einem majestätisch fernen, verlässlich gleichbleibenden, in uralten Mythen und festgelegten Riten zu verehrenden Hochgott – oder die an den Verhältnissen jeweils Leidenden, die durch sie Benachteiligten, mit ihrem Weltbild von der möglichen und oft genug erwiesenen Veränderbarkeit der Ordnungen und vom Recht aller auf ein menschenwürdiges Leben, sowie ihrem Gottesbild von dem durch die Geschichte mitgehenden, sich in die konkrete Lebensgestaltung der Menschen einmischenden und namentlich die Schwachen schützenden Gott des Volkes .
Richard Horsley argumentiert, dass der Aufstieg Israels zum Königreich und zur zeitweiligen Regionalmacht diese begriffliche Doppelbödigkeit verursachte, weil ab Saul, David und Salomo das imperiale Königsrecht zunehmend neben und allmählich über das mosaische Bundesrecht gesetzt wird, das aus der Erinnerung an Sklaverei und Befreiung eine hierarchische Gesellschaft und ein wirtschaftliches Gefälle im Volk verhindern sollte, eine Art sozialökonomische Charta. Er schreibt: „Israel war im Blick auf JHWH eine Theokratie, hinsichtlich der konkreten sozialen Praxis könnte man es aber als kooperative Anarchie bezeichnen.“
Gott verschafft den klagenden Hebräern Recht, und er gebietet ihnen auch, Recht zu halten – Spiritualität und soziale Verhältnisse werden mit demselben Wortfeld charakterisiert. Die Propheten klagen auch in den folgenden Jahrhunderten die alte, egalitäre mosaische Ordnung immer wieder gegen die (in ihren Augen: heidnische) Machtpolitik der Könige ein und kündigen sogar das Ende der Monarchie an – und des Tempels, mit dem die Könige sich schmückten und dessen Priester ihnen ergeben waren.
In der neu entwickelten Ideologie des imperialen Königtums wurde der König „zur Rechten Gottes“ inthronisiert und im Namen Gottes als „der Messias“ ausgerufen, „der (eingeborene) Sohn JHWHs“ (wie die Großen Mesopotamiens), dem Gott alle Könige und Völker unterworfen hat (Psalm 2; 110). Die Ideologie imperialen Königtums richtete sich auf einen anderen „Bund“ – zwischen JHWH und der davidischen Dynastie – der schließlich den mosaischen Bund zwischen JHWH und dem ganzen Volk überschrieb und unterdrückte (2. Samuel 7).
Liest man die Texte, ohne diese Unterscheidung zu beherzigen, dann ergibt sich in der Tat ein sehr widersprüchliches Bild. Es wird nicht nur schwer bis unmöglich, die Propheten zu verstehen, sondern auch die Botschaft Jesu. Der nämlich beginnt sein Wirken nicht von ungefähr im ländlichen Galiläa, und er knüpft mit seiner Predigt vom Schuldenerlass und der Rückgabe enteigneter oder gepfändeter Güter am mosaischen Ideal an. In der Zuwendung zu den Armen, der Kritik an Tempel und Palast, der radikalen Ablehnung hierarchischer Machtverhältnisse und der damit verbundenen Proklamation der Königsherrschaft JHWHs nimmt er den Gedanken einer alternativen, freien Gesellschaft wieder auf und entwickelt ihn fort.
Gerade indem Jesus scheinbar „konservativ“ auf die ältere Tradition zurückgreift, untergräbt er das Imperium: Denn diese Vorstellung von Gerechtgkeit zeigt, wie Dietrich sagte: Ordnungen und Verhältnisse können und müssen geändert werden, da wo sie Menschen von einem menschenwürdigen Leben ausschließen. Verbindungen von Christentum und “Abendland“ oder Orthodoxie und Nation zementieren in der Regel Ungleichheit und Unmenschlichkeit, selbst wenn sie unaufhörlich die Moral- und Ordnungskeule gegen Minderheiten schwingen, weil die ihre Gewohnheiten in Frage stellen.