Wahrheit und Mythos

Selbst in den christlichen Medien erschienen in den letzten Jahren Beiträge mit Titeln wie „Tiefgang und Testosteron“. Mit einigen der Implikationen habe ich mich hier schon einmal beschäftigt, die Biologie aber links liegen lassen. Das können wir jetzt nachholen, aus gegebenem Anlass, denn mit angeblich biologischen Argumenten wird so manches pseudowissenschaftlich verklärt:

Dem männlichen Hormon werden alle möglichen Dinge zugeschrieben. Bestimmte Verhaltensweisen werden damit je nach Blickpunkt als „normal“ oder katastrophal, aber leider unausweichlich beschrieben. In der Regel geht es um „Potenz“ und Aggression, die mal als gesund, mal als problematisch eingeschätzt werden.

Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass eine Kastration bei Tieren (!) zu erkennbaren Veränderungen des Verhaltens führte. Mehr Testosteron, so der Umkehrschluss, lässt Männern nicht nur die Haare oben ausfallen und weiter unten an Kopf und Körper sprießen und fördert das Muskelwachstum, sondern es macht den Menschen auch kämpferischer oder egozentrischer. Nun haben Forscher ermittelt, dass das so gar nicht stimmt, berichtet die SZ. In einer Studie erhielten ein Teil der Probanden Testosteron, der Rest ein Scheinpräparat. Dann wurde ihr Verhalten während eines Planspiels beobachtet. Die Personen, die echtes Testosteron bekommen hatten, verhielten sich dabei im Schnitt sogar kooperativer und fairer. In den Artikel hießt es weiter:

Der Volksglaube scheint erstaunlich zu wirken, denn Probanden, die glaubten, Testosteron zu erhalten, verhielten sich durchweg unfairer – egal ob sie Hormone bekamen oder nicht. „Es scheint, dass nicht das Testosteron selbst zu Aggressivität verleitet, sondern der Mythos rund um das Hormon. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Eigenschaften und Verhaltensweisen auf biologische Ursachen zurückgeführt und teils damit legitimiert werden, muss dies hellhörig machen“, sagt der britische Ökonom Michael Naef.

Hellhörig sollten wir tatsächlich werden, denn das sind doch gute Nachrichten für alle Männer und Frauen zugleich. Die Machos, selbsternannten Alphamännchen und Rabauken kann man zur Verantwortung ziehen für gemeinschaftsschädigendes Verhalten. Und Männer dürfen und sollten sich dagegen wehren, zum hirnlosen Spielball ihrer Hormone herabgewürdigt zu werden. Natürlich bleiben einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber das größere Problem scheinen die Mythen zu sein, die in den Köpfen stecken.

In der FAZ wartete Nils Minkmar gestern mit dieser treffenden Beobachtung auf:

Andrea Nahles wünschte sich auf dem SPD-Parteitag in Dresden einen neuen Stil in der Führung und sagte: „Basta und Testosteron hatten wir in den letzten Jahren genug!“ Und diesen sexistischen Quatsch zitieren alle zustimmend, obwohl der neue Vorsitzende, mit dem Nahles zusammenzuarbeiten hat, einen höheren Testosterongehalt im Blut haben dürfte als der dort verabschiedete, einfach weil er jünger ist. Doch außer dieser sachlichen Unrichtigkeit ist die symbolische Operation der Reduktion von individuellem, interesse- und ideologiegeleitetem Verhalten auf die Wirkung eines Hormons zwar typisch und geläufig, aber eigentlich ein echter Hammer. Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Eine siebzigjährige Frau wird verabschiedet, ein junger Mann möchte ihr ein kritisches Wort nachrufen und donnert ins Mikro, nun sei auch mal gut mit all dem Östrogen, dem Klatsch und den bösen Intrigen. Denn Aussagen über Frauen und ihr angebliches Wesen können dank der Arbeit des Feminismus einer starken und schlüssigen Kritik unterzogen werden, indes kann man über Männer und ihren Körper, seine evolutionsbiologische Determinierung eigentlich alles behaupten.

Er zerlegt dann noch einige andere beliebte Argumentations- und Denkmuster, die eigentlich als männerfeindlich gelten müssten, wenn wir nicht so daran gewöhnt wären, sie hinzunehmen. Und es manchmal auch ganz gern tun, wie er am Ende bissig andeutet:

Unterdessen aber ist auf jedem Schulhof und in jeder Mütterrunde die Rede von den typischen Jungsmarotten zu vernehmen, ebenso wie das natürliche Wesen des Mannes in jede Talksendung und jeden Artikel einfließt. Diese Widerspruchslosigkeit ist schon erstaunlich, obwohl sie leider auch unabweisbare Vorteile hat. Viele Männer finden das eigentlich recht bequem: Wenn es anstrengend wird im modernen Leben, kann man immer noch so tun, als drückte das Erbe des Urmenschen so schwer aufs Hirn, als befehle das viele Testosteron derart streng, heute gerade mal wieder, dass man sich kurzfristig in Mario Barth verwandelt habe, dann sinken die Anforderungen schlagartig.

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Postliberale Theologie (2): Der sprachlich-kulturelle Ansatz

Lindbeck kehrt das Verhältnis von Innen und Außen, Individuellem und Sozialem, Form und Substanz gegenüber dem expressivistischen Ansatz der liberalen Theologie um: Religion ist nicht der äußere Ausdruck einer zunächst und wesentlich innerlichen Erfahrung, das ist eine idealistische Vorstellung. Sie wird besser beschrieben als ein sprachliches und kulturelles Grundgerüst, das Leben und Denken formt und damit auch bestimmte Erfahrungen erst ermöglicht.

„Sie ist in erster Linie nicht ein Feld von Glaubenssätzen über das Wahre und Gute (obwohl es diese einschließen kann) oder ein symbolischer Ausdruck grundsätzlicher Haltungen, Gefühle und Empfindungen (obwohl diese hervorgerufen werden können). Vielmehr: sie gleicht einem Idiom, das die Beschreibung von Realität, die Formulierung von Glaubenssätzen und das Ausdrücken innerer Haltungen, Gefühle und Empfindungen ermöglicht. Gleich einer Kultur oder Sprache, ist sie ein gemeinschaftliches Phänomen, das viel eher die jeweilige Subjektivität einzelner prägt, als dass sie in erster Linie eine Manifestation dieser Subjektivität wäre. Dieses Grundgerüst besteht aus einem Vokabular diskursiver und nichtdiskursiver Symbole in Verbindung mit einer bestimmten Logik und Grammatik.“ (S. 56f.)

Es besteht also eine Verbindung kognitiver und verhaltensmäßiger Dimensionen, von Lehrsätzen und Riten bis hin zu bestimmten Formen von Gemeinschaftsbildung. Denn erst das passende Symbolsystem ermöglicht bestimmte Gedanken und Verknüpfungen. Christliche und buddhistische Mystiker mögen manchmal ähnliche Beschreibungen verwenden, aber der Kontext ihrer Erfahrungen ist verschieden, die Erfahrungen selbst damit auch, bis auf das, was an Grundstimmungen oder -empfindungen eben ganz allgemein menschlich ist. Die prägende Wirkung einer Religion kann so, sagt Lindbeck auch bei Menschen anhalten, die ihr gar nicht mehr explizit angehören – eine Beobachtung, die für den westlichen (jüdisch-christlichen) wie auch den islamischen Kontext belegt ist.

Lindbeck greift damit unter anderem Wittgensteins Sprachspiel-Theorie auf und kommt zu interessanten Anwendungen. Dazu dann mehr im nächsten Post.

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