bevor Du Dich wunderst, ich weiß schon, dass Du nicht identisch bist mit den Eliten und Bürokratien, die Dich verwalten. Die Dein Wohl mehren sollten, aber oft genug nur ihren eigenen Vorteil und den ihrer Klientel im Sinn haben. Aber dann gibt es Tage, an denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein kluges Urteil fällt, und ich bin wieder ein bisschen versöhnt mit Dir.
Aber Du musst Dich wohl wundern, dass hier ein Deutscher schreibt: Aus dem Land der satten Exportüberschüsse, das dem Süden Europas mit seiner Sparwut und herablassenden Lektionen über schwäbische Hausfrauen in soziale Krisen gestürzt hat, die in dieser Schärfe nicht nötig gewesen wären, und das sich zugleich über viele Jahre hinweg einen Dreck darum kümmerte, wie Italien und Griechenland mit Flüchtlingen umgehen. Wir haben keine Hilfe angeboten und uns ab und zu über die (tatsächlich untragbaren) Verhältnisse mokiert. Ach ja, und wir haben die europäischen Umweltnormen für unsere Automobilindustrie zurechtgebogen, die WM 2006 gekauft, und auch wenn es uns ab und zu etwas peinlich ist, wird sind immer noch einer der größten Waffenexporteure der Welt.
Du siehst schon, liebes Europa, ich sollte eigentlich hier aufhören. Aber ich kann nicht. Denn in diesem Jahr haben einige von uns – nicht die Eliten, nicht die Bürokraten (oder wenn welche darunter waren, dann in ihrer Freizeit, als Privatleute) – uns endlich ein Herz gefasst, sind auf die Bahnhöfe in München und anderswo gegangen und haben das getan, was wir schon lange hätten tun müssen: Den Menschen, die zu uns geflohen sind, einen freundlichen Empfang bereitet und für eine möglichst menschenwürdige Aufnahme gesorgt. Und irgendwann hat unsere Kanzlerin das begriffen und gesagt, dass wir das schaffen. Wir wissen nicht, wie lange sie das durchhält. Und auch wenn einige von uns müde und erschöpft sind ab und zu, glauben wir das immer noch. Egal, wie viele Seehofers und Söders das jeden Tag schlechtreden und wie viele Rechte uns dafür beschimpfen oder – rhetorisch wie praktisch – Brände legen.
by NASA’s Marshall Space Flight Center
Natürlich ist es verwunderlich, dass wir es auf einmal sind, die (als einzige?) laut sagen, dass „Dublin“ nicht funktioniert und auch nie mehr funktionieren wird. Wir haben ja lange davon profitiert, wirst Du sagen. Ich weiß nicht, ob ich dem zustimme – wir hatten zwar unsere Ruhe, aber es war die schändliche Ruhe des Wegduckens. Und natürlich hat dieser Alleingang alte Wunden aufgerissen und zusätzlich all jene beunruhigt, die noch immer meinen, sie könnten einfach so weiter machen wie bisher, und Europa sei dazu da, genau das zu garantieren.
Ich war, so lange ich denken kann, ein überzeugter Europäer. Aber dieses Jahr frage ich mich zum ersten Mal ernsthaft, ob wir das schaffen.
- Schaffen wir es, mehr als nur eine Freihandelszone für Geld und Waren zu sein (und steuerbefreiten Großkonzernen mit ihren emsigen Lobbyisten), aber mit Zäunen für Menschen, Herr Cameron?
- Schaffen wir es, bessere und menschlichere Antworten auf die Herausforderungen des Islamismus und des Terrors zu geben, als nun planlos Bomben irgendwo abzuwerfen (einfach deshalb, weil es sich irgendwie besser anfühlt als nichts zu tun und weil wir wissen, dass wir das ganz gut können), Herr Hollande?
- Schaffen wir es, uns von einem Nationalismus zu verabschieden, der seit dem 19. Jahrhundert nur Unheil anrichtet, liebe Polen, Ungarn oder Tschechen und Slowaken?
- Schaffen wir das, liebe „C-Parteien“ und Bürgerliche, wenn es Euch (allem Augenschein zum Trotz) wirklich ernst sein sollte mit dem „C“, auf den Papst und den Ökumenischen Rat zu hören, wenn es um die Teilhabe der Armen und der Fremden geht?
- Schaffen wir alle es, den rechten Scharfmachern und Hasspredigern unaufgeregt, beharrlich und konsequent das Wasser abzugraben?
- Schaffen wir es, dass die Schere zwischen Arm und Reich, den Chancenlosen und den Privilegierten nicht immer noch weiter aufgeht?
Mir graut vor einem Europa, das sich gewaltsam (anders wird es nicht gehen!) abschottet und nur noch Almosen verteilt. Mir graut vor einem Europa, in dem manche die Bedrohung durch Putin beschwören und dann genau dieselben autoritären und nationalistischen Strukturen etablieren, wie wir sie in Russland sehen. Mir graut vor einem Europa, in dem jeder nur Kumpane für die jeweils eigenen egoistischen Zwecke sucht, ein Europa, das von seinen Ängsten und Albträumen umgetrieben wird, sich nach starken Männern (und blonden Frauen) sehnt und zugleich gnadenlos alles dafür tut, dass die Furcht immer neue Nahrung bekommt.
Das wäre dann nicht mehr mein Europa.
Liebes Europa, Du hast 2011 den Friedensnobelpreis bekommen. Wir dachten (vielleicht hofften wir auch nur), du hättest verstanden, dass damit auch ein moralischer Anspruch verbunden ist, der mit Deinen – unseren! – ureigensten Werten, Träumen und Visionen zu tun hat. Die Quintessenz deines mühsamens Lernens und deiner oft blutigen Geschichte; die Einsicht, dass die Kolonialisierung der Welt mit unzähligen Verbrechen einherging und dass wir uns heute dieser Verantwortung stellen müssen; die Bereitschaft, dass uns (klar, auch uns Deutsche!) das etwas kosten darf: All das schwang doch mit damals, oder?
Wenn es die Frage nach der Mitmenschlichkeit und Offenheit ist, an der Europa nun zu zerbrechen droht, dann weiß ich nicht, was ich mir wünschen sollte. Soll ich hoffen, dass sich alles zum Guten wendet, wenn die Flüchtlingsfreunde ein bisschen einlenken und den „Flüchtlingskritikern“ ein bisschen Recht geben – und die Zeit, sich eines Besseren zu besinnen (aber ist das überhaupt eine Frage der Zeit)? Der Riss geht ja längst nicht nur durch die Staaten der EU, sondern auch durch die Bevölkerung aller dieser Staaten. Oder hätten wir mit solchen Kompromissen, die ja wahrlich nichts Neues darstellen, schon fast alles verspielt, was an Europa jemals schützenswert war? Müsste eine Beziehung, die anscheinend auf falschen Prämissen und Erwartungen beruht, vielleicht besser gelöst und noch einmal neu verhandelt werden? Und haben wir gerade jetzt überhaupt die Zeit dazu, dich – uns! – neu zu erfinden?
Ein Europa der Rechten, von UKIP über FN bis PiS und von den Schwedendemokraten bis Fidesz, hätte sich quasi selbst abgeschafft, egal welche Institutionen diese politischen Geisterfahrer überrollen und welche nicht. Doch unabhängig davon, ob der nationale und rassistische Backlash bei uns und in anderen EU-Staaten (und den USA) in nächster Zeit noch weiter zunimmt, wir haben in diesem Jahr etwas Entscheidendes gelernt:
Wenn wir mutig und entschlossen handeln und uns für die Schwachen stark machen, dann können wir auch unsere anderweitig taktierenden Kompromisspolitiker wie Angela Merkel – heute von Time zur Person des Jahres gekürt, warum nur? – zu unerwartet kühnen Schritten in die richtige Richtung verführen und sogar eine zappelnde und zeternde CSU im Stillen gegen jene ureigensten Überzeugungen handeln lassen, die sie nicht laut genug herumposaunen kann. Wollen wir doch mal sehen, ob sich das nicht ausbauen und exportieren lässt, und wo sich überall Verbündete finden. Auch in Sachen Klimaschutz und Energiewende funktioniert es nur so, dass Aktivisten die Regierenden vor sich hertreiben.
Was wir dagegen nicht können und dürfen, ist abwarten. Abwarten, ob noch mehr Menschen auf der Flucht umkommen. Abwarten, ob die etablierten Parteien, die es den Rechten oft so leicht gemacht haben, sie zu diskreditieren, das Gemeinwohl endlich über ihre Wahltaktik und Lieblingsideen stellen. Abwarten, ob wir wahrgenommen, nach unserer Meinung gefragt oder irgendwohin eingeladen werden. Abwarten, ob der rechte Spuk sich wieder verliert. Abwarten, ob der Hass nur den Muslimen gilt oder eben doch auch den Christen, die ein klares Profil zeigen. Letzte Woche habe ich einen Brief von Martin Luther King gelesen. Er enthält einen Aufruf zum Handeln, an den ich in diesen Tagen immer wieder erinnert wurde:
Ich glaube allmählich, dass die Menschen bösen Willens ihre Zeit wesentlich nützlicher verwendet haben als die Menschen guten Willens. Unsere Generation wird eines Tages nicht nur die ätzenden Worte und schlimmen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten. Wir müssen erkennen lernen, dass menschlicher Fortschritt niemals auf den Rädern des Unvermeidlichen heranrollt. Er ist das Ergebnis unermüdlicher Bemühungen und beharrlichen Einsatzes von Menschen, die bereit sind, Mitarbeiter Gottes zu sein. Ohne solche Anstrengungen wird die Zeit zum Verbündeten der Kräfte des sozialen Stillstandes.
Liebes Europa, das hat King vor 50 Jahren geschrieben und sein Kampf ist heute noch nicht endgültig gewonnen. Aber auch wenn es 50 Jahre oder länger dauert, diesen Kampf zu gewinnen, werden wir Dir keine Ruhe mehr lassen.
Hallo Herr Aschoff,
Ihr Beitrag hat mir gut gefallen. Persönlich habe ich momentan nicht viel Hoffnung für Europa. Das liegt daran, dass für wirkliche Veränderungen oftmals der politische Wille fehlt. Tendenziell scheint man in Washington, Brüssel, Berlin, London etc. eher darum bemüht zu sein die Ideen und Ziele des neoliberalen Kapitalismus in allen Bereichen der jeweiligen Gesellschaften möglichst unwiderruflich zu etablieren, da diese nicht selten als alternativlos angesehen werden.
Das ist aber nicht das einzige Problem. Auch aus den Bevölkerungen scheint sich, abgesehen von einigen Gruppen in links-orientierten Kreisen, wenig Widerstand gegen diese seit langem voranschreitenden Entwicklungen zu regen. Ein ähnliches Bild zeigt sich meines Erachtens auch in den Kirchen. Es ist schon bemerkenswert, dass die deutlichsten Äußerungen in Hinblick auf die globalen sozio-politischen Fragestellungen dieser Tage aus dem Vatikan zu vernehmen sind. Ich möchte hier keineswegs pauschalisieren. Meine Äußerungen zielen auf die, zumindest von mir wahrgenommenen, Tendenzen ab.
Im Oktober habe ich eine dreijährige Ausbildung zum Gemeindediakon an einem evangelikalen Bibelseminar abgeschlossen. Während der Ausbildung hat es mich oft sehr frustriert, dass bei der Mehrheit meiner Mitschüler wenig bis gar kein Interesse an den politischen Implikationen des Evangeliums vorhanden war. Zum Teil wurde Jesus jegliches politisches Interesse pauschal abgesprochen. Man war eben der Ansicht, dass es einzig darum geht alle Menschen zu einer Glaubensentscheidung zu bewegen. Das ist auch grundsätzlich nicht falsch. Aus meiner Perspektive ist es jedoch unerlässlich, dass den christlichen Werten in jedem Fall auch mit politischen Handeln Ausdruck verliehen werden muss, damit sie an Relevanz gewinnen. Dazu braucht es heute eine breite Bewegung von der Basis her. Martin Luther King hat schließlich nicht alleine für seine Vision gekämpft. Leider sehe ich eine solche Bewegung innerhalb der Kirche nicht. Vielleicht gibt es sie auch und ich kenne sie nur nicht.
Danke nochmals für Ihren Beitrag. Ich würde es sehr begrüßen, wenn mehr Leute wie Sie, deren Stimme insbesondere im evangelikalen Umfeld (korregieren Sie mich, wenn ich falsch liege) ein gewisses Gewicht besitzen, sich in dieser Richtung zunehmend konstruktiv-kritisch äußern. Europa hat meines Erachtens dann eine hoffnungsvolle Zukunft, wenn sich in der Gesellschaft eine flächendeckende Bereitschaft abzeichnet positiv nachhaltige Ideen bzw. Lebenspraktiken (z. B. mehr Kooperation/Solidarität statt Wettbewerb/Konkurrenz) in die Tat umzusetzen. Ich denke die Kirche als Ganze kann und sollte hier vorangehen, denn die Lehre Jesu bietet solche Ideen in Fülle.
Freundliche Grüße nach Erlangen
Marcel Hindrichs
PS: Wäre es nicht eine Überlegung wert die politischen Implikationen des Evangeliums beim nächsten Emergent Forum zu thematisieren?
Danke für den Kommentar! Meinen eigenen Einfluss im evangelikalen Bereich würde ich als gering mit abnehmender Tendenz einschätzen. Und alle, die da tiefer verwurzelt sind, äußern sich in der Öffentlichkeit eher vorsichtig – oder lassen lieber Taten sprechen, als politisch zu deutlich Position zu beziehen, gegen die dann vom rechten Flügel polemisiert würde. So kämpferisch man sich gern nach außen gibt, so konfliktscheu kann das nach innen sein. Aber was für Europa gilt, gilt eben auch für den Evangelikalismus: Je mehr Menschen Trägheit oder Einschüchterung überwinden, desto mehr Hoffnung wächst.
Ich habe aber den Eindruck, der Rückenwind aus Rom trifft gerade mit einem eigenständigen protestantischen Mutanfall zusammen, und eine Kirche, die hinter der ethnischen Vielfalt der Gesellschaft weit zurückgeblieben war (und die fast alles Diakonische an die eigenen Profis wegdelegiert hatte), macht sich auf einen guten Weg.
Beim nächsten Emergent-Forumim September wird tatsächlich das Thema Barmherzigkeit eine wichtige Rolle spielen und die Referentinnen (Nadia Bolz-Weber und Christina Brudereck) haben dazu sicher viel zu sagen. Vielleicht sehen wir uns da?
Stark zusammengefasst. Als junger Mensch kenne ich Europa nur mit offenen Grenzen. Im Politik-Unterricht waren diese stets DAS Beispiel für den Vorteil eines geeinten Europas für seine Bürgerinnen und Bürger. Jetzt gibt es wieder Grenzkontrollen, es fühlt sich so an, als nimmt man mir ein Grundrecht weg. Ich träume von einem immer enger zusammenwachsenden Europa, das menschenfreundliche Politik macht. Die Gegenwart stimmt mich aber eher pessimistisch. Gerade, weil nicht nur die von Ihnen angesprochenen Staaten („Liebe Polen, Ungarn oder Tschechen und Slowaken?“) zu Nationalismus neigen, sondern in allen europäischen Staaten nationalistisch / anti-europäische Parteien und Kräfte erstarken. Und das, obwohl gerade jetzt transnationale Lösungen dringend benötigt werden. Fehlt es an Politikern, die für ein vereintes Europa streiten wollen oder fehlt es am Rückhalt der jeweiligen Wählerschaft für Pro-Europa-Politik?
Ich kann hier in der Kürze nur ein paar Schlagwörter nennen. In der Ära des Neoliberalismus (bei uns seit 1989) haben sich manche sozialen Milieus von der Politik entfremdet, unser kaputtgespartes, auf Effizienz statt Effektivität getrimmtes Bildungssystem versagt bei ihnen, aber sie sind auch aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden (Armut ist mit Scham belegt). Es sind noch blasse Vorstellungen von einer Vergangenheit vorhanden, als es gefühlt besser war. Und weil damals Biodeutsche noch unter sich waren und der Nationalstaat die einzige Referenzgröße, lassen sich alle Fehler unserer (nationalen!) Politiker und Regierungen und alle Wirkungen der Globalisierung (prekäre Arbeitsverhältnisse, Massenarbeitslosigkeit etc.) Europa in die Schuhe schieben. Um so mehr, als es ja ein tatsächliches Verfassung- und Demokratiedefizit gibt. Das Europäische Parlament hätte, mit mehr Macht ausgestattet, vermutlich mehr Gutes bewirkt als Schaden angerichtet. Aber die Geschichte zeigt, dass es manchmal ein oder zwei Generationen lang dauert, bis sich Sackgassen als das erweisen, was sie immer waren. Genau das droht uns nun bei der nationalen Rolle rückwärts, die sich abzeichnet.