Weiter wursteln? Das Wulff-Dilemma

Vor ein paar Tagen erst hat mich eine Leserin gelobt dafür, dass ich mich aus der Tagespolitik heraushalte, jetzt kann ich es mir doch nicht ganz verkneifen. Nicht weil ich ganz neue Aspekte sehe, sondern weil ich merke, dass sich das leidige Präsidenten-Thema einfach nicht ignorieren lässt. Gestern habe ich es mit einer 80-jährigen Dame diskutiert. Wir fanden beide: Es taugt nicht zur Empörung, aber eben auch nicht zur achselzuckenden Resignation. Vielleicht ist ehrliche Trauer die beste Lösung.

Diese Woche ist Vaclav Havel gestorben – ein Präsident, wie er im Buche steht: Literat, Bürgerrechtler, unbeugsam, moralische Autorität, großer Europäer.

Kleiner (?) Sprung: Ganz Deutschland diskutiert in diesen Tagen über Christian Wulff. Vielleicht auch, weil wenig andere Dinge die Gemüter erhitzen. Zwischen den Zeilen der Statements von Freund und Feind wird schon deutlich, dass er sich im juristischen Sinne nichts hat zu Schulden kommen lassen. Irgendwie wäre es für uns doch alle peinlich, wenn ein Präsident über einen popeligen, lange verschämt verschwiegenen Privatkredit stolpern würde. Man kann seinen Rücktritt gar nicht mit inbrünstiger Entrüstung fordern, ohne als selbstgerechter und kleinkarierter Moralapostel dazustehen, oder? Wenn er wenigstens betrunken Auto gefahren wäre, aber das kann man sich bei ihm irgendwie gar nicht vorstellen.

Dennoch – das fade Gefühl geht deswegen nicht weg, und daher endet auch die ratlose Diskussion nicht. Das hat damit zu tun, dass Wulff von Angela Merkel gegen den deutlich populäreren Joachim Gauck zwecks Machtdemonstration an die eigene verunsicherte Partei ins Amt gehievt wurde. Der Eindruck, dass er sich vielleicht doch weniger erarbeitet als von Gönnern zugeschoben bekommen hat, ist also gar nicht erst jetzt entstanden.

Na gut, sagten damals viele, er ist vielleicht etwas blass, aber wenigstens integer. Vorsichtig gesagt herrscht nun der etwas ungünstige Eindruck, dass es eine eher passive als entschlossene und mutige Ehrlichkeit ist. Insofern ist die Vermutung, dass Wulff es aus Naivität oder Ahnungslosigkeit versäumt haben könnte, die Sache klarzustellen, für die öffentliche Wahrnehmung seiner Amtsführung fast noch schädlicher, als ihm energischen Vorsatz zu unterstellen.

Das Ganze ist aus einem dritten Grund tragisch: Wir bekommen es regelmäßig gesagt, dass in den letzten Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufgegangen ist. Für viele ist schon ein bescheidener Urlaub nicht drin, an ein Eigenheim nicht zu denken. Jeder gönnt dem Bundespräsidenten sein Dach über dem Kopf und seine Erholung. Auch seine Freunde gönnen wir ihm. Aber wie ernst wird sein Appell für eine Umkehr dieser schleichenden Umverteilung von unten nach oben sein können – wenn er denn käme?

Das letzte ist die persönliche Tragik: Wulff muss sich vom Spiegel sagen lassen: „Es ist tragisch, dass Deutschland in dieser schwierigen Zeit keinen unbefangenen Bundespräsidenten hat, der seine Stimme mit Autorität erheben kann.“ Mit eben diesen Worten griff Wulff einst Johannes Rau wegen bankenfinanzierter Privatflüge in dessen Zeit als Ministerpräsident von NRW an. An dieser Marke wird er nun gemessen.

Rau blieb im Amt. Wird Wulff bleiben? Bestimmt, vermutlich aus demselben Grund, aus dem er kam: Weilte Kanzlerin es wollte. Nach zahlreichen Personalpannen und mit einem Koalitionspartner im Todeskampf kann sie das Scheitern ihres Kandidaten überhaupt nicht brauchen und weiß, dass die Kritiker, die sich derzeit auf Wulff konzentrieren, dann wieder auf sie einschießen würde. Nennenswerten Widerstand aus dem Bundespräsidialamt musste sie bisher nie fürchten, das wird sich auch nicht ändern. Warum sollte sie also etwas ändern?

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