Zum Motto des Sommerfestes in Zabo habe ich einen kleinen Text geschrieben – als Antwort auf die Frage „Ist da jemand“ von Adel Tawilund auf die Frage, was denn die gute Nachricht ist, von der unter Christen immer die Rede ist. Bisschen zu lang, um es noch unter „elevatorpitch“ laufen zu lassen. Aber das war auch nicht die Vorgabe für den Festgottesdienst. Andere sagen das garantiert anders, aber das Ziel ist ja eher, es auf möglichst viele unterschiedliche Weisen zu sagen.
Da ist jemand, der uns und unsere Welt mit ihrer Schönheit und ihrem Wahnsinn liebevoll anschaut. Mitfiebert, ob wir im Leben klarkommen, sich manchmal eher unmerklich einmischt und manchmal merklich zurückhält. Jemand, der sich bei allem, was wir so treiben, mitfreut und mittrauert. Jemand, dessen Wesen es ist und schon immer war, Anteil zu nehmen.
Da ist jemand, dessen Energie und Einfühlungsvermögen unerschöpflich ist, der sich nicht müde, gelangweilt oder wütend zurückzieht. Jemand, der immer wieder neue Versuche unternimmt, auf uns Erdlinge zuzugehen, die guten Kräfte zu stärken und die Zerstörung zu begrenzen.
Da ist jemand, der in seiner Liebe – wie alle Liebenden – immer schon wehrlos und verletzlich war. Und der sich schließlich als verletzlicher, wehrloser, einfacher Mensch ohne Bodyguards unter die Leute mischt und alles abkriegt: Freundschaft und Verrat, Beifall und Spott, die Liebe der Kinder und die Brutalität eines Regimes, das Menschen kreuzigt. Seine Anteilnahme kennt keine Grenzen, nicht die zwischen Freund und Feind, auch nicht den Tod.
Da ist jemand, der Hoffnung verbreitet und Menschen die Augen öffnen für eine bessere, gerechtere, gewaltfreie und menschenfreundliche Welt. Er überwindet den Tod und zeigt, dass die Liebe – seine Liebe – größer und mächtiger ist als alles Dunkle und Böse. Diese ebenso hartnäckige wie zärtliche Anteilnahme hat die Kraft, Menschen und Verhältnisse zu verändern.
Da ist jemand, dessen unerschöpfliche göttliche Energie Menschen dazu bringt, über sich hinauszuwachsen: Not zu lindern, Versöhnung zu wagen und Frieden zu stiften. Kein Ort der Welt ist vor ihm sicher, keine Schuld zu groß, keine Verzweiflung zu tief, keine Resignation zu endgültig. Er startet eine Bewegung, die auch nach 2.000 Jahren nicht gestoppt ist. Jede*r kann dabei sein: Plätze sind frei, Türen stehen offen, alle Begabungen sind gefragt.
Und weil Gott noch nicht fertig ist mit uns und der Welt, sind das immer noch Neuigkeiten.
Immer schon hat es mich in den Wald gezogen. Grünkraft habe ich gespürt noch lange, bevor ich den Begriff der Hildegard von Bingen kannte. Wenn die Geräusche der Stadt und der Straßen in die Ferne rücken, nur noch die Vögel singen und der Wind rauscht, kommen mir die besten Gedanken. Und manchmal lehne ich mich ganz still an eine der großen Eichen oder Buchen und schließe die Augen. Ich gehe betrübt hinein und komme getröstet heraus. Oder besser: ich ging.
Dieses Jahr funktioniert das nicht mehr so richtig. Ich komme meist mit schwerem Herzen aus dem Wald zurück.
Im Herbst konnte man schon sehen, dass die Dürre ihren Tribut gefordert hat. Im Winter warfen ein paar Tage stürmisches Wetter hundert Jahre alte Fichten einfach um. Die Wurzeln konnten sie nicht mehr im Boden halten. Ein paar hundert Meter von unserem Haus klafft seither ein Loch im Wald, das größer ist als ein Fußballplatz. Als nach dem Winter wieder alles Grün wurde, war das auch längst nicht mehr alles. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viele kranke und tote Bäume gesehen zu haben. Überall in der Region: Die Erlanger ereiferten sich im Frühjahr über die kranken Bäume an den Kellern. Und ganz Zabo redete sich die Köpfe heiß über den mächtig ramponierten Siedlerwald.
Der Waldzustandsbericht sollte doch besser wieder in „Waldschadensbericht“ umbenannt werden. In der aktuellsten Fassung sind die Schäden der letzten Monate noch gar nicht verzeichnet. Aber schon im vergangenen Jahr waren nur 28% der Waldbäume frei von sichtbaren Schäden, im Zeit-Bericht aus Thüringen lese ich von aktuell 19%. Buchen und Eschen sterben von den vertrockneten Wurzeln her.
Die Fieberkurve auf der Website von Robin Wood wird weiter ansteigen. Die Folgen liegen auf der Hand: „Je labiler die Wälder werden, desto geringer ist auch ihr Beitrag, die Klimaerwärmung zu begrenzen.“ Es geht ja nicht um ein bisschen grüne Kulisse zum Relaxen.
Geh aus mein Herz und suche Freud – das fällt schwer im Sommer 2019. Die reine Freude ist es nur noch sehr punktuell.
Ich gehe trotzdem in den Wald und denke an Joana Macys Active Hope. Dort spricht sie davon, dass auch der Schmerz über die Zerstörung einen Raum bekommen muss (Martin Horstmann hat das hier zusammengefasst). Es gibt die Verbindung zu unseren Mitgeschöpfen nicht nur über Empfindungen wie Schönheit, Freude und Dankbarkeit, sondern auch darüber, dem Schaden ins Auge zu sehen und den Kummer mitfühlend auszuhalten. Ohne dieses Aushalten gibt es keine rechte Transformation.
Und dann gehen mir biblische Aussagen über Bäume durch den Kopf: Die stolzen Zedern des Libanon, die „Bäume der Gerechtigkeit“. Wenn Gott seinen Geist ausgießt, sagt Jesaja, dann wird Wüste zu Ackerland und Ackerland zum Wald. Was für ein Upgrade der Botanik: Ein Wald, der jubelt und Bäume auf dem Feld, die in die Hände klatschen.
Aber das liegt in der Zukunft. Stoff für einen neuen Blogeintrag vielleicht. Und für Hoffnungsbilder, die ich dem neuen Waldsterben entgegenhalte, um die schmerzliche Gegenwart aushalten zu können.
Vor ein paar Wochen wollte ich eine alte Dame zum 90. Geburtstag besuchen. Ich suchte ihre Telefonnummer heraus und rief an, um einen Termin auszumachen. Kurz darauf klingelte mein Telefon. Die Jubilarin war dran. Ihr Tochter hatte sie gebeten, doch noch einmal zu überprüfen, ob das wirklich der Pfarrer war, der da angerufen hatte.
Zum Glück geben sich die Trickdiebe (noch?) nicht als Pfarrer aus. Aber die Frage bleibt, wie man sich vor solchen gerissenen, skrupellosen Betrügern schützen kann. Im Fall der Polizei ist es einfach: Die echten Beamten rufen nie mit der „110“ im Display an und sie holen nie Geld und Wertsachen ab.
Original oder Fälschung?
Die Frage, ob der „echt“ ist oder ein Betrüger, stellt sich auch im Blick auf Jesus. Die Meinungen der Zeitgenossen gingen erheblich auseinander. Eine Gruppe stand ihm ganz besonders kritisch gegenüber: die Schriftgelehrten. Sie verstanden sich als eine Art Aufsicht in religiösen Fragen – und damals war alles eine religiöse Frage, von den Speisen bis zu den Steuern. Immer wieder verlangten sie von Jesus, sich irgendwie auszuweisen – als einer von ihnen, als rechtgläubig (oder „bibeltreu“), als „echter“ Messias.
Fakt ist, dass es damals tatsächlich auch „falsche“ Messiasse gab: Judas der Galiläer, Menahem, Theudas zettelten im Namen Gottes Aufstände gegen die Besatzer an. Die Römer schlugen hart zurück. Wie Assad in Syrien, wie das Militär im sudanesischen Khartoum oder die Polizei in Moskau, die kürzlich 400 Demonstranten verhaftete.
Es stand also eine Menge auf dem Spiel. Jesus hat die Anfragen und Zweifel der Schriftgelehrten trotzdem ziemlich ungehalten kommentiert:
Ihr erforscht die Heiligen Schriften, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu erhalten. Auch die sind meine Zeugen. Aber ihr wollt euch mir nicht anschließen, um das ewige Leben zu erhalten. Ich bin nicht darauf aus, dass Menschen mir Herrlichkeit zugestehen. Außerdem habe ich euch durchschaut: Ihr habt keine Liebe zu Gott in euch. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr lehnt mich ab. Wenn aber irgendjemand anderes in seinem eigenen Namen kommt – den nehmt ihr auf. Wie könnt ihr denn zum Glauben kommen? Es geht euch doch nur darum, dass einer dem anderen Herrlichkeit zugesteht! Aber nach der Herrlichkeit, die der einzige Gott schenkt, strebt ihr nicht. Ihr braucht nicht zu denken, dass ich euch vor dem Vater anklagen werde. Es ist vielmehr Mose, der euch anklagt – Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Denn wenn ihr Mose wirklich glauben würdet, dann würdet ihr auch mir glauben. Denn er weist in der Heiligen Schrift auf mich hin. Wenn ihr schon seinen Schriften nicht glaubt, wie wollt ihr dann meinen Worten glauben?«
Wie kam das wohl an? Ich stelle mir vor, dass ein paar Tage später ein offener Brief in der Jerusalem Post erschien. So ähnlich könnte er gelautet haben:
Sehr geehrter „Kollege“ Jeschua Ben Josef,
mit Befremden haben wir Ihre jüngsten Anschuldigungen und Unterstellungen aus der Mitschrift eines gewissen Johannes zur Kenntnis genommen. Sie konfrontieren uns darin mit dem schwerwiegenden Vorwurf des Unglaubens und unterstellen uns ein defizitäres Verständnis der Heiligen Schriften. Wir weisen das mit aller Entschiedenheit zurück. Desgleichen weisen wir Ihren Anspruch zurück, über uns Schriftgelehrte ein solches Urteil aussprechen zu können. So lassen wir uns als anerkannte Fachleute nicht abkanzeln. Ihre eigenwillige Interpretation des göttlichen Willens fällt dadurch auf, dass Sie sich selbst stets in dem Mittelpunkt rücken. Diese Verengung und Personalisierung erscheint uns unangemessen. Niemand kann sich heute ernsthaft mit dem unvergleichlichen Mose auf eine Stufe stellen wollen. Die Dreistigkeit, mit der Sie sich als Sprachrohr Gottes ausgeben, erscheint uns überzogen und hochgradig manipulativ. Möglicherweise liegt der Grund dafür in ihrer unzureichenden theologischen Ausbildung: Ihr letzter längerer Aufenthalt im Tempel liegt schon Jahre zurück. Sie waren damals erst Zwölf. Über eine längere Lehrzeit bei einem anerkannten Rabbi ist nichts bekannt. Auch an einschlägigen Auffrischungs- und Fortbildungsmodulen haben Sie nicht teilgenommen. Dabei fanden etliche davon sogar in ihrer galiläischen Heimat statt. Um das Gespräch auf einem sachlich angemessenen Niveau zu führen, sind aus unserer Sicht zwei Bedingungen zu erfüllen: Legen Sie erstens einen anerkannten Studienabschluss vor und machen Sie zweitens deutlich, dass Ihre Ausführungen auch nur eine Lehrmeinung unter und neben anderen enthalten. Bis dahin bitten wir Sie höflichst, die Fragen nach Gottes Reich in der Welt und der Zukunft der Menschen bewährten und fachkundigen Personen zu überlassen.
Hochachtungsvoll, die Innung der Schriftgelehrten
Die Situation erinnert ein bisschen an die unbeholfenen, pikierten Reaktionen aus den Reihen von CDU/CSU auf das Youtube-Video von Rezo: Wer ist der? Darf der sowas sagen? Da könnte ja jeder…! Der soll doch erst mal…!
Wenn Gott seinen Leuten entwischt
Jesus verweist auf die Heiligen Schriften, seine Kritiker auch. Eben dort gibt es allerdings zwei unterschiedliche Traditionen, die in erheblicher Spannung zu einander stehen: Die prophetisch-machtkritische mit dem freien Gott auf der Seite der Leidenden – und die königlich-priesterliche Tradition, die Gott auf der Seite der Hierarchie sieht und ihn schnell mal für die eigenen Interessen vereinnahmt.
Der Konflikt zwischen beiden begegnet uns bei Jeremia, der sich als einzelner Mahner und Warner gegen Macht und Mehrheit stellt. Jeremia prangert in der heutigen Lesung aus dem Ersten Testament trügerische Beschwichtigungen an, die jegliches Umdenken blockieren: Falsche Propheten predigen nichts als Wunschdenken und egozentrische Träume. Das priesterliche Lager verkleidet sich als prophetisch. Gott bleibt weiterhin das Maskottchen eigener Pläne. Mit anderen Worten: Er wird zum Götzen.
Gott wäre aber nicht Gott, wenn er nicht Wege hätte, diesem Käfig der Monopolisierung zu entkommen. Er ist nicht nur der Nahe, Zahme und Vertraute, sondern manchmal eben auch der Fremde, Ferne und Verstörende. Nun läuft er frei auf der Straße herum und heilt einen Kranken. Wir lesen davon am Beginn des 5. Kapitels des Johannesevangeliums – ich komme gleich darauf zurück. Und er sagt dabei auch noch unpopuläre Sachen.
Profis unter sich?
Wir würden alle gern weitermachen wie bisher: In der Kirche, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Wir tun uns alle schwer, auf Stimmen zu hören, die uns das Gegenteil sagen. Das ist einfach nicht sehr sympathisch. Wir würden uns gern gegen ungebetene Kritik isolieren. Und genau damit laufen wir Gefahr, Gottes aktuelles Reden zu verpassen, wenn wir ihn nur noch drinnen bei uns sehen und nicht mehr draußen bei den anderen.
Wo wir allerdings immer schon „wissen“, dass wir alles richtig machen, hören wir auch nur auf die, die uns das bestätigen. Bei allen anderen suchen wir, auch mit Hilfe der Bibel, nach Fehlern, um ihnen nicht zuhören zu müssen. Und wir bestätigen uns gegenseitig darin, dass wir im Recht sind. Das ist das, was Jesus meint, wenn er sagt, dass da Leute „Ehre von einander“ annehmen. Mit der Zeit wird es in solchen Gruppen, die sich ständig selbst rechtfertigen, undenkbar, noch einen anderen Standpunkt einzunehmen.
Solche Organsationen gibt es ja, in denen ein geschlossener Zirkel alles dominiert und nur seinesgleichen duldet. Aufsichtsräte, Machtkartelle, Seilschaften, und Hierarchien, die sich gegenseitig legitimieren und Störungen verhindern: „Überlasst das den Profis“. Dann reicht zur Beglaubigung auch der eigene Name oder Titel. Den erwirbt man sich durch Anpassung an die etablierte Ordnung. Und man bekommt die Achtung, so lange man nicht aus der Reihe tanzt. Der unvermeidliche Preis: wachsende Betriebsblindheit.
Hierarchien hacken
Der ganze Streit entbrennt, weil Jesus einen Kranken heilt, der keine Chance hatte, den Wettlauf um Heilung am Teich Bethesda zu gewinnen. Wenn sich das Wasser kräuselte, wurde (so sagte man) derjenige von Engelhand geheilt, der als erster im Wasser war. Aber die Schwachen und Langsamen, die besonders Bedürftigen also, hatten keine Chance. Was für eine Ungerechtigkeit! Und da soll Gott dahinter stecken?
Jesus ignoriert die Hausordnung an diesem heiligen Ort einfach. Er hilft dem Kranken nicht ins Wasser, sondern heilt ihn vom Fleck weg: „Nimm deine Matte und geh!“ Und dann trägt der Mann seine Matte nach Hause – freilich am Sabbat. In den Augen der Glaubenswächter ist das verbotene Arbeit. Und Jesus der Anstifter zum Gesetzesbruch. Wer sowas tut, kann auf gar keinen Fall ein Prophet sein…
Original oder Fälschung? Biblische Kriterien in der Frage, wo Gott am Werk ist, wären, wie die Heilung am Teich Bethesda zeigt, zum Beispiel solche eminent theologischen Fragen:
Wo regt sich neues Leben?
Wo kommen Menschen wieder auf die Beine?
Wo stehen sie auf für Veränderung?
Wo wird Ausweglosigkeit, Abstumpfung und Resignation überwunden?
Was bringt Menschen zum Staunen, Jubeln und Danken?
Der Evangelist Johannes zeichnet Jesus schon im Licht der Auferstehung. Nirgendwo zeigt sich deutlicher als an Ostern, dass Gott sich zu hundert Prozent zu Jesus stellt. Aber diese enge Verbindung blitzt schon vorösterlich immer wieder einmal auf. Insofern sehen wir nachösterlichen Betrachter leichter als die Schriftgelehrten damals, was jene übersehen. Wenn es nämlich Gott ist, der da mit und durch Jesus handelt, dann darf er auch die Regeln verändern. Zumal menschliche Regeln wie die Ausführungsbestimmungen zum Sabbat. Oder Kirchenordnungen, die sich überlebt haben. Oder die traditionellen Geschlechterverhältnisse. Oder Dogmatismus und Kontrollbedürfnisse.
Neu sehen lernen
Die Schriftgelehrten in dieser Episode sind nicht mehr empfänglich für andere Sichtweisen. Die Botschaft Jesu prallt förmlich an ihnen ab. Das ist weniger ein theologisches als vielmehr ein spirituelles Problem.
Rowan Williams, der frühere Erzbischof von Canterbury, sagte jüngst: „Unser Problem ist, dass wir in einem gesellschaftlichen und kulturellem Umfeld leben, in dem ein falsches Verhältnis zur Wirklichkeit systematisch verbreitet und belohnt wird. Am extremsten ist das Ausmaß dieser Verleugnung der Realität da, wo wir uns weigern, uns der Krise unserer Umwelt zu stellen.“ Und er fährt fort:
Spirituelles Wohlbefinden dreht sich, wie andere Arten von Gesundheit, um lebensfördernde Beziehungen (…) Spirituelles Wohlbefinden hat damit zu tun, jene Kontexte zu finden, jene Disziplinen, die in der Lage sind, es mit den Phantasien und Mythen aufzunehmen, die uns aufgedrückt werden. (…) Das geistliche Leben hat mit einem Bildersturm zu tun – darauf zu achten, dass wir unseren Phantasien gegenüber kritisch bleiben, damit unser Sehen letztlich frei bleibt von Zwang, Machthunger oder Gier.
Rowan Williams
Immer wieder machen uns Menschen auf diese Verleugnung der Wirklichkeit und unsere persönliche wie gemeinschaftliche Verantwortung aufmerksam. Letzte Woche hat der Kirchentag erneut eindringlich an die Krise der Seenotrettung im Mittelmeer erinnert. Gleich um die Ecke in Aachen haben „Fridays For Future“ und „Ende Gelände“ zusammen demonstriert. Da ist einerseits Hartnäckigkeit gefragt, andererseits reagieren viele erst einmal ärgerlich und genervt. Sind das Feinde der hergebrachten Ordnung, wie manche behaupten? Oder Vorboten einer anderen, menschenfreundlichen Ordnung?
Auf welcher Seite würde der Jesus vom Teich Bethesda wohl stehen? Diese Frage zu beantworten heißt freilich, sich im nächsten Schritt zu fragen: Und wo stehe ich? Wo stehen wir? Wie halten wir einander diesen Raum des Umdenkens und der Neuorientierung offen, den Jesus in diese Welt gebracht hat?
Es gibt theologische (und andere) Debatten, bei denen man sich verkämpfen kann. Ob es der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt ist oder der (öffentlich sanfter formulierter, hinter verschlossenen Türen häufig unverblümte) Ausschluss gleichgeschlechtlich Liebender, es haben sich vielfach Fronten gebildet, die einen hohen Grad von Verhärtung aufweisen. Dass die theologische Auseinandersetzung dann zuweilen auch noch über Facebook und Twitter stattfindet, macht es nicht einfacher. Man beißt auf Granit. Wie Flüchtlingshelfer oder Fahrradfahrer in der CSU.
Warum bist du noch dabei, werde ich immer häufiger gefragt. Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen.
Oder jemand aus dem Hauptvorstand der Evangelischen Allianz (ähnlich wie die Bischofskonferenz ein Gremium, das nicht durch Wahlen von der Basis, sondern Berufung von oben bzw. von innen heraus konstituiert wird) sagt etwas Nachdenklich-Selbstkritisches über Homophobie. Laut genug, um den loyalen Dissident*innen einen Funken Hoffnung zu geben, leise genug, um das System nicht in Aufruhr zu versetzen. Das Beschwichtigungsritual ist erprobt und bewährt.
Was könnte man mit der Energie, die da seit vielen Jahren schon verloren geht, nicht alles positiv bewegen? Gerade wenn man Kirche von ihrer Sendung her denkt, kann man sich mit diesen Selbstblockaden schwerlich abfinden. Jesus weist seine Jünger an, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie mit ihrer Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft in der Dorfgemeinschaft auf taube Ohren stoßen. Eine radikale, schroffe Geste.
Aber sie deutet etwas Wichtiges an. Weitergehen alleine reicht nämlich nicht, wenn ich dabei die alten Frontstellungen verinnerliche und mitnehme. Auch nicht in der treuen oder reflexhaften Negation – wie Jan Fleischhauers Abschiedsworte auf Spiegel Online diese Woche schön zeigen:
Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.
Der „Shitstorm“ gehört bei ihm ja zum Geschäftsmodell. Er dient als Beweis der Ignoranz und Intoleranz seiner Kritiker. Daher zählt Fleischhauer auch genüsslich die Millionen Klicks auf, die seine Beiträge erzielten. Man kann ihn lesen und sich verstanden fühlen oder sich ärgern. Brücken der Verständigung, Bewegung im Diskurs entstehen dabei allerdings kaum. Es geht nicht genug weiter. Die Blockade bleibt – im Kopf.
Gesucht: fruchtbare statt furchtbare Debatten
Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade „Digital Minimalism“ von Cal Newport lese: Solche Debatten mit hohem Erregungsgrad haben ein gewisses Suchtpotenzial. Man kann auch als Repräsentant der Minderheitenmeinung eine Menge Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen. Fleischhauer zeigte das bisher als Konservativer im Spiegel-Milieu, andere eben vor dem Hintergrund des römischen Klerikalismus oder im Lager der „Evangelikaner“ (um mal eine ausgesprochen passende Wortschöpfung des ZDF zu verwenden).
Vor einiger Zeit rief mich ein Redakteur eines stramm konservativ christlichen Blattes an und schlug mir vor, meine Position zu einer damals gerade aktuellen Kontroverse dort darzulegen. Ich entschied mich dagegen. Weder wollte ich als liberales Feigenblatt fungieren, noch anderen einen Anlass geben, ihre ewig gleichen Gegenpositionen erneut breitzutreten. Ich war an einen Punkt gekommen, wo ich meine Energie und Lebenszeit nicht mehr in solche Debatten mit hoher Aussicht auf Erregung, aber geringer Aussicht auf Ertrag investieren wollte. Es war eine gute Entscheidung. Als ich vor ein paar Wochen Frank Rieger auf der re;publica über Fragen von Desinformation und Cyberwar zuhörte, blieb mir diese Schlussfolgerung im Gedächtnis: „Vielleicht liegt die Zukunft in (halb)geschlossenen Benutzergruppen mit freundlichen, vertrauenswürdigen Menschen“. Andere Baustelle, ähnliche Strategie.
Weniger Erregung und Kontroverse bedeutet auch erst einmal weniger Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Auch das kann ein Grund sein, mich aus solchen Debatten nicht zu verabschieden und wenn schon nicht Menschen, dann doch Prämissen und Positionen die Treue zu halten, die ich ablehne.
Noch eine Analogie: In der hitzigen Phase der Flüchtlingsdebatte habe ich einige CSU-Mitglieder erlebt, die unter großen inneren Schmerzen aus ihrer Partei ausgetreten sind, weil ihnen ihre christliche Überzeugung wichtiger war. Auch sie haben ein Stück Heimat aufgegeben. Dabei hätte das Konzept „Bleiben und Verändern“ in einer demokratisch strukturierten Partei ja noch eher Aussicht auf Erfolg als in jenen kirchlichen Institutionen, die von weitgehend geschlossenen Zirkeln geführt werden. Ich fand es trotzdem richtig und konsequent. Und wenn Markus Söder momentan spürbar milder daherkommt als noch vor Monaten, dann liegt das auch am Mut dieser Ehemaligen.
Hier kommt die Frage:
Ist am Ende nicht das Bleiben, sondern das Verlassen der Schritt, der nicht nur den eigenen Seelenfrieden rettet, sondern auch den entscheidenden Impuls zum Wandel der Institution setzt? Also nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge, sondern auch der Nächstenliebe? Wir kommen ja alle aus einer spirituellen Tradition, die mit dem Ruf beginnt, die Heimat zu verlassen und dem unsichtbaren Gott zu folgen. Die Frage sollte, biblisch gesprochen nicht sein, mit wem ich die Vergangenheit geteilt habe. Sondern mit wem ich die Zukunft teilen will.
Wann dieser Punkt erreicht ist, das kann nur jede(r) selbst entscheiden. Thomas Wystrach gehört seit 2009 der altkatholischen Kirche an. Er beschreibt das Dilemma derer, die in der katholischen Kirche etwas verändern wollen, mehr als er es kommentiert.
Ich habe hier vor vier Jahren einen Abschiedsgruß an die evangelikale Bewegung geschrieben, in der ich eine Weile zu Gast war. Freundliche Kontakte gibt es nach wie vor, aber im Moment kann ich mir eine Mitarbeit in der Evangelischen Allianz nicht vorstellen. Und am postevangelikalen Gespräch habe ich auch nicht mehr groß teilgenommen. Das hat Disziplin gekostet. Aber wenn man sich auf Fragestellungen wie „Erlaubt die Bibel homosexuelle Beziehungen?“ einlässt, hat man schon verloren. Die Frage ist nicht, was die Bibel „erlaubt“, sondern wie wir heute mit der geschlechtlichen Vielfalt unter uns umgehen und wer dabei über wen bestimmen darf. Dazu würde ich dann auch gern wieder die Bibel ins Spiel bringen.
Die Kirche, in der ich arbeite, hat ihre Schwächen und Fehler. Außer dem faktisch sakrosankten Kirchsteuer- und Beamtenwesen (schade, aber verschmerzbar) gibt es freilich kaum Tabus. Dafür einen halbwegs anständigen Binnenpluralismus. Sie hat eine synodale, demokratisch legitimierte Struktur. Und sie hat sich mit einer recht unabhängigen wissenschaftlichen Theologie genug Läuse in den Pelz gesetzt, um nicht intellektuell träge und selbstzufrieden zu werden. Das sind für mich ausreichende Voraussetzungen für eine Beheimatung.
Keine Zeit mehr zu verschenken
Wir stehen gerade vor gewaltigen Aufgaben. Wenige Jahre bleiben uns noch, unsere Gesellschaften so umzubauen, um der ganz großen Klimakatastrophe zu entgehen. Die Welt gerät an so vielen Stellen aus den Fugen – politisch, sozial, religiös. Was tragen wir Christen zur Lösung dieser Fragen bei? Möchte ich da meine Zeit mit Leuten verplempern, die immer noch meinen, das Höllenfeuer sei schlimmer? Oder die auf dem Islam herumhacken? Die das Patriarchat als Gottes unumstößlichen Schöpferwillen ausgeben? Mit denen werde ich hin und wieder reden, aber nicht auf ihrem Turf und nicht zu ihren Prämissen.
Diesen Staub kann ich an meinen Füßen gerade nicht brauchen.
Und doch kommen wir heute auch in den Wissenschaften nicht ohne solche erzählerischen Kniffe zur Veranschaulichung aus: 13,7 Milliarden (Universum) oder 4,7 Milliarden Jahre (Erde) sind einfach eine zu gewaltige Zahl. Die meisten Menschen können sich das nicht vorstellen. Also rechnen wir es aus pädagogischen Gründen herunter: Auf ein Jahr, einen Tag oder auch nur 12 Stunden. Je nach gewählter Vergleichsgröße erscheinen wir Menschen in den letzten paar Minuten oder Sekunden(bruchteilen).
Übrigens reden auch wir erst seit 150 Jahren von „Milliarden“. Diese Zahlenangabe verbreitete sich im Deutschen erst 1870/71 im Kontext von Kriegsentschädigungen. Sollte man vor den jüdischen Priestern also nicht den Hut ziehen für diese didaktische Leistung? Bei allem, was wir an Komplexität und Detailwissen inzwischen dazugewonnen haben, kommen wir ohne solche Übertragungen in überschaubare, vorstellbare Zeiträume noch immer nicht aus.
Sich dafür zu entschuldigen wäre fast genauso daneben, wie darauf zu beharren, es seien buchstäblich sieben 24-Stunden-Tage gewesen (was auch immer der Begriff „Tag“ meint, wenn es noch keine Himmelskörper gibt).
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