Alpha analysiert (1): Kochbuch-Methodismus und Zahlenverliebtheit

Zur Erinnerung: Ich hatte neulich meine positiven Erfahrungen mit Alpha und die guten Seiten dieses Konzepts gründlich beleuchtet. Jede Stärke hat freilich auch ihre Schattenseite, und auch die lässt sich klar benennen. Ich versuche das hier mal aus meiner begrenzten Perspektive.

1. Die quasi „magische“ Rezeptur:

Zugegeben, Alpha hat eine beeindruckende Erfolgsgeschichte geschrieben. Auf die statistische Seite komme ich später noch zurück, den ökumenischen Aspekt habe ich schon erwähnt. Da liegt es nahe, nach dem Grundsatz „never change a winning team“ zu verfahren, zumal sich auch bald herausstellte, dass viele eigenwillige Adaptionen (wir lassen ein paar Abende/Themen weg, wir verzichten auf das Wochenende etc.) keineswegs Verbesserungen darstellten.

So darf es durchaus inhaltliche Elementarisierungen wie Jugend-Alpha geben, und jede(r) Referent(in) vor Ort kann eigene Beispiele und Erfahrungen in seine Kursvorträge einbauen, man verzichtet auch auf „Zertifizierungen“ oder „Lizenzierungen“ (das gibt es bei anderen Konzepten durchaus auch). Der Freiheit des Anwenders entspricht aber eine starke Betonung der Werktreue. Nicky Gumbels Questions of Life ist unter der Hand zu einer Art sacred text geworden. Verständlicherweise: Man kann durchaus, vor allem wenn man in London lebt, wo gefühlt alle Welt Englisch zu sprechen scheint und die Interessenten aus aller Herren Länder einem die Tür einrennen (während man die Skeptiker und die Enttäuschten nie zu Gesicht bekommt), den Eindruck gewinnen, dass Alpha ohne jede mühsame „Portierung“ immer und überall „funktioniert“.

Das klappt bei Coca-Cola ja auch bestens: die geheimnisvolle Rezeptur verkauft sich überall auf der Welt so gut, dass man sie möglichst unangetastet lässt. Also hat nach 20 Jahren selbst Nicky Gumbel seinen Text nur ganz leicht bearbeitet. Ausgetauscht wurden ein paar Zitate und Beispiele, gleich blieb die modernistische Apologetik á la C.S. Lewis und Nicky Gumbels Rhetorik im Stile des After-Dinner-Talks. Bei Schulungen und Trainingstagen wird – mit einem gewissen Recht – dann auch empfohlen, sich zunächst einmal möglichst so genau ans „Rezept“ zu halten, wie man das als Laie bei einem Kochbuch von Jamie Oliver tun würde.

Eine (nicht nur mir) aus hunderten von Gesprächen mit Leuten an der „Basis“ bekannte Tatsache ist aber auch, dass dieser Ansatz viele überfordert. Intuitiv merken „Anwender“, dass Stil und/oder Inhalt gewisse Inkompatibilitäten mit dem eigenen Kontext aufweisen. Und dann entstehen aus der Verlegenheit heraus problematische Adaptionen, die wiederum nur den Appell zu größerer „Werktreue“ verstärken. In der Schweiz hatte der katholische Pfarrer Leo Tanner das Problem schnell erkannt und das Material für seinen Kontext bearbeitet. Es war und blieb jedoch ein inoffizieller Schritt, dem keine weiteren mehr folgten.

Angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft seit Anfang der Neunziger viel postmoderner geworden ist, dass Deutschland mit seinem Drittelmix aus Protestantismus, Katholizismus und Atheismus in Glaubensdingen anders „tickt“ als die Briten, und angesichts der spürbaren Veränderungen, die der 11. September 2001 in der öffentlichen Debatte über Religion in der Gesellschaft ausgelöst hat, hätte hier gedanklich mehr investiert werden müssen. Nicky Gumbel dagegen ist keiner, der unentwegt theologisches und gesellschaftliches Neuland erkundet, sondern ein Meister des Recyclings. Egal ob er auf Dawkins oder den Da Vinci Code antwortet, er greift immer wieder auf seine eigenen Argumente zurück, die er in Why Jesus, einer Auskopplung aus Questions of Life, vor gut 20 Jahren geschrieben hat.

Dieser Hang zum Methodismus und die Konzentration auf eine zentrale Figur zeigen sich auch an anderer Stelle: Die Einheit der Kirchengemeinde Holy Trinity Brompton mit ihren vielen Gottesdiensten, die etwa in der Frage von Uhrzeit, Musikstil und Ambiente durchaus eine gewisse Vielfalt aufweist, hängt vor allem am Aushängeschild oder der Galionsfigur des Predigers, und so muss Nicky sich gelegentlich aus einem laufenden Gottesdienst ausklinken, um rechtzeitig am nächsten Veranstaltungsort zu erscheinen, wenn er nicht gleich per Video als digitale Konserve dort eingespielt wird. Oder darin, dass neben Alpha alle möglichen Kurse entwickelt und von einem engagierten Vertriebsteam verbreitet worden sind: Allen voran der Marriage Course (das Gesamtprogramm Ehe und Familie firmiert unter „Relationship Central„), dazu kommt zum Beispiel „Worship Central“ oder „God at Work“ aus der Feder des Investment-Bankers und HTB Ken Costa, der zwar einen ethischen Kapitalismus möchte, aber eine europäische Bankensteuer vehement ablehnt.

Der Begriff „Zentrale“ fällt keineswegs zufällig, er spiegelt eine bestimmte Mentalität wider: Vor zwei Jahren traf ich den Leiter des missionarischen Amtes einer deutschen Landeskirche, der gerade aus London zurückkam und etwas konsterniert bemerkte, dort werde ja für jede Lebenslage ein Kurs angeboten. Ich bin sicher, dass viele Menschen von diesen Kursen profitieren. Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, dass da im Prinzip schon alle Antworten irgendwo vorfabriziert und abrufbar sind. Es kommt viel heraus aus diesem Pool, aber man ist (wie bei so manchen Megachurches) nicht immer sicher, ob da auch noch viel von Außen hineingeht.

Zurück zu Alpha: Ich vermute ja, dass weniger der theologische Gehalt der Vorträge den Kurs so populär gemacht hat als vielmehr der informelle Stil, die schon lobend erwähnte Kultur der Gastfreundschaft und – sofern er live oder (in vielen Kursen außerhalb von London) via DVD erscheint – die sympathische Ausstrahlung von Nicky Gumbel.

2. Verliebt in Zahlen

In den ersten Jahren verlief das Wachstum von Alpha spontan und tatsächlich exponentiell. Natürlich hält eine solche Entwicklung nie unbegrenzt, und so begannen die Kurven flacher zu werden. Nun könnte man sich damit begnügen, die guten Erfahrungen der Gemeindebasis weiterhin für sich selbst sprechen zu lassen. Dann hätte sich ein verzweigtes, aber vielleicht auch etwas unübersichtliches Netzwerk entwickelt. In den letzten Jahren wurde allerdings die Tendenz immer deutlicher, aus Alpha eine Art Franchise-System zu machen: Man lizensiert ein Erfolgskonzept an einen regionalen oder nationalen Vertriebspartner, der vor Ort zwar selbständig agiert, aber mit sehr klaren Vorgaben und Erwartungen.

Der überraschende Anfangserfolg wie die beschriebene Entscheidung zur Vertriebsstruktur bedingen eine gewisse Zahlenverliebtheit, die bis heute ein hervorstechendes Merkmal der Öffentlichkeitsarbeit von Alpha ist, wie das Video oben zeigt. Wenn aber das Selbstbild mit der ansteigenden Kurve gekoppelt ist, kann das zur Falle werden. Zum einen wecken diese Kurven unrealistische Erfolgserwartungen bei Leuten, die Kurse anbieten wollen. Zum anderen wirken sinkende Zahlen nach innen verunsichernd, weil sie vom System her nicht vorgesehen sind, das sich auf die Geschichten von Wachstum und Erfolg spezialisiert hat, die sich in Zahlen darstellen lassen. Als wir die Statistik für Deutschland vor ein paar Jahren kräftig nach unten korrigierten – nicht aufgrund eines echten Rückgangs, sondern weil Kurse, deren Daten in den letzten 12 Monaten nicht aktualisiert wurden, jetzt automatisch nicht mehr erschienen – hat das reichlich Unruhe ausgelöst auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Es ist gewiss auch gesunder Pragmatismus, wenn man versucht, immer auf das Positive zu sehen, die Erfolge zu feiern, sich mit Problemen und Niederlagen nicht lange und schon gar nicht allzu öffentlich aufzuhalten. Statt lange über die Gründe des Scheiterns zu philosophieren, steht man lieber auf, blickt nach vorn, beschreitet andere Wege oder findet neue Partner. Geht man diesen Schritt aber zu schnell, dann verpasst man die Gelegenheit, über tiefere Fragen nachzudenken als die Arithmetik der Kennzahlen – und dabei etwas über sich selbst zu lernen, das einen schließlich auch verändern kann. Erfolge zu feiern und über Niederlagen zu trauern ist kein Widerspruch, sondern nur ein gesundes Gleichgewicht. Mit der sprichwörtlichen britischen stiff upper lip funktioniert das für mein Empfinden eher schlecht.

Der britische Theologe John Drane hat schon 2008 recht scharf formuliert:

Alpha is highly rationalized, and though to some people the label of ‚McDonaldization‘ is a bad thing, ab by-word for oppressive structures, narrow-mindedness and personal exploitation, Nicky Gumbel repeatedly cites the business model associated with this label as a way of justifying the imposition of a rigid form of control that insists that Alpha must conform to a particular scheme wherever it is delivered, regardless of the local cultural context. … In spite of the fact that discussion and questioning appears to be encouraged, the reality is that Nicky Gumbel always ha the right answer. Alpha tries to address this criticism though its informal style, the emphasis on meals, time spent in groups, and going away for weekends. … To use a communal model effectively, we need to trust the process, and Alpha (at least in its official formulations) fails to to this because all the outcomes need to be tidy.

Ich weiß nicht, ob etwa Graham Tomlin auf Dranes Bedenken irgendwo geantwortet hat. An anderer Stelle (vgl. z.B. den Godpod des St. Paul’s Theological Centre, wo auch Jane Williams – die Frau von Rowan Williams – mitwirkt) wird ja durchaus offen und mit weitem Horizont diskutiert. Vielleicht wirkt sich das irgendwann auch einmal auf andere Bereiche des HTB-Kosmos aus.

Mir geht es mit diesem Zitat nur darum zu zeigen, dass eben immer wieder dieselben Punkte hinterfragt werden. Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass solche Kritik organisationsintern auf den internationalen Alpha-Treffen, an denen ich teilgenommen habe, nirgendwo diskutiert wurde. Man breitet einfach den Mantel des Schweigens darüber – vielleicht auch nur aus Hilflosigkeit. Aber manchmal ist keine Antwort für das Gegenüber eben auch eine Antwort. Im Alpha-Kurs, das habe ich gleich zu Beginn gelernt und seither auch immer beherzigt, sind alle Fragen erlaubt. Meine Hoffnung ist, dass die Organisation, die daraus entstanden ist, das auch eines Tages noch lernt.

Mehr als das Hochglanz-Marketing, schreibt John Drane am Ende des oben zitierten Artikels, ist vielleicht ja die ehrliche Verletzlichkeit derer, die im Alpha-Kurs mitarbeiten, das Geheimnis seines offensichtlichen Erfolges.

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