Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom Über-Ich dadurch, dass sie selbst jenes Über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selbst kein Über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die anderen.
aus Odo Marquard, Imkompetenzkompensationskompetenz, in: ders., Zukunft braucht Herkunft