Evangelische Klarheit und evangelikale Verwirrung

Nachtrag (17.11.): Der Beitrag, auf den sich dieser Post bezieht, ist aus dem Netz genommen worden (er war zwischenzeitlich auch auf den Seiten der Evangelischen Allianz zu lesen), und idea hat folgende Stellungnahme dazu veröffentlicht:

idea hat einen Kommentar des Theologen und Journalisten Dr. Uwe Siemon-Netto veröffentlicht. Der Beitrag hätte in dieser Form nicht publiziert werden dürfen. Dafür entschuldige ich mich!
Ich habe veranlasst, dass dieser Kommentar nicht in ideaSpektrum veröffentlicht und aus dem Netz genommen wird. Er ist leider in seiner Wortwahl und in seinem Vergleich unangemessen und falsch.
Helmut Matthies, Leiter der Evangelischen Nachrichtenagentur idea (Wetzlar)

Nachtrag zum Nachtrag (18.11.): Uwe Siemon-Netto hat inzwischen auf seiner Facebook-Seite erklärt, sein Kommentar sei am Samstag auf Bestellung von Helmut Matthies erschienen und er sei über die Löschung und die Distanzierung von gestern nicht informiert worden. Er äußert menschliche Enttäuschung über den Vorgang und sieht Matthies als Opfer der „Erpressung“ durch die EKD, die idea derzeit mit beachtlichen 130.000 € pro Jahr fördert. Er erneuert und verschärft seine Kritik.

Das legt nahe dass Matthies‘ Distanzierung (der Beitrag war ja sowohl bestellt als auch freigegeben) wohl nicht aus innerer Einsicht erfolgte. Matthies bestreitet das wiederum in einem Facebook-Post („Die Entscheidung, den Artikel zu entfernen, hat idea unabhängig und aus inhaltlichen Gründen getroffen“). Der Sinneswandel wird aber nicht näher erläutert, und Matthies‘ eigener Beitrag aus der vergangenen Woche, der der EKD vorwarf, die Meinungsfreiheit einzuschränken (und an den Siemon-Netto m.E. inhaltlich anknüpft), wird in seinen Klarstellungen nicht erwähnt.

Die Verwirrung ist also komplett. Jetzt zu meinem Text, den habe ich nach Lage der Dinge unverändert gelassen (und falls sich jemand über meine Einstellung gegenüber evangelikalen Christen Sorgen macht, kann er hier nachlesen):

Ein evangelikaler Nachrede… pardon, Nachrichtendienst fährt seit der EKD-Synode in Bremen, in der sich die evangelischen Kirchen klar von AfD, Pegida und deren rechtem Sympathisantenkreis distanziert haben, einen publizistischen Frontalangriff nach dem nächsten. In einem Kommentar zu den Anschlägen von Paris wurde gestern, nur Stunden nach dem Inferno, dem Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm „Totalitarismus“ unterstellt, und seine Kritik an Ausgrenzung und Abschottung indirekt als Einladung zu Mord und Terror qualifiziert.

Das ganze ist eine moralische, intellektuelle und politische Bankrotterklärung: Politisch, weil durch genau solche Reaktionen das Kalkül des IS aufgeht, einen Religionskrieg zwischen Europa und der muslimischen Welt zu provozieren, der den friedlichen Islam schwächt und den Radikalen neue Anhänger beschert. Intellektuell, weil diese Art der „Argumentation“, wie Axel Hacke in einem erhellenden Beitrag für die SZ schreibt, „die blanke, unverhüllte Rohheit, die Mitleidlosigkeit, die Entkleidung des Menschen von jeder Zivilisation“ in sich trägt, und insofern als „dumm“ zu bezeichnen ist (Bonhoeffer hätte ihm zugestimmt!). Moralisch deswegen, weil sich die Initiatoren dieser medialen Schlammschlachten gar nicht für die Opfer des Terrors interessieren, sondern dafür, dass ihre Vorurteile bestätigt werden und sie ihre Kampagnen fortsetzen können.

Condolences to the family of Victims by Lion Multimedia Production U.S.A., on Flickr

In demselben Maß, in dem der Begriff „evangelisch“ in diesen Tagen erfreulich profiliert ist, ist das Etikett „evangelikal“ wertlos geworden. Freilich gibt es viele Evangelikale, die über den Nachrichtendienst wütend und empört sind. Aber es gibt, so weit ich sehe, keine Instanz, die hier eine klare Distanzierung zu den geistigen Giftmischern herbeiführt. Auch diese Gestalten nennen sich ja gern „evangelikal“. Sie reklamieren dieses Etikett sogar ziemlich vehement für ihre Positionen. Und es gibt eine schweigende „Mitte“, die an diesem Punkt nicht öffentlich Stellung bezieht. Vielleicht hoffen die Zauderer noch, dass die Aufregung sich bald legt und alles wieder wie früher wird.

Sie irren sich.

Dies alles vollzieht sich über einer Sache, die in jeder Hinsicht theologisch zentral ist: Wie ernst nehmen wir Gottes Gebot, für den Fremdling zu sorgen und ihn zu schützen? Wie ernst nehmen wir Jesu Hinweis, dass sich die Pflicht zur Nächstenliebe nicht durch ethnische und religiöse Kategorisierungen umgehen lässt? Wie bewusst ist uns, dass das Kreuz als das zentrale Symbol des Glaubens dafür steht, dass sich Gott in Christus durch seine Liebe zu den Feinden (die waren wir!) und einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten ein für allemal definiert hat? Sehen wir Glaube und Religion als totalitäre, in sich geschlossene und homogene Größen, die alles Andersartige entweder absorbieren oder aber eliminieren müssen, oder glauben wir an Gottes „herrschaftsfreie Ordnung“ und an eine heilsame Veränderung menschlicher Gemeinschaften von den Rändern her, durch die Schwachen und Ohnmächtigen? Wie steht es damit, dass uns Jesus heute in Gestalt der Leidenden begegnet? Ist Gottes Heil etwa an das christliche Abendland gebunden, das die Welt Jahrhunderte lang militärisch, kulturell und religiös kolonisiert und geknechtet hat, und es wirtschaftlich immer noch tut (oder versucht) – und das mit seiner Vernichtung anderer Zivilisationen die Saat für all jene Armut, Korruption, Gewalt und Terror mit gelegt hat, gegen die es jetzt so selbstgerecht wie angstbesessen zu Felde zieht? Wollen wir Licht und Salz sein, oder lieber Öl im Feuer und Säure in den Wunden?

Es geht hier, das haben die evangelischen und katholischen Bischöfe (nicht zu vergessen die bayerischen Ordensgemeinschaften) unmissverständlich deutlich gemacht, um alles. Dass just in diesem Moment, wo sich ökumenisch die Reihen schließen, die evangelikalen Flügelkämpfe so eskalieren, wirft ernste Fragen auf.

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