Mehr als Namen und Daten

Im Moment befasse ich mich gelegentlich mit dem Thema Kirchengeschichte und stelle dabei fest: Viele haben eine Abneigung gegen jede Art von Geschichte, weil man da so viele Ereignisse lernen und wissen muss und so viele Jahreszahlen dabei sind. In den exegetischen Fächern lernt man Sprachen und Methoden und kann damit dann selbständig arbeiten an einem doch recht überschaubaren Textmaterial. Systematiker klären, wie wir heute stimmig von Gott reden können, dabei die Verbindung zu den Schriften halten und von den Vätern und Müttern lernen. Und praktische Theologie ist fein, weil man sie sofort anwenden kann. Wozu aber tut man sich den unübersichtlichen Wust von 2000 Jahren Kirchengeschichte an? Welchen Sinn hat es, den Erfolgen und Niederlagen, den Fortschritten, Irrwegen und Sackgassen früherer Generationen nachzuspüren?

Sting sang in den Achtzigern in „History will Teach us Nothing“ davon, dass man sich von der Geschichte befreien muss, weil sie eine Geschichte der Unterdrückung ist und Menschen gefangen hält:

If we seek solace in the prisons of the distant past

Security in human systems we’re told will always always last

Emotions are the sail and blind faith is the mast

Without a breath of real freedom we’re getting nowhere fast

Die Lehrbücher, die ich hier im Regal stehen habe, geben auf solche Fragen seltsamerweise keine Antwort. Wenn man mit Leuten über ihr (Des)Interesse an Kirchengeschichte spricht, stellt man fest:

  • Da gibt es einerseits den erbaulichen Ansatz. Wir identifizieren die Helden (je nach Gusto eher erwecklich-fromm, intellektuell souverän oder sozialrevolutionär) und erzählen anekdotenhaft von ihren großen Taten, um ihnen dann nach Möglichkeit nachzueifern. Meistens reduzieren wir die Kirchengeschichte dann auf Frömmigkeits- und/oder Missionsgeschichte oder betreiben sie als Hagiographie.
  • Dann gibt es den dogmatischen Ansatz: Wir suchen nach denen, die das, was wir heute glauben, auch schon gesagt und getan haben. Die bekommen gute Noten und werden zu Gewährsleuten der reinen Lehre und/oder rechten Praxis, die anderen bekommen schlechte.
  • Wir suchen die „große Linie“. Zum Beispiel die Verfallsidee: Am Anfang war alles perfekt, im Lauf der Jahrhunderte ging es mit den Christen bergab. Oder den Triumphalismus, dann steigt die Linie an, statt abzufallen – alles wird besser. Oder die Kombination aus beidem: Es ging lange bergab, aber nun steht der triumphale Schluss bevor. Leider muss man für die meisten Theorien, die mit Kurven und Linien operieren, die Fakten kräftig hinbiegen. Lässt sich aber machen. Der Punkt bei dieser Betrachtungsweise ist, dass wir eine Tendenz ermitteln wollen, die sich in die Zukunft verlängern lässt – eine Art historische Kaffeesatzleserei also.

In allen drei Fällen hat das etwas einseitig Zweckhaftes, das zur selektiven Wahrnehmung verleitet:

  • Wir wollen keine Fragen gestellt, sondern Antworten geliefert bekommen. Ob für unser persönliches Glaubensleben oder für aktuelle kirchliche Entscheidungen.
  • Wir wollen eine klare Ordnung und so bestätigt bekommen, dass wir im Recht sind. Vielleicht muss man die Kirchengeschichte wie die Schrift aber auch „gegen sich selbst“ lesen lernen?
  • Wir wollen Gott auf die Schliche kommen, etwa indem wir genau benennen können, wo er in der Geschichte am Werk war und wo nicht, möglichst in Reinkultur und ohne lästige menschliche Zusätze. Leider sind die Kriterien dafür, wo Gott am Werk ist und wo nicht, schon immer umstritten gewesen.

Der Dichter Steve Turner hat die Gegenposition zu Sting einmal so formuliert:

History repeats itself.

Has to.

No one listens.

Die Geschichte hätte uns also etwas zu sagen. Aber was – und wie? Kirchengeschichte ist ja keine Geschichtstheologie, die der Geschichte des Christentums Offenbarungsqualitäten zuschreibt und den roten Faden oder die Essenz göttlichen Wirkens aus dem ambivalenten menschlichen Geschehen herausdestillieren könnte. Die Beschäftigung mit ihr wird in dem Moment potenziell sinnvoll, wo wir

  • offen und bereit sind, Fremdes und Komplexes erst einmal möglichst urteilsfrei zu verstehen – also tatsächlich zuzuhören.
  • fähig sind, mit Ambivalenzen – eigenen und fremden – umzugehen, statt immer gleich „Eindeutigkeiten“ zu suchen.
  • uns selbst und unsere Überzeugungen in Frage stellen und relativieren lassen durch die „geschichtliche Ökumene“, der wir begegnen.

Unsere Kirchen und Gemeinden – auch die vergleichsweise „neuen“, die oft gar nicht so neu sind, wie sie glauben – sind sämtlich historisch gewachsene Gebilde. Um sie zu verstehen, müssen wir uns mit ihrer Geschichte befassen. Um sie leiten und verändern zu können, auch. Was eigene Leistungen und Erkenntnisse angeht, kann der Blick in die Geschichte einen zumindest sehr bescheiden werden lassen, manchmal auch dankbar. Insofern lohnt sich das geduldige Zuhören am Ende vielleicht doch.

Wer tiefer bohren möchte, kann hier bei Friedrich Wilhelm Marquardt (†2002) weiterlesen – ich habe es eben entdeckt.

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