Extremisten der Gerechtigkeit

Der Anwalt Brian Stevenson ist einer der wichtigsten Bürgerrechtler der USA. Gerade ist sein Buch „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ auf Deutsch erschienen. Einen kleinen Einblick in sein Anliegen gibt dieser TED-Clip:

Stevenson beklagt in seinem Vortrag die Diskriminierung der Schwarzen und der Armen und die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft, die es als einzige in der Welt fertigbringt, schon Kinder lebenslang einzusperren. Und er wünscht sich eine Diskussion darüber, wie seine Gesellschaft mit den Benachteiligten umgeht und was das über sie aussagt.

Eigentlich ist es ja müßig, die US-Gesellschaft auf einem Blog in deutscher Sprache zu kommentieren, und ich hätte das Ganze hier auch nicht thematisiert, hätte ich am Wochenende nicht erstens einen Brief von Martin Luther King Jr. gelesen. Am 16. April 1963 schrieb er aus dem Gefängnis von Birmingham (Alabama) an seine Kritiker (darunter auch Billy Graham!), die ihm vorwarfen, die Bürgerrechtsbewegung durch seine Ungeduld gegen die Wand zu fahren. King schreibt dort unter anderem:

wenn Sie immer und immer wieder gegen das erniedrigende Gefühl ankämpfen müssen, “niemand zu sein” – dann werden Sie verstehen, warum es uns so schwer fällt zu warten. Es kommt eine Zeit, wo das Maß des Erträglichen überläuft und der Mensch nicht länger gewillt ist, sich in Abgründe der Ungerechtigkeit stoßen zu lassen, in denen ihn die Finsternis und Leere zermürbender Verzweiflung umgibt.

Und dann fallen Sätze, wie man sie heute in Deutschland auch hören könnte, man müsste nur die Rassen- mit der Flüchtlingsfrage vertauschen:

Als erstes muss ich bekennen, dass ich in den letzten Jahren von den gemäßigten Weißen zutiefst enttäuscht wurde. Ich bin beinahe zu dem Schluss gekommen, dass das große Hindernis auf dem Wege des Negers in die Freiheit nicht der Weiße Bürgerrat oder der Ku-Klux-Klan ist, sondern der gemäßigte Weiße, dem “Ordnung” mehr bedeutet als Gerechtigkeit, der einen negativen Frieden, in dem es keine Spannungen gibt, einem positiven Frieden, in dem Gerechtigkeit herrscht, vorzieht; der ständig sagt: “Mit Ihrem Ziel bin ich völlig einverstanden, nicht aber mit Ihren Methoden der direct action”; der meint, in väterlicher Fürsorge die rechte Zeit für die Freiheit eines anderen bestimmen zu müssen; der dem Neger immer wieder rät, einen “passenderen Zeitpunkt” abzuwarten. Oberflächliches Verständnis bei Menschen, die guten Willens sind, ist entmutigender als absolutes Missverständnis bei Menschen bösen Willens. Lauwarme Anerkennung ist irreführender als völlige Ablehnung.

Heute sind dies die Stimmen, die sagen, man dürfe es mit der Hilfsbereitschaft und der Willkommenskultur doch bitte nicht übertreiben. Die auf das Zähnefletschen der Rechten zeigen und deren Hass legitimieren, obwohl sie ihn angeblich nicht teilen, sondern verabscheuen, indem sie deren Grunddogma des „zu viel, zu schnell, zu weit“ bekräftigen. Die Nächstenliebe ständig als luxuriösen Kostenfaktor thematisieren, den man sich leisten können muss, anstatt zu fragen, was aus unserer Gesellschaft wird, wenn wir meinen, uns das nicht leisten zu können.

Ein großer Chor älterer weißer Männer hält sich, wie Sascha Lehnartz letzte Woche schrieb, für ähnlich souverän und abgeklärt wie jene paternalistischen Bremser damals, und kritisiert Kanlzlerin Merkel nun als kopfloses Gefühlswesen, das irrational und gefährlich handelt:

In einem rhetorischen Überbietungswettbewerb stellen sie die Kanzlerin als Frau dar, der die Kontrolle über ihr Handeln entglitten ist. Sie verletze ihren Amtseid und schade Deutschland. Im Grunde bewegt sie sich in den Augen dieser Männer nur noch knapp unterhalb der Landesverratsschwelle.

Bei allen Parallelen zwischen den USA und Deutschland, Rassen- und Flüchtlingshass, King und Merkel, Einsperr- oder Aussperrreflexen – die Frage danach, was für eine Gesellschaft wir denn sein wollen, müssen wir hier genauso führen wie die US-Amerikaner.

Die Antwort hingegen könnte hier weniger ernüchternd und deprimierend ausfallen. Felix Stephan, der in der Online-Ausgabe der Zeit fordert, das ganze Land soll endlich reden, sieht die Rechten in Deutschland selbst in der aktuell steigenden Umfragetendenz dauerhaft in der Minderheit. Die Gesellschaft ist keineswegs gespalten. Er beruft sich auf Beobachtungen des Sozialpsychologen Harald Welzer und die Aktion Offene Gesellschaft, wenn er schreibt:

… wenn in Flensburg 10.000 Menschen nach Feierabend ein Schichtensystem organisieren, um dem humanitären Selbstverständnis Europas gerecht zu werden, so hört man davon doch relativ wenig. Wenn sich aber 10.000 Rechte zum Fackelmarsch in Dresden oder Erfurt versammeln, sind die Nachrichten Woche für Woche voll davon.

Die Hoffnungsträger sind dabei die einfachen Leute. Während die Politiker der Regierung immer noch mit der Blamage ringen, die Krise, die ja mit Ansage kam, verleugnet und verschlafen zu haben, während das Gezerre der EU-Regierungen um Kosten, Quoten und Grenzen nicht so recht vom Fleck zu kommen scheint, haben die Bürger der Mehrheitsgesellschaft schon gehandelt:

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK hat gerade ergeben, dass die Altersgruppe der um die 30-Jährigen in diesem Jahr pro Kopf durchschnittlich 24 Euro weniger für Weihnachtsgeschenke, dafür 63 Euro mehr für Hilfsorganisationen ausgeben will. Der Solidaritätsbeitrag für die zweite große Integrationsleistung in der Geschichte der Bundesrepublik wird gewissermaßen schon bezahlt, bevor überhaupt jemand auf die Idee gekommen ist, danach zu fragen.

Ob in den Gefängnissen oder an den europäischen Außengrenzen: Forderungen nach Menschlichkeit und Barmherzigkeit sind weder unmännliche Gefühlsduselei noch unbezahlbarer Luxus. Noch wichtiger scheint mir die Einsicht, dass der richtige Weg nicht der rechte ist und auch nicht in der geometrischen Mitte des politischen Spektrums zwischen rechten Asylgegnern und linken Befürwortern verläuft. Das wäre die lauwarme Taktik, von der Martin Luther King so enttäuscht war. Der richtige Weg ist viel radikaler – wir brauchen Extremisten der Gerechtigkeit:

Als ich aber weiter darüber nachdachte, erfüllte es mich mit einer gewissen Genugtuung, ein Extremist genannt zu werden. War nicht Jesus ein Extremist der Liebe? “Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen.” War nicht Amos ein Extremist der Gerechtigkeit? “Es soll aber das Recht offenbar werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.” War nicht Paulus ein Extremist der Lehre Jesu Christi? “Ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe.” War nicht Martin Luther ein Extremist? “Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.” War nicht John Bunyan ein Extremist? “Ehe ich aus meinem Gewissen eine Mördergrube mache, will ich lieber bis ans Ende meiner Tage im Gefängnis bleiben.” War nicht Abraham Lincoln ein Extremist? “Diese Nation kann nicht weiterleben – zur Hälfte Sklaven, zur Hälfte Freie.” Und war nicht auch Thomas Jefferson ein Extremist? “Wir halten es für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.” Es geht also nicht darum, ob wir Extremisten sind, sondern was für Extremisten wir sind. Sind wir Extremisten des Hasses oder der Liebe? Sind wir Extremisten, die die Ungerechtigkeit aufrechterhalten wollen, oder sind wir Extremisten der Gerechtigkeit?

Share