Paul Markham macht sich im Journal of Religion and Society Gedanken über die Entstehung einer neuen Evangelikalen (oder sollte ich jetzt doch besser „evangelisch“ schreiben?) Bewegung in den USA. Er sieht dabei große Parallelen zu dem zupackenden Eifer, mit dem Evangelikale sich im 19. Jahrhundert der persönlichen und sozialen Transformation widmeten.
Dazu blickt er erst einmal kurz zurück: Evangelicals haben sich theologisch nie auf einen Nenner bringen lassen, wohl aber durch Stil und Ausdrucksformen. Heute leidet die Bewegung darunter, dass sie in der Öffentlichkeit unzutreffenderweise zum Synonym für „Fundamentalismus“ gemacht wird. Junge Evangelikale drängen auf eine Lösung von der religiösen Rechten und deren schmalen Themenkodex. Markham betrachtet das als Parallele einer Auseinandersetzung zwischen Evangelicals und Fundamentalists zur Mitte des 20. Jahrhunderts, aus der damals die Zeitschrift Christianity Today und die National Association of Evangelicals hervorging. Führender theologischer Kopf dieser Trennung war auf evangelikaler Seite Carl F. H. Henry. Er machte die Botschaft Jesu vom Reich Gottes zum Schlüsselthema seiner Arbeit.
Die Distanzierung von den Fundamentalisten hatte zur Folge, dass eine offenere Haltung gegenüber den Naturwissenschaften entstand, das Wirken des Heiligen Geistes neu in den Blick kam, eine größere Weite bei den unterschiedlichen Positionen in der Eschatologie und der Schriftinspiration einzog, soziale Verantwortung ernster genommen wurde und man wieder mehr bereit war zum Gespräch mit „liberalen“ Theologen.
Heute sind wieder viele Evangelikale auf der Suche nach einer Alternative zum Bündnis mit konservativer Ideologie. Es herrscht eine gewisse Krisenstimmung, was den Zustand der evangelikalen Bewegung und deren Wirkung auf die Gesellschaft betrifft. Verschiedene Versuche einer Absetz- oder Sammlungsbewegung von der religiösen Rechten sind zu erkennen. Theologisch zeigen sich dabei charakteristische Verschiebungen: Hin zu einer stärker präsentischen Eschatologie, die den Bezug zum Leben hier und jetzt betont, ein Zurücktreten der traditionellen Sühneopfer-Theologie, ein Interesse an „prophetic politics“ und an anderen Feldern der Sozialethik, besonders dem Thema der Gerechtigkeit.
Die Schwierigkeit diesmal besteht darin, dass sich noch kein organisatorisches Zentrum herauskristallisiert hat, so wie es Carl Henry und andere damals schufen. Das hat mit der Neigung zur Organisation in losen Netzwerken zu tun, und einer Auflösung der Grenzen zu anderen christlichen Traditionen, darunter auch Katholiken. Vieles hängt nun davon ab, wie sich die neue Bewegung organisiert. Ein paar führende Köpfe nennt Markham auch: Shane Caliborne, Rob Bell, Brian McLaren … und Tom Wright!
In Deutschland waren Evangelikale und ihre Vorläufer im Pietismus und der Erweckungsbewegung politisch nur ganz selten progressiv. Für die USA hatte der Soziologe Robert Putnam konstatiert, dass Evangelikale den gesellschaftlichen Wandel praktisch immer vorangetrieben haben. Hier kann man das so gewiss nicht sagen. Im neuzehnten Jahrhundert hat man auf die soziale Frage zwar mit reger Wohltätigkeit reagiert, strukturelles Unrecht aber weitgehend ignoriert, wenn man einzelne Stimmen wie Christoph Blumhardt mal ausklammert. Insofern fehlen hier bei uns auch Vorbilder für einen neuen Aufbruch wie Carl Henry, freilich fällt auch der Anteil von Fundamentalisten hier deutlich geringer aus – der Hang zum Konservativismus dagegen nicht. Die Unzufriedenheit mit dem Status Quo trifft man daher auch hier an, und mein Eindruck ist, dass sie weiter wächst.
Hast Du eigentlich mal was von Henry gelesen? Das hatte ich auch schon länger auf dem Schirm…
Zwei Gedanken dazu, Peter:
1. Mein Eindruck ist, daß sich – zumindest in den letzten Jahrzehnten – Evangelikale in Deutschland sehr stark aufs Ausland, vornehmlich USA fokussiert haben, was Theologie, speziell Gemeindebau, Leiterschaft aber auch politisch-ethische Ideale betrifft. Wenn dem so ist, dann wundert’s mich nicht, daß deutsche Evangelike nicht gerade progresiv sind.
2. Versteht sich die deutsche Emerging-Szene eigentlich dem Evangelikalismus zugehörig? Dann könnte man sie als progressives Element des deutschen Evangelikalismus sehen (wobei ich darauf hoffe, daß zukünftig noch mehr Theologie und Konsequenzen für progressives Leben aus eigenen Reihen kommen und nicht wieder nur aus USA und UK eingeflogen werden). Wenn sich die Emerging-Szene aber gerade nicht als Teil des deutschen Evangelikalismus sieht, dann hätten wir uns selbst eins ausgewischt („statistisch“, wenn Du weißt, was ich meine:-).
Liebe Grüße,
Philipp