Vorgestern war der 70. Jahrestag der Befreiung Nürnbergs durch die US-Armee. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass es der 20. April war, an dem sie nach 5 Tagen Kampf abgeschlossen wurde. Nürnberg hatte in den Augen der Amerikaner keine große strategische Bedeutung, aber einen hohen symbolischen Wert: Die Stadt der Reichsparteitage, die Stadt der Rassengesetze, die Hochburg des besonders fanatischen Gauleiters Julius Streicher. Später kamen noch die Nürnberger Prozesse dazu.
Nürnberg hat sich viele Gedanken gemacht, wie man mit diesem Erbe umgeht. Ein Dokuzentrum wurde errichtet, die Straße der Menschenrechte setzt einen anderen architektonischen und das Zentrum für Menschenrechte einen anderen inhaltlichen Akzent, allenfalls die Besucher des Norisrings und der großen Open-Air-Konzerte am Zeppelinfeld kommen den inzwischen maroden Bauten des dritten Reiches noch richtig nahe. Und Fanatismus wird allenfalls im Fußball noch toleriert. All das ließe sich als „taking back history“ beschreiben, nur orientiert man sich klugerweise nach vorn und an der Gegenwart.
Etwas ungeschickter lief die – zweifellos gut gemeinte – Bewältigung der düsteren Vergangenheit durch verschiedene christliche Initiativen aus dem pfingstlich-charismatischen Spektrum. Dort wurde der Verweis auf die NS-Zeit immer wieder recht zwiespältig interpretiert, indem man sich zwar klar vom Faschismus abgrenzte, aber das schloss den Eroberungsgedanken nicht ausdrücklich ein, vielmehr wurde dieser einfach umgedreht.
Nachdem damals die Bösen ihren Feldzug von hier aus angetreten hatten, so schien es, sollten das nun die Guten machen und die Stadt, das Land oder neuerdings eben auch den europäischen Kontinent erobern. Natürlich nicht für sich selbst, sondern „für Gott“, aber solche Aussagen klingen in den Ohren vieler, die sie hören und lesen, eben ausgesprochen zwiespältig. Zumal dann, wenn eine Bewegung, die in ihren Selbstbeschreibungen gern das Attribut „radikal“ im Mund führt, dezidiert laut und plakativ auftritt und womöglich auch mit dem für eine offene Gesellschaft typischen Pluralismus von Weltanschauungen und Lebensformen ihre Mühe hat (genau das nämlich verbirgt sich hinter dem Fundamentalisten-Schlagwort des „Säkularen Humanismus“), solche Rückeroberungsphantasien in die Welt setzt. Und wenn von nur noch 2% Christen in Europa die Rede ist, dann liegt der Aussage ganz offenkundig eine massiv verengte Definition von Christsein zugrunde.
Freilich waren es in der Regel nicht die Gemeinden aus Nürnberg oder der Region, die solche Parolen erfanden. Aber die Vorstellung, Ausgangspunkt einer gewaltigen Erweckung zu werden hat, zumal wenn man das immer wieder von Außen gesagt bekommt, ja auch etwas Schmeichelhaftes und Verlockendes. So ließe sich die Schmach der Vergangenheit vielleicht ja auch schneller und effektiver abschütteln oder kompensieren. Meine Frage an dieser Stelle ist allerdings, ob sich die Christen in der Region einen Gefallen tun, wenn sie die alten und überholten, vor allem in amerikanischen Köpfen aber immer noch dominierenden Zuschreibungen übernehmen, selbst wenn sie auf deren Umkehrung hoffen.
Anders gefragt: Muss denn der Segen, den wir uns wünschen, in einem spiegelbildlichen Verhältnis zum „Fluch“ des dritten Reiches stehen, oder darf er vielleicht ganz anders aussehen? Was für eine Geschichtstheologie wird denn da eigentlich bemüht in der Werbung für fromme Massenveranstaltungen? Ist Gott an solche Kontinuität gebunden, interessiert sie ihn oder ist er doch vielleicht völlig frei, in dem wo und wie er handelt? Und könnte man das den Initiatoren (fast hätte ich „Invasoren“ geschrieben…) künftig bitte freundlich, aber unnachgiebig ausreden?