„Nervige“ Gottesdienste (2): Augen zu und durch?

(Hier geht es zu Teil 1)

Nun ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt nichts Falsches, solange sie uns nicht zum Selbstbetrug verleitet – zum Rückzug aus der leidenden Welt, zu einer Spiritualität des Wegschauens. Diese Aufforderung zum „Wegschauen“ ist mir am Beginn vieler Gottesdienste schon begegnet, und insofern sie sich darauf bezieht, dass ich aufhöre, ständig um mich selbst zu kreisen und meine Sorgen und Bedürfnisse als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, sind sie durchaus angebracht. Wo, wenn nicht im Angesicht Gottes, kann ich mich selbst einmal im besten Sinne des Wortes vergessen?

Oft aber sind das auch Aufforderungen gewesen, sich auf Gott unter Absehung vom zwiespältigen Zustand seiner (und unserer) Welt auszurichten. Wir laufen damit Gefahr, aus dem „Himmel“, von dem wir in unseren Liedern so gerne singen, ein hohles Wolkenkuckucksheim zu machen. Im alten Israel hat Gott diesem Hang zur Verdrängung drastisch widersprochen (Amos 5,21-24):

Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie

und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt,

ich habe kein Gefallen an euren Gaben und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen.

Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören,

sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Amos hatte es mit einer Situation zu tun, in der die Kluft zwischen Arm und Reich sprunghaft angewachsen war. Die Oberschicht schottete sich – wie heute das reiche Europa zweifellos überzeugt davon, dass sie ihre Privilegien „verdient“ hatte – vom Leid der Verlierer ab. Armut wurde (wie heute vielfach wieder) als selbstverschuldet verstanden und als Makel behandelt. Wohlstand hingegen galt als ein Zeichen des göttlichen Segens, und um diesen zu feiern, ließ ein Besserverdiener im Tempel auch mal ordentlich was springen. Doch dann stört dieser ungehobelte Partyschreck im Namen Gottes die andächtige Stimmung mit dem Hinweis darauf, dass Gott die ganze Sache stinkt.

Dabei sind, um die Kritik des Propheten noch etwas weiter zu entfalten, keineswegs nur die Lieder das Problem, es können auch die Predigten sein: Als im 19. Jahrhundert das Industrieproletariat entstand, bezeichnete kein Geringerer als Goethe die Predigten des Erweckungspredigers Friedrich Wilhelm Krummacher, die zwar die persönliche Moral, Heiligung und den rechten Glauben betonten, aber die sozialen Missstände unberührt ließen, als „narkotisch“. Friedrich Engels, Sohn eines frommen Fabrikanten aus Wuppertal, fand noch viel drastischere Worte.

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