Barmherzigkeit triumphiert

Diese Formulierung aus dem Predigttext von heute klingt immer noch nach. In einer Zeit, in der sich Gesellschaften spalten und in der viele politische Auseinandersetzungen immer unbarmherziger geführt werden, klingt das wie eine Stimme aus einer fremden Welt.

Vielleicht ist es ja das, was wir wieder neu in den Mittelpunkt rücken müssen. Barmherzigkeit heißt doch: Auch die Person auf der anderen Seite des Grabens, der sich zwischen uns auftut, hat Anspruch auf mein Mitgefühl. Der Graben ist zudem weit weniger tief und fundamental, als er oft scheint. In Wirklichkeit verbindet uns viel mehr, als uns trennt: Meinungen und Überzeugungen trennen uns, aber die können wir verändern und auswechseln. Was unveränderlich bleibt, das ist unser verletzliches Menschsein, unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse, Hoffnungen, Ängste und Schmerzen.

Joey Yu

Vielleicht erleben wir das noch einmal: Barmherzigkeit triumphiert über das Verurteilen. Denen gegenüber, die andere besonders vehement verurteilen, barmherzig zu bleiben, ist freilich ein Kunststück. Recht geben können wir ihnen ja nicht. Sie mit derselben Abscheu zu verurteilen, mit der sie anderen begegnen, würde aber bedeuten, denselben Fehler zu begehen wie sie. Nein, diese Unterschiede werden erst einmal bleiben und man darf sie auch offen benennen.

Aber parallel dazu könnte es Wege geben, im Kleinen wie im Großen, die Gemeinsamkeiten wieder stark zu machen. Kirche wäre ein Ort, das auch abseits der Tagespolitik immer wieder geduldig zu üben und andere dazu einzuladen.

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Memento

Im Umkleideraum eines Nürnberger Friedhofes steht ein Kassettenrecorder auf dem Fenstersims.  Er ist alt, etwas staubig und die Abdeckklappe ist herausgebrochen. Schwer zu sagen, ob er noch benutzt wird oder nur deswegen nicht in den Müll gewandert ist, weil niemand mehr weiß, wem er gehört.

Eigentlich passt er gar nicht so schlecht an diesen Ort: Auf seine Art ist er auch ein Memento Mori.  Es ist schon Jahre her, dass ich eine Kassette in der Hand hatte. Und dann auch nur, um sie wegzuwerfen.

Ich spüre einen Anflug von Nostalgie: So vergänglich ist Technik. Immerhin, Vinylplatten erleben ein Comeback im Smartphone-Zeitalter. Es gibt also in der Welt der Tonträger so etwas wie eine Auferstehung.

Steht der traurige Kassettenrekorder noch lange genug herum, um die Auferstehung seines Systems zu erleben? Ich kann gut ohne die ollen Magnetbänder leben. Es gibt ja die Vorstellung, dass Gott uns Menschen bis zur Neuschöpfung der Welt im Gedächtnis hält. Quasi ein Speichermedium, das seit Milliarden von Jahren funktioniert, ohne an Kapazitätsgrenzen zu stoßen, dem Verschleiß zu erliegen oder inkompatibel zu werden.

Als wäre ich ein Song auf seinem großen Mixtape. Und irgendwann holt er es hervor, spielt es ab und singt dazu. Und während er singt, passiert das, was immer passiert: Seine Worte werden fassbare und fühlbare Wirklichkeit.

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Paradoxe Heimat

Inzwischen wirbt sogar die Piratenpartei mit dem Thema Heimat. Eine weitgehend grüne Landschaft von oben ist zu sehen. Wahrscheinlich ist das piratentypische daran, dass es von einer Drohne fotografiert wurde.

Soll man das als Signal der Verzweiflung verstehen, oder als Aufhänger für einen eigenständigen Diskussionsbeitrag? Es scheint, dass auch die Piraten um dieses Thema nicht herumkommen. Beispiellos unpopulär indes: Heimatminister Seehofer. Irgendwas ist faul mit dieser Heimat. Nicht nur im Wahlkampf.

Mehrfach habe ich in den letzten Wochen gehört: Christen haben ihre Heimat „im Himmel“. So weit, so korrekt. Die Tageslosung vom 13. September wirft ein interessantes Licht darauf: „Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe.“ (2.Mose 23,20) Sie ist eine Art Pendant zu dieser Aussage aus dem Pentateuch.

Für Israel zur Zeit des Exodus galt das, was für Christen heute noch gilt: Die eigentliche Heimat haben wir noch gar nicht gesehen. Sie kann also gar nicht in einer verklärten Vergangenheit bestehen. Sondern in einer Zukunft, die sich erst in der Begegnung mit Gott klärt. Heimat ist nicht das Bekannte, sondern das Unbekannte. Nicht das Erwartbare, sondern das Überraschende. Und so wie beim Geburtsort suche ich mir die endgültige, ultimative Heimat nicht selber aus. Nur die Zwischenstationen.


Sweet Ice Cream Photography

Immer noch suchen (und finden) Menschen Heimat in den Kirchen. Wenn wir das falsch anpacken, nämlich reaktionär, werden unsere Gemeinden zum Heimatmuseum. Wenn wir es richtig verstehen, dann werden aus ihnen Weggemeinschaften, die miteinander unterwegs sind. In unwegsamem Gebiet, hin zu einem Ziel, das sie noch gar nicht richtig kennen. Aber mit einem Vorgeschmack in der Nase und auf den Lippen: Frisches Brot und neuer Wein, das Salz getrockneter Tränen und abgewischten Schweißes, oder ein gebratener Fisch.

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Wie Achtsamkeit und Absichtslosigkeit zusammengehören

Gestern las ich auf Spektrum.de das hilfreiche Interview mit Thomas Joiner über die Vermarktung von Achtsamkeit. Dabei erinnerte ich mich wieder an eine Gesprächsrunde über Spiritualität vor einigen Wochen. Dort standen wir schon vor der Schwierigkeit, dass Spiritualität (die viel mit Achtsamkeit zu tun hat, aber noch mehr umfasst) eigentlich in dem Moment schon kompromittiert ist, wo ich sie als Mittel zum Zweck verstehe.

Absichtlich Absichtslos?

Absichtslosigkeit ist hier das Stichwort. Ich muss das kurz erklären. Absichtslos zu handelt, bedeutet: Ich tue, was ich tue, nicht um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Der Zweck – wenn man überhaupt davon reden will – liegt vielmehr in dem, was ich tue. Nehmen wir ein Seelsorgegespräch. Ich denke, es verläuft anders, wenn es nicht meine Absicht ist, mein Gegenüber in einer bestimmte Richtung zu lenken. Dann kann ich einfach da sein, Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Ich muss aber hinterher meine Performance nicht bewerten und auch nicht den therapeutischen Ertrag. Beim Gebet ist es dasselbe. Statt von »Absichtslosigkeit« könnte man (mit Einschränkungen) auch von »Ergebnisoffenheit« oder (besser) von »Selbstvergessenheit« reden.

Mein Eindruck ist, dass viele der Wirkungen von Meditation eigentlich Nebenwirkungen dessen sind, dass ich mich für eine tiefere, spirituelle Wirklichkeit öffne. In dem Augenblick, wo diese Effekte nicht mehr unbeabsichtigt sind, verändert sich der Charakter dessen, was ich tue. Die biochemischen und neurologischen Wirkungen etwa von Atemübungen sind durchaus real. Aber ich bleibe dabei immer noch der Mittelpunkt meiner Realität, mein Befinden das Maß der Dinge.

Daniil Kuželev

Empfänglich werden

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, Dinge zu tun, von denen ich merke, dass sie mir gut tun. Das an sich lässt sich mit einer absichtslosen Haltung durchaus verbinden. Spaziergänge im Grünen etwa tun mir gut. Schwierig wird es, wenn diese Spaziergänge dazu dienen, mich in anderen Bereichen und zu anderen Zeiten mit einem Lebensstil zu arrangieren, der Raubbau an meinen Ressourcen und denen der Natur bedeutet. Also draußen in der Schöpfung „aufzutanken“, um danach meiner Natur und der Natur um mich herum zu schaden. Aber es könnte ja auch sein, dass mich der Spaziergang sensibilisiert für das zarte Gleichgewicht, für die vielen verschiedenen Lebewesen und deren Bedürfnisse. Vielleicht stellt sich sogar eine Harmonie ein.

Ich bin, so betrachtet, nicht darum bemüht, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Vielmehr werde ich empfänglich für Einwirkungen, die das Alltagsbewusstsein oft ausblendet. Manche kommen tief aus meinem Inneren, vom Grund der Seele. Andere kommen eher von außen, oder von „oben“. Räumliche Metaphern sind da etwas schwierig, aber als körperliche Wesen kommen wir kaum ohne sie aus.

Indem ich die wertende Dauerfrage des Alltagsbewusstseins („Was bringt’s mir?“) zurückstelle, schaffe ich die Möglichkeit, dass sich Unerwartetes ereignet. Absichtslose Achtsamkeit dezentriert mich also in gewisser Weise. Ich trete einen Schritt zu Seite, um zu defokussieren und den inneren Richter auszuschalten. So können andere Seiten meiner selbst und meiner Beziehungen zu dem, was mich umgibt, in den Blick kommen. Das ist dann schon etwas anderes als die von Joiner bemängelte Achtsamkeitspraxis, die im Selbstbezug stecken bleibt.

Zuletzt: Auch Gott kann sich mir dabei zeigen oder zu mir sprechen. Freilich ist  das weder machbar, noch kann ich es zur Bedingung dafür erheben, still zu werden. Kontemplation ist in erster Linie eine Haltung, keine Technik. Und Übungen können helfen, diese Haltung einzunehmen und zur Gewohnheit zu machen.

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Sind wir mehr? Warum Zahlen weniger zählen, als man meinen könnte

In den Gesprächen und Diskussionen mit allen möglichen Leuten tauchte in letzter Zeit immer wieder die Frage nach Mehr- und Minderheiten auf.

Mit #wirsindmehr haben sich viele Bürger gegen rechte Aufmärsche gestellt. Und deren Versuch, eine autoritäre und rassistische Politik durchzusetzen, zurückgewiesen.

Viele Christen (auch und gerade in volkskirchlichen Leitungsaufgaben) erleben, wie sie sich mit ihren Überzeugungen und Gewohnheiten immer öfter in einer Minderheitensituation wiederfinden: »Wir« werden weniger, von einzelnen Ausnahmen abgesehen. Was bedeutet das für die Kirchen in 20 Jahren? Auf was bereiten wir uns vor, worauf stellen wir uns ein? Und werden wir ob des schwindenden gesellschaftlichen Einflusses zaghafter und leiser oder mutiger und deutlicher den Mächtigen gegenüber?

Justin Snyder Photo

Christen brauchen sich vor einer Minderheitenkirche nicht zu fürchten und Demokraten sollten sich auf ihren Mehrheiten nicht ausruhen. So zumindest würde es wohl Yuval Noah Harari sagen. In »Homo Deus« vertritt der Historiker die These, dass es in größeren sozialen Gebilden eine untergeordnete Rolle spielt, wer in der Mehrheit ist. Gut organisierte Minderheiten erreichen deutlich mehr als desorganisierte Massen:

Revolutionen werden üblicherweise von kleinen Netzwerken von Agitatoren in Gang gesetzt, nicht von den Massen. Wenn man eine Revolution anzetteln möchte, fragt man nicht; »Wie viele Menschen unterstützen meine Ideen?«, sondern: »Wie viele meiner Anhänger sind zu effektiver Zusammenarbeit fähig?« […] 1917, zu einer Zeit, da die russische Ober- und Mittelschicht mindestens drei Millionen Menschen umfasste, zählte die kommunistische Partei lediglich 23.000 Mitglieder. Trotzdem erlangten die Kommunisten die Kontrolle über das riesige russische Reich… (184f.)

Ob in Sachen Demokratie oder Kirche, und natürlich auch überall da, wo Kirche Anwältin der Demokratie ist: Es geht also darum, den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit zu fördern und zu stärken. Man muss damit freilich nicht warten, bis man zur Minderheit geschrumpft ist. Aber als Mehrheiten leisten wir uns Eitelkeiten, Exzesse und Egotrips, die den Zusammenhalt schwächen oder stören. Weil wir meinen, es zu können. An dem Punkt ließe sich sofort ansetzen.

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Katastrophenwerbung

Ich komme zum Taufgottesdienst in eine alte Dorfkirche im Umland. Beim Betreten der Kirche wundere ich mich, dass Stufen von draußen in das Kirchenschiff hinab führen. Der Mesner erklärt, dass liege an der Pest im Mittelalter. Um die vielen Toten alle begraben zu können, musste der Friedhof um die Kirche herum „aufgestockt“ werden. Man schüttete zusätzliche Erde auf, und dabei blieb es bis heute.

In Homo Deus, das auf meinem Schreibtisch liegt, las ich diese Woche, wie verheerend solche Epidemien bis vor rund 100 Jahren tobten. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung Eurasiens starb an der Pest, in England überlebten von 3,7 Millionen Menschen nur 2,2 Millionen, schreibt Yuval Noah Harari und spricht von einem „Seuchen-Tsunami“.

Ich mache mich auf den Heimweg. Ein paar hundert Meter entfernt von der Kirche steht ein Wahlplakat der FDP. Dort lese ich:

Geschenkt: Keinen Empfang zu haben, ist ärgerlich. Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher, und der Netzausbau kommt unter dem CSU-Minister Scheuer – wie so vieles – bisher nicht vom Fleck. Darauf könnte man hinweisen.

Aber was, bitteschön, hat das mit der Pest im Mittelalter zu tun? Wo genau soll der Vergleichspunkt liegen? Und was will der stramm gescheitelte junge Kandidat damit sagen? Dass es uns heute besser geht als damals? Wohl eher nicht, auch wenn es natürlich stimmt. Dass Funklöcher lebensgefährlich sein können? Beschämend, aber es betrifft nur einzelne. Vermutlich hat er einfach nur einen dramatischen Aufhänger gesucht. Irgendeine Katastrophe musste halt her. In Bayern am besten etwas, das mit Schwarz assoziiert wird, also schwarzer Tod, Pest, fertig und ab in den Druck.

Die Toten auf dem erhöhten Friedhof werden sich in ihren Gräbern umdrehen. Und froh sein, dass sie damals wenigstens keine Wahlplakate der FDP ertragen mussten.

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